Gedanken in der Pandemie 08: Keine Macht den Virologen
Was heißt Gesellschaft, gegen die Expertokratie und eine Erinnerung an Eva Hesse: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 08.
„April is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.“
T. S. Eliot, „The Waste Land“
„There are a few crucial moments in life when you have to make sacrifices, not only for your own sake but also in order to take responsibility for the people around you, for your fellow human beings, and for our country.
That moment is now. That day is here. And that duty belongs to everyone.“
Stefan Löfven, Ministerpräsident von Schweden in seiner „Address to the Nation“ am 22. März 2020
Die ganz große Eva Hesse ist tot – what a pity. Eine Frau „wie es sie heute nicht mehr gibt“. Oder doch? Jedenfalls eine Mischung aus altmodischer großbürgerlicher Damenhaftigkeit mit einmaliger Ausstrahlung und viel Stil (Tücher von Chanel oder Hermes im Haar, große Sonnenbrillen auch in Innenräumen, