Gedanken in der Pandemie 41: Plädoyer für das Ungewisse

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Ein Filmtipp fürs Wochenende: Michelangelos Antonionis „L’Avventura“ von 1960 ist Italiens Antwort auf die Nouvelle Vogue. | Foto © Archiv

Luxusprobleme, Risiken, und andere Sensibilitäten: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 41.

„Ein Leben mit absoluter Sicherheit – ohne jedes Risiko – ist eine Fantasie  […], lebendig zu sein bedeutet Risiko.“
Anne Dufourmantelle

 

Erstmal etwas Wunderschönes: Mit diesem Film begann die Moderne im Kino. Solche Sätze sind immer falsch. Und doch … Wie wunderbar Michelangelos Antonionis „L’Avventura“ von 1960 ist, ahnt man bei diesem historische Trailer. Und auch wer kein Italienisch versteht, spürt Energie und Verve dieses Films und seiner Ära, und begreift ein paar Schlüsselsätze: Italiens Antwort auf die Nouvelle Vague! 

Es war auch eine Zeit, in der „pervers“ noch ein lobendes Adjektiv war, oder zumindest eines, das neugierig macht. 

Und sieht Monica Vitti nicht großartig aus! Sie spielt eine Frau, deren beste Freundin plötzlich verschwindet. Einfach so, ohne Grund. Wie in einem Lynch-Film. Und die dann fast etwas mit dem Geliebten ihrer Freundin anfängt. 

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Die Frauen sind die Verlierer der Corona-Krise – darüber sind sich jetzt alle einig. Ist das wirklich so? wäre die erste Frage. Die zweite interessantere, wenn wir es mal als gegeben ansehen, dass die erste mit ja beantwortet werden muss, lautet: warum? 

Der „Pay-Gap“ ist eine schlüssige Erklärung. Frauen werden oft schlechter bezahlt, auch für gleiche Arbeit, wenn also eine Doppelverdienerfamilie sich entscheiden muss, wer zurücksteckt, dann ist es der Mann. Er muss arbeiten, die Frau darf zuhause bleiben. Halt, Moment! Muss/darf? Nochmal: Der letzte Satz muss doch heißen: Er darf arbeiten, sie muss zuhause bleiben. Oder? 

Die Formel von den Verlierern stimmt nämlich nur, wenn Kinder da sind (das trifft schon mal auf über ein Viertel aller Frauen nicht zu), und nur dann, wenn das Nicht-arbeiten eine Niederlage ist, kein Gewinn. Da fährt sich der gegenwärtige Diskurs schon selbst in die Parade. Denn seit über 20 Jahren steht einmal im Monat in der „Zeit“ ein Artikel über die „neuen Väter“, darüber, wie toll es doch ist, mehr Zeit zuhause verbringen zu dürfen, ein inniges Verhältnis zum Nachwuchs aufbauen zu dürfen, Windeln wickeln zu dürfen, zu spielen, wieder selbst Kind sein zu können, und darüber, wie Männer weicher werden, sensibler und warum das auch im Beruf was bringt. Sie werden dann nämlich, fügt man gerne hinzu, auch „viel leistungsfähiger“ im Job. 

Und jetzt? War das alles gelogen? Eine geschickte Manipulation, ein bisschen Gehirnwäsche, damit er endlich mal zu Hause bleibt und sie endlich raus darf?

Nur dann stimmt die zu einfache Sentenz, die Frauen sind die Verlierer. 

Aber warum ist das Zuhause-bleiben, Nicht-arbeiten eine Niederlage? Oder soll man fragen: Für wen ist es das? Eine Niederlage ist es, weil wer zuhause bleibt, dann abhängig ist. Aber ist wer arbeitet, automatisch unabhängig, oder nicht in noch viel mehr und strengeren Abhängigkeiten gefangen? Von denen eine übrigens in den Erwartungen der Zuhausgebliebenen besteht. 

Auch sonst ist das eine reichlich oberflächliche Sicht der Dinge: Er sieht die weite Welt, sie sieht nur Kinder und Küche. 

Dabei gilt für die, wo „er“ wirklich unabhängig ist, also als „Freier“ oder Selbstständiger arbeitet, dass „sie“ sich oft genug entsprechende Haushaltshilfen leisten kann, und da, wo dafür das Geld nicht da ist, ist er in der Regel auch nicht sehr unabhängig.  

Wo die Frauen wirklich die Verlierer der Corona-Krise sind, ist das so gern gepriesene Home-Office. Wenn die Räume zu eng und die Kinder zu laut sind, wessen Zoom-Konferenz geht dann vor? Wer muss weichen? 

