Gedanken in der Pandemie 56: Widerstand als Wert

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Frankreich wurde von der Pandemie wesentlich härter getroffen. Hatten die Deutschen vielleicht einfach nur Glück? | Screenshot

Typen der Antwort auf das Virus: Italien, Deutschland und Frankreich: Apokalyptiker & Integrierte –  Gedanken in der Pandemie 56.

 

„Erziehung“ – schon das Wort, das in deutschen Ohren so ganz anders klingt als „education“ auf Englisch oder das französische „éducation“, ist seit den Zeiten Rousseaus etwas in Verruf geraten, und gefällt heute vor allem den autoritären Charakteren aller politischen Lager. Ich finde allerdings auch, dass Erziehung sehr wichtig ist. Kinder müssen lernen, ab und zu mal die Zähne zu putzen; Indien-Besucher, dass man nicht mit der linken Hand in den Reis hineinfasst; und erwachsene Deutsche müssen dazu erzogen werden, die Freiheit der anderen zu achten. Ab und zu komme ich auch während meiner Tätigkeit als Filmkritiker auf den Gedanken, dass ein sommerliches Um-Erziehungscamp für deutsche Filmemacher nicht die schlechteste Idee wäre. Da müssten sie dann den ganzen Tag Filme aus der Filmgeschichte gucken und zwar im Original mit Untertiteln. Und am Morgen wäre zur Erfrischung eine halbe Stunde Selbstkritik angesagt. 

Bei anderen Erziehungsfragen wird es komplizierter.

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Das Editorial der französischen Kulturzeitschrift „Esprit“ unterscheidet vier Phasen der Pandemie bisher: Zunächst eine Betäubung und Schockstarre, gefolgt von vielen Selbst-Befragungen, die sehr schnell in die dritte Phase der Inflation von Kommentaren mündeten. Hier fanden sehr viele während der Krise eine Form von Selbstbestätigung und Selbstsicherheit, in dem sie über den eigenen Zustand nachdachten. Die vierte Phase ist das Jetzt: Das öffentliche Leben kommt langsam wieder auf Kurs und beginnt, Fahrt aufzunehmen; die Menschen bewegen sich wieder stärker in analogen Lebensverhältnissen mit Schmutz, mit Objekten, die im Weg stehen, mit Menschen, an denen sie sich stoßen. Manche reagieren darauf hysterisch – die Geschmeidigkeit, die Emotion, das Driften des Netzes und das Leben ganz und gar in den Bildschirmen hat nachgelassen.

Die Menschen fragen sich, was sich eigentlich geändert hat und welche Politik aus der Gegenwart ist.

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Analog dazu könnten man Typen der Desillusionierung und Reaktion unterscheiden: Für die Nationalisten hat die Krise die Illusion beseitigt, dass man die Grenzen schließen kann und dass Grenzschließungen alle Probleme lösen würden, dass es mit geschlossenen Grenzen keine Migration mehr geben würde – ganz im Gegenteil: Fremdarbeiter werden eingeschleust, um so etwas wie nationale Ernährungssouveränität (Spargel!) aufrechtzuerhalten. Die Nationalisten und die Fetischisten nationaler Souveränität schließen aus der Krise, dass man mehr oder weniger alle Produkte relokalisieren muss und dass es eine strategische Existenzfrage sei, ob sich alles und jedes im eigenen Land herstellen lässt, nicht nur Masken, nicht nur Medikamente. Und sie erfahren ihr Scheitern.

Die Populisten denunzieren die Arroganz der Experten und der Intellektuellen, die angeblich das Volk vergessen haben. Sie machen eine Tugend daraus, ignorant zu sein und dumme Fragen zu stellen. 

Den Multilateralisten wird vor Augen geführt, dass internationale Kooperation in manche Hinsicht eine Illusion ist, dass sie im Krisenfall nur sehr beschränkt funktioniert, dass die Blütenträume der Gesellschaft als offener Weltgesellschaft der Grenzenlosigkeit schwinden. 

Die Freunde der Ökologie beharren darauf, dass die Krise eigentlich nichts mit Viren zu tun hat, sondern natürlich „menschengemacht“ ist und zwar nicht in chinesischen, deutschen oder amerikanischen Laboren, sondern in der Konsequenz der bösen Industrie liegt. 

Zugleich müssen auch diese Ökologisten damit leben, dass man sich gerade wenig für ihre Lieblingsthemen interessiert. 

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Vor 80 Jahren und sechs Wochen, am 10. Mai 1940, begann der „Westfeldzug“, mit dem das von Adolf Hitler geführte Nazi-Deutschland die französische Republik überfiel. Gestern vor 80 Jahren, am 18. Juni 1940, war dieser sogenannte „Blitzkrieg“ entschieden. Damit hatte niemand, noch nicht mal die Nazis, gerechnet. Frankreich war geschlagen und hatte bereits Waffenstillstandsverhandlungen aufgenommen, die Deutschen waren in Paris, die Reste der französischen Armee bauten an der Loire eine weitere letzte Verteidigungslinie auf, und während die eine Hälfte der Gesellschaft sich auf die Kollaboration von Gnaden Hitlers einstellte, begann die andere Hälfte, mit Vorbereitungen des Widerstands gegen diese. Führer des Widerstands wurde bekanntlich General de Gaulle. Am 18 Juni 1940 hielt de Gaulle seinen berühmten Appell, eine erste Rede von London aus über das Radio, an die Franzosen: „Ich, General de Gaulle, gegenwärtig in London, lade alle französischen Offiziere und Soldaten ein, mit mir Kontakt aufzunehmen.“

Wenige haben damals ja den Aufruf von General de Gaulle am 18. Juni tatsächlich gehört, aber das machte nichts. Es sprach sich herum. Intellektuelle, aber auch ganz einfache Fischer haben zwischen dem 18. und dem 22., 23. Juni 1940 sofort entschieden, in die Boote zu steigen, um nach London zu gehen. 

