Gedanken in der Pandemie 44: Einmal Corona und zurück

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Der heimliche CDU-Vorsitzende, der Stilpapst, und die Autorin mit dem siebten Sinn: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 44. 

„Derjenige aber wird weniger irren und das Glück für sich haben, der in seiner Handlungsweise mit der Zeit übereinstimmt, und jederzeit gemäß dem verfährt, wozu die Natur der Dinge ihn zwingt.“
Niccolò Machiavelli

„Wenn Europa überhaupt noch eine Chance haben will, muss es sich jetzt als solidarisch und handlungsfähig bewähren.“ 
Wolfgang Schäuble, Bundestagspräsident

 

Es sind hochspannende Zeiten, in denen wir leben. Dieser Blog aber sei zuletzt „ein bisschen langweilig geworden“, meinte ein Freund. Dem können wir abhelfen.

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Zum Beispiel mit alten weißen Männern. Der erste von ihnen ist Wolfram Siebeck, einer aus dem Dutzend, die für mich persönlich ein echtes, großes Vorbild sind. Ein Mann der Superlative: Siebeck, geboren 1928 und leider 2016 gestorben, war der berühmteste Essens- und Gastrokritiker der Deutschen nach dem Krieg. Von ihm konnten man lernen, dass Essen nicht zum Sattmachen da ist, was Stil bedeutete, wie man gut schreibt und warum Frankreich am Ende das liebenswerteste Land der Welt ist. Seinen Werdegang als Autor hatte Siebeck als Filmkritiker begonnen – keine schlechte Voraussetzung. Dann kam er zu „Twen“, der vermutlich stilprägendsten (Design: Willy Fleckhaus), allemal aber lässigsten Zeitschrift der alten Bundesrepublik. Es spricht nicht gegen Siebeck, dass er 1969 auch noch Will McBride, dem amerikanischen Hausphotografen von „Twen“ die Frau ausspannte – mit Barbara McBride blieb er bis zu seinem Tod verheiratet. 

Bis zum Wochenende kann man jetzt beim Deutschlandfunk eine „Lange Nacht zu Wolfram Siebeck“ nachhören, in der besonders er selbst, aber naturgemäß auch die Ess-Kulturgeschichte der Deutschen vorkommt. Über Jahre hat Siebeck nämlich seine Eindrücke von Restaurants auf Tonkassetten gesprochen. Auf der Basis dieser Bänder entstanden dann Siebecks Texte. Für eine Radiosendung ein gefundenes, nun ja: Fressen.

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Der zweite alte weiße Mann ist Wolfgang Schäuble. Der Bundestagspräsident und CDU-Politiker ist während der ganzen letzten zwei Monate eine der verlässlich bemerkenswertesten Stimmen. Schäuble äußert sich nicht oft, aber wenn er es tut, dann immer mit Substanz und immer ein bisschen anders als der Rest der Welt. 

Unvergessen ist sein Interview im „Tagesspiegel“, in dem er seinerzeit sagte, es sei nicht richtig, dass alles andere uneingeschränkt vor dem Schutz von Leben zurückzutreten habe. 

Das ist damals viel kritisiert worden, es gab aber auch interessante unterstützende Stimmen. Eine von ihnen, die man damals überhört hat, möchte ich hier ausführlich zitieren: 

Es ist „unser Sozialpsychologe am Montag“ (RBB), der Soziologe Harald Welzer, der sowieso ebenfalls einer der Interessanten ist, die sich in diesen Tagen regelmäßig zu Wort melden. Weil er unberechenbar bleibt, und man nicht wie bei so vielen vorher schon weiß, was er sagen wird. Weil er sich nicht immer wiederholt, sondern ganz offensichtlich im Fluss denkt.

