Gedanken in der Pandemie 21: Was man macht, und was man kann

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Beim aktuellen Dauerthema fällt uns komischerweise immer zuerst Vic Dorn ein:
Nun nehmen Sie doch mal diese schreckliche Maske ab! | Screenshot

Wenn Nationalstaaten Klopapier kaufen: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 21. Von Rüdiger Suchsland

„Das Dogma ist weniger wert als ein Kuhfladen.“
Mao Tse-tung

„Unmöglich zu erklären. Allmählich entfernte sie sich von jener Zone, in der die Gegenstände eine feste Form und Konturen haben, wo alles einen zuverlässigen und unveränderlichen Namen hat. Sie versank immer mehr in einer fließenden, ruhigen, unergründlichen Region, wo unbestimmte frische Nebel der Morgenfrühe schwebten.“ 
Clarice Lispector, „Nah dem wilden Herzen“

 

Zwei Inder werden sich ihr Leben lang an die Coronapandemie erinnern. Am 27. März erblickten in Raipur Zwillinge das Licht der Welt. Den Jungen nannten die Eltern Covid und das Mädchen Corona.

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Es passiert wirklich gerade soviel, dass es mir schwerfällt, den richtigen Anfang zu finden. Nicht erst heute. Genau genommen stört es mich selbst, hier oft soviel über Einzelheiten der Pandemie-Bekämpfung zu schreiben (auch wenn diese interessant sind, und voller kultureller Aspekte) und dafür so wenig „Feuilleton“ zu machen. So wenig spielerisch zu sein. Es wäre auch nötig, viel mehr darüber zu schreiben, wie wir leben in der Pandemie. Wie wir mit der Langeweile umgehen, mit der Langsamkeit und der Sprachlosigkeit unseres derzeitigen Lebens, mit der Leere auf den Straßen. Genauso wichtig ist es, über die Politik zu schreiben und über deren mediale Verarbeitung. Aber gleichzeitig ist es mindestens genauso wichtig, auf die Lebensrealität der Menschen zu schauen, wie ich das versucht habe, gestern zu tun: Was heißt das eigentlich, mit Kindern in der Pandemie zu leben? Und was heißt es eigentlich zum Beispiel, jetzt alleinerziehend zu sein? Genauso könnte man einmal über die Single-Haushalte sprechen, über diejenigen, die jetzt quasi gezwungen waren, einen Monat lang allein zu Haus zu stecken. Und die, wenn sie die Maßnahmen der Regierung korrekt befolgt haben, mit kaum jemanden physisch in Kontakt zu sein, schon gar nicht mit mehreren zusammen, ganz brutal vereinsamt sein müssen, allen technischen Kontaktprothesen zum Trotz. 

Man könnte dann auch über das Virtuelle sprechen, und tatsächlich denke ich ja, dass Virtualität und Digitalität keinesfalls das analoge Leben irgendwie ersetzen können. Wir müssten also mehr über diese derzeitigen Verluste sprechen. 

Aber alles das, was ich bisher erwähnt habe, ist ja doch nur die eine Seite von mehreren. Eine zweite, ganz wichtige ist die Sichtweise anderer Länder. Nicht unsere auf andere Länder, sondern die Sichtweise der Anderen selbst. Auf sich und auf uns? Was denken die Menschen dort? Was passiert ihnen dort und mit ihnen? Was ist überhaupt los? 

Die Verarmung unserer Wahrnehmung, die zu den eklatantesten Corona-Folgen gehört, zeigt sich im wachsenden Desinteresse für das Andere. 

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Im Ganz-Kleinen sieht man es im Provinzialismus unserer deutschen Bundesländer. Im Kleinen in „Europa“. Gewissermaßen haben am Anfang der Pandemie alle Nationalstaaten erstmal Klopapier gehamstert. Zugbrücken hoch und Medikamente nur noch für uns selber. 

Die Grenzschließungen, die Ausgangssperren, die Tatsache, dass wir alle uns nur noch in dem Umfeld bewegen dürfen, das wir sowieso schon kennen – das ist der Traum unserer Rechtsextremisten und brandstiftenden Biedermänner. 