Aber auch das betrifft nur bestimmte Klassen unserer Neo-Klassengesellschaft. 

Nämlich die, die erstens Doppelverdiener sind, und die zweitens tatsächlich beide zum Home-Office verdonnert waren, oder je nach Sichtweise meinetwegen auch befreit. 

Zwei parallele Zoom-Konferenzen sind oft schon ein Luxusproblem. 

Mitunter sind es allerdings auch vier Zoom-Konferenzen. Wenn nämlich die lieben Kleinen auch noch gerade Schule haben. 

Gerade heute ist aber das Zuhause-bleiben grundsätzlich eher Luxus als Fron. 

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Aber zurück zur Ausgangsfrage: Wenn Frauen die Verlierer der Corona-Krise sind, warum sind sie das? Woran liegt es? 

Außer am Pay-Gap, der sowas wie den „objektiven“ Grund liefert, könnte man sagen: Die Männer sind schuld. Weil sie innerlich entleerte Workaholics sind, die ihr stumpfes Ich, wenn gerade partout nichts zu tun ist, in Alkoholexzessen ertränken – ich sage nur: Vatertag. Darum besser Arbeitssucht. Trotzdem ist auch das kein sehr schlüssiges Bild. Denn so einen stumpfen Knochen hätte doch keine sensible Frau je geheiratet. 

Könnte es (Gegenfrage) also nicht eher sein, dass die meisten Männer nicht so schlimm sind und dagegen auch die Frauen ein bisschen mitschuldig, wenn sie wirklich die Verlierer sind? Fordern sie, was sie wollen? Wissen sie, was sie wollen? Und wollen sie im  Zweifelsfall wirklich lieber arbeiten und im Fall vorhandener Kinder deren Erziehung dem Mann überlassen? Wer alle drei Fragen bejaht, müsste erklären, warum Frauen trotzdem verlieren. 

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„In der Krise erleben wir einen Rückfall auf eine Rollenteilung wie zu Zeiten unserer Großeltern“, schreibt Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, und nennt es eine „entsetzliche Retraditionalisierung“.

Allmendinger fordert: Was in der Wissenschaft geht, muss auch in der Wirtschaft möglich sein: „Keine Kommission mit weniger als 30 Prozent Frauen.“ Und weiter: Mehr Vätermonate in der Betreuung von Kindern. Mehr Anreize für Teilzeit bei Vätern. Weg mit dem Ehegattensplitting. Eine höhere Tarifierung für Tätigkeiten, die meist von Frauen ausgeübt werden.

Außerdem: „Gender Budgeting“, ein geschlechtergerechtes Haushalten. 

Man könnte das probieren. Aber ich gebe zu: Ich bin mir nicht so sicher, ob nicht der wahre Grund der Ungleicheit auch ungleiche Prioritäten sind. Um die zu verändern, wird noch viel mehr Zwang nötig sein. Und: Wollen wir diesen Zwang?

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Wie ein vorweggenommener Widerspruch wirkt das Buch „Lob des Risikos“ („Eloge du Risque“) der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle. Für das, was man heute so für „riskant“ hält, hat die Autorin nur Verachtung übrig: Aktivitäten, Extremsportarten – ein Symptom eines neurotischen Umgangs mit dem Unvorhergesehenen. Ebenso aber das Gegenteil: Der allgegenwärtige Sicherheitswahn und die hysterischen Ängste der Mehrheitsgesellschaft – vom  Überwachungsfanatismus der sogenannten „Sicherheitsbehörden“ gar nicht zu reden. Sie plädiert dafür, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, sich selbst abhanden zu kommen, und das Risiko „als Lebende vom Leben her und nicht vom Tod her zu denken“.

Die Pointe des Buchs liegt in einer so schönen wie wahnsinnigen wie traurigen Geschichte. Dufourmantelle, Jahrgang 1964, Tochter eines englisch-schweizerischen Vaters und einer französischen Mutter und in Frankreich berühmt, ist im Juli 2017 an einem Herzstillstand an der Küste von Pampelonne gestorben, als sie im Meer während eines aufkommenden Sturms versuchte, zwei zehnjährige Jungen vor dem Ertrinken zu retten. 

Rettungsschwimmer retteten kurz darauf die Kinder. 

Mich hatte die Geschichte seit damals sehr bewegt, weil hier einmal jemand durch Taten und mit seinem Leben für sein Denken einstand. Ein „Lob des Risikos“ liest sich anders vor diesem Hintergrund. 

Gewissheiten existieren nicht, Planbarkeit ist eine Illusion, Menschen sollten sich vielmehr für das Unbekannte, das Neue öffnen, forderte sie. 