Zu Schäuble sagte Welzer seinerzeit: „Er hat natürlich recht in der Auslegung der Grundrechte. Ich finde es besonders wichtig dass er das jetzt sagt. Denn im Augenblick sind ja alle politischen Entscheidungen scheinbar ausschließlich abhängig von der Virologie. Und die Aussage von Schäuble bringt ein anderes Licht. Weil er nämlich sagt: Wir riskieren irreparable Schäden, wenn wir alles nur dem Gesundheitsschutz unterordnen. Schäden im Bildungssystem, in den privaten Existenzen, bei den Kindern, in der Wirtschaft und so weiter. Man muss ja sehen: Am Ende lässt sich auch so ein hervorragendes Gesundheitssystem, wie wir es haben, nicht mehr finanzieren. Das Geld muss ja irgendwo erwirtschaftet werden. Und man muss sehen, dass es schlicht und einfach keine Idee gibt, wie man mehr als ein paar Monate ein Staatswesen finanzieren soll, das keine intakte Wirtschaft als Grundlage hat. Deshalb finde ich dieses Interview so beeindruckend.“

Welzer ist auch der Meinung, dass nicht alles gerettet werden muss nach der Krise. „Wir müssen jetzt Konzepte für ein anderes Weitermachen entwickeln – in der Situation. Wir können nicht auf das Ende von Corona warten.“

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Nun hat Schäuble wieder ein Interview gegeben. Diesmal der „Welt am Sonntag“. 

Zum einen zeigt er sich da wohltuend angstfrei uns gelassen im Umgang mit den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen. „Die Demonstrationen zeigen, dass unsere Gesellschaft eine offene ist. Ich empfinde diese Demonstrationen eher als ein Zeichen dafür, dass unsere Demokratie lebhaft ist und funktioniert. Es ist gut, wenn sich der Wunsch artikuliert, etwa die Meinungsfreiheit zu erhalten. Dass sich in solche Demonstrationen mitunter auch Personen mit abstrusen Theorien begeben, lässt sich nicht verhindern. Niemand ist vor dem Beifall von der falschen Seite sicher. Allerdings rate ich jedem, der zu unserem Grundgesetz steht, zu Extremisten Abstand zu halten, um sich nicht auf die eine oder andere Art anzustecken.“

Schäuble wird ebenfalls sehr deutlich im Hinblick auf die Gefahr, die jetzt Europa droht: „Wir haben eine neue Situation. Europa erfährt einen wirtschaftlichen Einbruch, wie wir ihn zu unseren Lebzeiten nicht erlebt haben, und nur in Ansätzen ist abzusehen, welche Verwerfungen daraus für unsere Gesellschaften folgen werden. Zugleich verschieben sich die Strukturen unserer globalen Ordnung. Wenn Europa überhaupt noch eine Chance haben will, muss es sich jetzt als solidarisch und handlungsfähig bewähren.  […] deshalb vergemeinschaften wir jetzt auch nicht alte Schulden, sondern die EU-Kommission soll den wirtschaftlichen Wiederaufbau in Europa vorantreiben.“ 

Darum macht Schäuble (fast wie der heimliche CDU-Vorsitzende) auch das missglückte EZB-Urteil des Verfassungsgerichts zur Chefsache. Der Politiker gründete eine streng vertrauliche Gesprächsrunde, die zügig die komplizierten Auflagen aus Karlsruhe umsetzen soll. Denn das Urteil ist praktisch unerfüllbar, weil die EZB unabhängig ist. Die CDU wollte zunächst Bundesbankpräsident Jens Weidmann dazu einladen, der jedoch einen Justiziar bevorzugte. Am Ende verzichtete die CDU. Schäuble hat Kontakt zu Weidmann aufgenommen. 

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Der „Mercron-Plan“ ist in seiner Dimension zu wenig beachtet worden. Noch stößt er auf Widerstand. Der wird sich aber legen. Denn die historische Dimension scheint allen Beteiligten bewußt. Angela Merkel erklärte ohne Umschweife: „Der Nationalstaat alleine hat keine Zukunft.“

So könnte die Pandemie zum Glücksfall werden. Deren Verwerfungen könnten das Fundament eines Neuen Europa formen, eines Europa, das vom Staatenbund zum Bundesstaat wird. Das ist gemeint mit Olaf Scholz’ Satz vom „Hamilton-Moment“. 

Auch die oft renitenten, nationalistischen Staaten Osteuropas dürften in diesem Fall keine Schwierigkeiten machen. Denn vielen osteuropäischen Staaten brechen jetzt die Lieferketten weg, im selben Moment fallen Absatzmärkte aus. 