Fortan schickte er regelmäßig Botschaften an die Résistance in Frankreich, das Radio hat bei der weiteren Kommunikation mit dem Widerstand und als Information der Franzosen im besetzten Frankreich eine bedeutende Rolle gespielt.

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Aus Anlass des Jubiläums lobte Emmanuel Macron diese Rede gestern gleich doppelt. Einmal in Paris und einmal in London wohin er am Mittag flog.

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Auch Frankreich wurde von dem Corona-Virus getroffen, aber ganz anders als Deutschland. Die Debatten hier kreisen, das ergibt ein erster Überblick, zum einen über das Gesundheitssystem: Lange Zeit gelobt ist eines der besten der Welt, weckten die Ereignisse der letzten Monate massive Zweifel. Im Vergleich mit Deutschland schneidet Frankreich in der Bewältigung von Corinna wesentlich schlechter ab. Aber woran liegt das genau? Dass die französischen Krankenhäuser die Zahl der Erkrankten teilweise nicht mehr bewältigen konnte, bedeutet noch lange nicht, dass es den deutschen Krankenhäusern automatisch besser ergangen wäre, wären sie jemals in eine ähnliche Lage gekommen. Und kamen sie in Deutschland nicht in diese Lage, weil das deutsche Gesundheitssystem so viel besser ist? Oder weil vielleicht die Ausgangsbeschränkungen früher griffen? Oder vielleicht auch nur deswegen, weil die Deutschen einfach verdammt viel Glück hatten? Wir neigen dazu, uns in allen Bereichen als Klassenprimus aufzuspielen, zu glauben wir seien per se die Weltmeister in allem Möglichen; so auch Weltmeister in Corona-Bewältigung. Das muss nicht stimmen.

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„Corona ist ein Nach-Folgeschaden der Finanzkrise“ sagt der österreichische Philosoph Robert Pfaller, und fordert ein Verbrechertribunal: „In Italien gibt es nur ein Fünftel der Intensivbetten von Deutschland, bei ungefähr gleicher Bevölkerungszahl. Das ist die Folge eines direkten Eingriffs der Europäischen Zentralbank während der Finanzkrise, die die italienische Regierung ausdrücklich gezwungen hat, im Gesundheitssektor zu sparen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass von der Europäischen Union ein Verbrecher-Tribunal eingerichtet gehört, analog zum Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Hier haben Menschen andere Menschen konkret zu Tode gebracht durch erzwungene medizinische Unterversorgung. Da gehören wirklich die Verantwortlichen kriminalpolizeilich ermittelt und vor Gericht gestellt.“ 

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Ziemlich genau drei Jahren wurde Macron gewählt. „Emmanuel Macron, 3 Jahre später“, zieht Philippe Raynaud im „Commentaire“, der vom Sartre-Gefährten Raymond Aron begründeten Zeitschrift des rechtsliberalen Frankreichs, eine Zwischenbilanz. Dafür, wie negativ das Image des Präsidenten in der deutschen Berichterstattung ziemlich oft erscheint – oder ist es nur die, die ich lese? – fällt diese erstaunlich positiv aus.

„Keiner weiß, wie der politische Weg nach der Krise sein wird, aber man kann bereits den Anstieg eines Bedürfnisses nach Schutz bemerken, der diverse politische Projekte einer Wiederbegründung des Radikalen stützt. In diesem verwirrten und unsicheren Kontext muss der Präsident die Verhältnisse beruhigen und Frankreich einen Sinn für sein Projekt der Transformation zurückgeben, ohne dass er den Eindruck macht, nur seine spontanen, ersten Einfälle zu wiederholen. […] Das „dyarchische“ System der Fünften Republik übergibt die Tagesfragen dem Premierminister und lässt dem Präsidenten die Aufgabe, darauf zu achten, dass die Gesamtentwicklung des Landes auf Kurs bleibt. Diese Arbeitsteilung ist nicht ohne Gefahren für Macron, dessen lyrischer Stil – oder epischer? – weniger selbstsicher erscheinen kann, als der ruhige Pragmatismus von Edouard Philippe [dem Premierminister].

Macron besitzt mehr als die meisten seiner Gegner den Geschmack der Freiheit und die Sorge um die Wahrheit und seine größte Gefahr ist das exzessive Vertrauen in die Fähigkeiten des rationalen Staats. Dies ist aufs Intimste verankert in der Kultur der Nation.

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Der Lesetip zum Wochenende gilt wieder mal einer der angenehmsten Folgen der Pandemie: Der schönen Literatur. Vor über 40 Jahren schrieb der polnische Dissident Andrzej Szypiorski einen Roman, der kurzzeitig ein Bestseller wurde und heute weitgehend vergessen ist: „Eine Messe für die Stadt Arras“. Dieser Roman spielt in Frankreich und erzählt ähnlich wie das berühmte Buch von Camus von einem frühneuzeitlichen Pestausbruch. Mehr als Camus‘ Roman ist dies eine konkrete Analogie auf das Polen unter sowjetischer Vorherrschaft. Während man in der „Pest“ von Camus eine Metapher auf den Faschismus und Ideologien im Allgemeinen, aber auch die deutsche Besatzung Frankreichs im besonderen erkennen kann.

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