Sicherheitsrituale, auch in Unternehmen und der Politik (Evaluierungen, Zielsetzungen, Beurteilungs- und Kontrollgespräche) seien vergleichbar mit den Neurosen eines Individuums, und den verzweifelten Versuchen, diese therapeutisch zu kurieren: Alles kreist dabei stets um alte Probleme. Alles steht still. Nichts kann sich verändern. Besser wäre es, sich auf den Moment und die eigenen Gefühle und Ahnungen einzulassen. Wenn es um die Zukunft geht, bewirken auch Prognosen nichts. Dufourmantelles „Plädoyer für das Ungewisse“ fordert auf, sich mit den eigenen Gefühlen anzufreunden. 

Wer den Wandel wolle, sollte laut Dufourmantelle nicht das immer Gleiche anstreben und auch nicht das vollkommen Andere erträumen, das von diesem als sein Gegenteil abhängig sei. Sondern vielmehr die Variation riskieren: „Die Variation führt unter dem Deckmantel des Alten etwas Neues ein, reine Improvisation, die traditionellen Regeln zu gehorchen scheint.  […] Wenn wir zu Variationen fähig sind, entgehen wir der Wiederholung“, schreibt sie. 

Auf deutsch ist „Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse“ im Aufbau Verlag erschienen. 

Ihr letztes Buch hieß „Verteidigung des Geheimnisses“ und ist kaum weniger aktuell: Dessen These ist es, dass unsere Gesellschaft einen neuen Ort für das Geheimnis erfinden muss. Früher waren es die Götter, heute geht das Ich in den sozialen Medien und ihrer totalen Transparenz auf. 

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In der Berliner Zeitung fragt Sabine Rennefanz „Wie nützlich ist die gendersensible Sprache?“ Und antwortet: „Befürworter der geschlechtersensiblen Sprache verweisen auf Untersuchungen, die belegen, dass das generische Maskulinum Frauen ausschließt. Probanden würden beim Wort Lehrer nur an Männer denken. Aber belegt das nicht eher die Vorurteile der Probanden? Und wäre es statt eines _ oder * nicht besser, konsequent Frauen in Chefsesseln, Talkshows, Chefredaktionen zu zählen und Quoten einzuführen?

Man könnte sagen, dass die gendersensible Sprache nicht stört und im besten Fall sogar für ein größeres Bewusstsein sorgt. Aber es fällt eine andere Entwicklung ins Auge: Gendern teilt Männer und Frauen in zwei Gruppen, wir und die. Männer gegen Frauen, Befürworter und Gegner. Man liest von Virologinnen und Virologen, von Autorinnen und Autoren und denkt, es handelt sich um zwei verschiedene Gattungen.“

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Da konnte ich nicht anders, als an Anne Will zu denken. Die sagt neuerdings gern überaus betont „Ärzt_innen“, „Patient_innen“ („Mörder_innen“ zu sagen bestand noch kein Anlass) und lächelt dann ein bisschen zu deutlich, sodass man erkennt, wie stolz sie darauf ist, und dass es ihr Spaß macht, ihre Zuschauer zu erziehen. 

Aber das ist Symbolpolitik. Anne Will selbst ist das beste Beispiel, dass hinter der derart zur Schau gestellten korrekten Gesinnung nichts anderes steht als die Macht einer Talk-Show-Ikone und einer älteren weißen Frau. 

In ihre letzte Sendung am Sonntag hatte sie zum Beispiel vier Männer und eine Frau eingeladen. Gleich zum Auftakt ließ sie den ersten Mann der zu Wort kam, Karl Lauterbach, erstmal in aller Ruhe seinen Lauterbach-Rap („zweite Welle … besser noch drei Wochen länger … wir lockern zu viel … ich rate ab …“) zum Besten geben, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. 

Dann kam die einzige Frau, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zu Wort. Weil die von der FDP ist und Anne Will ihre Ansichten nicht passen (oder weil sie auch eine Frau ist?) unterbrach sie Will schon im ersten Statement gleich zweimal widersprechend: Leutheusser-Schnarrenberger erwähnt den Lockdown, „der keiner war“ – Will grätscht rein. 

Leider war Leutheusser-Schnarrenberger zu höflich, um einfach zu sagen: Für Sie natürlich nicht Frau Will, denn die Medien sind ja die größten Profiteure der Krise. 

Darum ging es so weiter. Will unterbrach Ansichten, die ihr nicht passten. Und behandelte den einzigen weiblichen Gast am schlechtesten. Aber mit Binnen-I. 

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In der Bahn tönte heute die Ansage laut: „Bleiben Sie gesund!“ Es klingt mehr wie ein Befehl als wie ein guter Wunsch.