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Kurioses am Rande: In Bayern haben Lokale bis 22 Uhr geöffnet. Aber nur Innen. Außen haben sie nur bis 20 Uhr geöffnet. Dabei weiß jeder (und hier ist sich Christian Drosten mal mit der FDP einig), dass das Coronavirus in Innenräumen gefährlicher ist als außen.

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Zu Europa und dem Verfassungsgericht wird bestimmt bald auch etwas von der Schriftstellerin Juli Zeh zu hören sein. Sie ist eine der prominentesten Kritikerinnen der Regierung und schrieb bereits vor elf Jahren in ihrem Roman „Corpus Delicti“ von einer Gesundheitsdiktatur, die einigen unserer Krankenkassen-und-Virologen-gestützen Lockdown-„der-ja-keiner-war“-(Anne Will)-Maßnahmen ziemlich ähnlich sieht. 

Anfang April beschrieb Zeh in der „Süddeutschen“ „eine eskalierende Medienberichterstattung, die Öffentlichkeit und Politik vor sich hertreibt“. Vieles, was passiere, erscheine einem „unlogisch, überstürzt, undemokratisch […] Dagegen würde man gerne aufbegehren.“ Alles, was danach geschah, hat sie leider bestätigt. 

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Unabhängig davon, welche Mehrheit jetzt für und gegen die Corona-Maßnahmen ist, und ob die Umfragen stimmen oder nicht, und was dazu sonst statistisch zu sagen gibt, unabhängig von all dem aber scheint mir die Corona-Krise ein Lackmustest zu sein für das, was der Gesellschaft wichtig ist und was nicht. So ist eben allen die Wirtschaft wichtig und die Fußballbundesliga, die Gewerkschaften, die Kitas und die Schulen sind nicht so wichtig. 

Der Tourismus ist wieder wichtig, und Mallorca ist besonders wichtig, und natürlich ist es ein bisschen idiotisch, dass sich vergleichsweise viele Leute, oder besonders lautstarke, darüber aufregen, dass die Bundesliga wieder angefangen hat, die gleichen Leute, die gerade ihren Mallorca-Flug planen, dass sich aber vergleichsweise wenig Leute darüber aufregen, dass die Kita immer noch nicht angefangen hat. 

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Framing des Deutschlandfunks: Titel: „Trügerische Freiheit“. Die Sendung könnte auch heißen „Chancen der neuen Freiheit“ oder „Trügerische Gesundheit“ oder „Trügerischer Gesundheitsschutz“ – heißt sie aber nicht. Anlass war „Thüringens Wunsch nach einem Sonderweg.“ Im „Handelsblatt“ wurde das Thüringer Verhalten jetzt als „Vorpreschen“ bezeichnet. Okay. Wenn aber ein anderes Land mal langsamer lockert als der Rest, würde man nie über dieses sagen: Es „bleibt zurück“ oder gar es „hält alle anderen auf“. Die Wertungen sind also überaus einseitig verteilt wie Schulnoten von einer Klassenlehrerin. Es gibt eine gewisse Tendenz, und dass es viele solcher kleinen Tendenzen gibt, das ist es, glaube ich, was einige Leute aufregt. 

Die Sendung war trotzdem sehr gut. Ein Hörer schrieb, er finde es „eigentlich ganz gut, was Bodo Ramelow da macht. Die Behörden sollen endlich aufhören, Panik zu verbreiten und die Bürger zu entmündigen – das wäre das beste Mittel gegen Verschwörungstheorien.“

Der Arzt war weniger alarmistisch als die fragenstellende Moderatoren, und sagte, er finde die verschiedenen Wege der Länder und die Vielstimmigkeit gar nicht schlecht. „Wir haben experimentiert, als wir herunterfuhren, und wir experimentieren jetzt wieder mit den Öffnungen. Es ist ein ständiges Experimentieren.“

Die Ministerin aus Niedersachsen erläuterte einen fünf Stufen-Plan. Und sagte: „Regionalisieren hat Grenzen. Man muss auch überlegen, was man den Gesundheitsbehörden vor Ort überhaupt zumuten kann. Um die unbequemen und unpopulären Maßnahmen durchzusetzen, brauchen sie einen einheitlichen Rahmen und die Rückendeckung des jeweiligen Landes.“

Der Soziologe sagte: „Wenn man einfach mal rechnet und sich die RKI-Zahlen anschaut, gab es in den letzten 20 Tagen nie mehr als 500 Fälle. Wenn man dann also 80 Millionen durch 500 teilt, kommt man auf 1 zu 160.000. Das ist die Wahrscheinlichkeit, sich an einem gegebenen Tag anzustecken: 1 zu 160.000. Ein durchschnittliches Menschenleben hat aber nur 30.000 Tage. Das heißt sie müssen mehrere Menschenleben leben, um einmal Corona zu bekommen. 