Renationalisierung und Anti-Internationalismus, auch einzelne Attacken von Fremdenhass sind eine der ersten Folgen von Corona. 

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Die BBC berichtet, wie in England jetzt Chinesen stigmatisiert werden, als Virenträger. Chinesisches Essen wird kaum noch bestellt, es könnte ja vergiftet sein, behaupten manche.

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Glauben wir wirklich, dass das oberflächliche Gegeifere, die Hass- und Rassismus-Tiraden, die manche gerade gegen China abfeuern, irgendetwas mit der chinesischen Lebensrealität zu tun haben? Glauben wir wirklich, es hat tatsächlich etwas China zu tun, wenn der ZDF-China-Korrespondent bei Markus Lanz nur die Klischees wiederkäut, für die ich nicht erst China-Korrespondent beim ZDF werden muss? Da fährt er nach Wuhan, und findet nur exakt das, was jeder ZDF-Zuschauer über 60 (also jeder ZDF-Zuschauer außer mir) ohnehin in China finden würde: Böser Überwachungsstaat, böse Zensur, sonst auch alles nur schlecht, und die armen Menschen dort sind dann offenbar noch so bescheuert, dass sie das alles auch gut finden. Sind halt Chinesen oder?

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Ich habe es gestern geschrieben: Es geht bei den Haltungen, die wir gegenüber der Pandemie einnehmen, nicht zuletzt auch um Mentalitäten und Kulturen. Um lange gewachsene Gewohnheiten, mit Problemen umzugehen: Ist man mehr hierarchisch oder mehr dezentral, mehr laissez-faire oder obrigkeitsstaatlich ausgerichtet, mehr strategisch oder mehr taktisch in Problemlösungen, und so weiter und so weiter. Vielleicht am allerwichtigsten sind aber die Unterschiede zwischen Kulturen und  Ländern, kulturelle Mentalitäten eben. Und denen möchte ich mich in den nächsten zwei Wochen etwas mehr zuwenden als bisher. 

Darum möchte ich auch mit der Anregung beginnen, die aber auch als Aufforderung und Bitte an Euch verstanden werden soll, mir noch sehr gerne mitzuteilen, was ihr so aus anderen Ländern über Corona hört? Was ihr an Freunden, Verwandten, sonstigen Kontakten außerhalb Deutschlands habt und was diese Euch so berichten. Würde mich sehr interessieren – bitte per mail an (Aktiviere Javascript, um die Email-Adresse zu sehen)

Mich interessiert natürlich insbesondere, was in Ländern los ist, die nicht in Europa liegen und die deswegen grundsätzlich andere Voraussetzungen und oft auch finanzielle Möglichkeiten in der Pandemie-Bekämpfung haben. 

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Was ist zum Beispiel in Lateinamerika los? Neulich sagte mir eine Freundin aus Buenos Aires, mit der ich 20 Minuten per WhatsApp gechattet habe, dies sei „ein kollektiver Selbstmord“ der Menschheit – und sie meinte damit nicht die Krankheit, sondern die Reaktion der Menschen darauf. Sie fand es vollkommen übertrieben, wie alle auf das Virus reagieren. „Mehr Leute werden an Hunger oder an den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit sterben als Alte durch Corona.“ Die Menschen trauten sich nicht, Wissenschaft infrage zu stellen – diese sei ein „moderner Gott“. 

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Ich glaube, dass die Angst vor der Pandemie nirgends so groß ist wie in Europa; und in Deutschland ist sie besonders groß, verglichen mit anderen europäischen Ländern. Dafür muss man nicht nach Schweden gucken, man kann genauso Spanien oder Italien nehmen. Dort haben die Leute keine besondere Angst, sondern sie sind realistisch. Bei uns ist die Angst eine unrealistische. Wenn die Infektionsrate bei einem Prozent der Bevölkerung liegt (und das sind hohe Schätzungen), dann liegt meine Wahrscheinlichkeit, auf einen Infizierten zu treffen bei einer von hundert Begegnungen. Ich bin aber seit vier Wochen keinen 30 verschiedenen Menschen begegnet. 

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Auf dem Cover des „Economist“ sieht man die Silhouette von Schanghai, und man sieht im Hintergrund die Sonne aufgehen. Alles ist leuchtend gelb und gelb-orange eingefärbt. Natürlich spielt das mit der Vorstellung von China als „gelber Gefahr“. Auch wenn Gelb-Orange unter anderem die Farbe des chinesischen Kaisers ist. Es geht so weiter. Vor diesem gelben Himmel und der aufgehenden Sonne brechen Schiffe und Flugzeuge in alle Himmelsrichtungen auf. Zivilflieger sind dabei, aber auch ein Jagdflieger, Handelsschiffe die mit Containern beladen sind, aber auch ein Flugzeugträger und eine Fregatte.

Die aufgehende Sonne hat im Übrigen, wenn man genau hinschaut, nicht die Form einer Sonne, sondern die Form des Coronavirus. Somit muss man leider sagen, dass dies insgesamt ein komplett rassistisches Cover ist.

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Die „FAZ“ berichtete neulich folgendermaßen über die aufkommenden Berichte über den Beginn der Pandemie: „Für China kommt die Debatte über den Ursprung des Virus höchst ungelegen, weil sie abermals den Fokus der weltweiten Aufmerksamkeit auf die Frühphase der Pandemie lenkt, in der chinesische Behörden nachweislich Informationen vertuscht haben. Die chinesische Führung hat viel Energie darauf verwendet, genau davon abzulenken, indem sie ihre späteren Erfolge bei der Eindämmung des Virus als Sieg propagierte. Allerdings gibt es offenbar auch im chinesischen Machtapparat Personen, die Rechenschaft für die Versäumnisse der ersten Wochen erzwingen wollen. So jedenfalls ließe sich erklären, dass die Nachrichtenagentur AP in dieser Woche Zugang zu einem internen Memo erhielt, dem zufolge der Leiter der Nationalen Gesundheitskommission, Ma Xiaowei, bereits am 14. Januar von der ,schlimmsten Herausforderung seit Sars‘ sprach. Erst sechs Tage später gaben Chinas Behörden zu, dass das Virus sich von Mensch zu Mensch weiterverbreitet.“

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Das ist die eine Seite. Es gibt aber auch die andere: Nicht nur hierzulande gibt es die Generation Y und die Millennials, auch im „Reich der Mitte“. Diese neue Generation, diese jungen Chinesen schätzen den Kapitalismus, sind technikaffin, sie sind gut ausgebildet, umweltbewusst und pflegen einen Individualismus, der smarter und softer ist als der ihrer Eltern. Diese jungen Chinesen studieren zu Tausenden an Unis im Ausland – und kommen als Hochqualifizierte zurück. Längst schon ist China keine kopierende, sondern eine innovative Gesellschaft.

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Die US-amerikanische Geopolitik-Zeitschrift „National Interest“ schreibt über das Verhältnis USA-China: „At the same time defeat of this pandemic underlines a vital national interest neither the US nor China can secure without the cooperation of the other, the performance?and non-performance?of the two nations will have profound consequences for the larger rivalry for leadership. From economic growth over the next 12 months, to its citizens’ confidence in their government, and each nation’s standing around the world, successes and failures in meeting a test that has captured the global mind will matter hugely.“

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„Für das chinesische Denken“ schreibt der französische Sinologe Francois Julien in seinem ausgezeichneten China-Buch „Über die Wirklichkeit“ (im Kapitel „Lob der Leichtigkeit“): „liegt der Gegensatz nicht zwischen dem, was man kann, und dem, was man will, sondern zwischen dem, was man „macht“, und dem, was man „kann“. […] Auch der Weise/Stratege ist ein Mann ohne Eigenschaften. Wenn man rechtzeitig eingreift, also dann, wenn die antagonistische Konfiguration sich noch nicht gebildet hat, siegt man, ohne dass es irgendjemand mitbekommt, und der Andere unterwirft sich, ohne dass Blut fließen müsste. […] Das chinesische Denken beschäftigt sich gerade mit der Nicht-Schlacht, der Nicht-Konfrontation und dem Nicht-Ereignis und daher mit dem ganz Gewöhnlichen, denn im Gewöhnlichen liegt das Ideal.“

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