Das heißt einerseits, für jedes Individuum gibt es überhaupt keine Gefahr mehr. Die Wahrscheinlichkeit, in einem Autounfall umzukommen, ist vergleichbar hoch, wie Corona zu bekommen.“

Aber, sagte der Soziologe dann auch noch: „Würden wir uns jetzt alle so verhalten, was ja für jeden einzelnen stimmt, dann wären möglicherweise die Fälle bald wieder höher. Das heißt, es gibt natürlich trotzdem einen Grund vorsichtig zu sein.“

Die Rechnung sieht sogar noch günstiger aus, denn tatsächlich ist durch die Tatsache, dass es Hotspots und Cluster gibt, die Ansteckungsgefahr außerhalb dieser Hotspot und besonders gefährdeter Orte wie Altersheimen noch weitaus geringer.

Der Soziologe sagte noch: „Das, worüber Medien berichten, ist immer das Außergewöhnliche, das Extreme.“

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Es menschelt bei der „Zeit“, noch mehr als sowieso schon. Zwei neue Seiten führt „Die Zeit“ ab dieser Ausgabe ein. Die eine heißt „Unterhaltung“, wohl bewußt doppelsinnig als Entertainment und als Gespräch gemeint, und angeblich gibt es dort „einen tiefen Einblick in die Persönlichkeit eines Prominenten  […] immer aus einer unerwarteten Perspektive“. Da sind wir natürlich wahnsinnig gespannt, zumal der allererste tiefe Einblick in die Persönlichkeit von Manuela Schwesig eindringen wird, der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern – aber das hätten wir jetzt gar nicht sagen müssen, weil sie ja prominent ist. Die Seite, so verspricht die sich offenbar gerade mal wieder auf jung schminkende alte Tante Zeit, „wird digitale Erweiterungen haben, beispielsweise auf Instagram“, um wirklich „alle Facetten der Gesprächspartner präsentieren zu können“, die für die Seite verantwortliche Redakteurin hat immerhin bei der „Bild“-Zeitung volontiert. Wow.

Die zweite Seite heißt „Die Menschen von …“ „und porträtiert besondere Gruppen in Unternehmen Organisationen, Kommunen. Dabei steht, so „Die Zeit“, „nicht eine Person im Vordergrund, sondern das Team, diejenigen, die die Arbeit machen.“ Hey, endlich mal! Auf diese Weise erhalten wir Leser endlich „Einblick in Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft“, die uns bisher entgingen, „und entdecken, dass hinter den meisten Phänomenen kein Chef und keine Gründerin steckt.“ „Das Spektrum reicht dabei von einem Start-up bis zur Polizeieinheit, von Erntehelfern bis zu Forschern.“

Diese Seite wird von der Wirtschaftsredaktion verantwortet.

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Die Menschen in Deutschland sind grundsätzlich zufrieden. Das ergibt eine Umfrage des Sozio-Ökonomischen Panel, einer seit 36 Jahren laufenden Langzeitstudie zum kollektiven Bewusstsein der Deutschen. Besonders bemerkenswert ist an den neuesten, auf Befragungen im April basierenden Ergebnissen, dass sich die Menschen mehr Sorgen um die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Lage der Gesellschaft machen als um ihre eigene und sich selbst.

Das spricht dafür, dass es den Menschen grundsätzlich gut geht und ihre Sorgen und Ängste vor allem medieninduziert sind.

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Auch die bundesweite Corona-Studie der Universität Mannheim ergibt in der neuesten Ausgabe: „Die Sorge der Bevölkerung vor Ansteckung stark gesunken und seit einem Monat auf stabilem niedrigen Niveau.“

Das ist nicht Leichtsinn, sondern Realismus. 

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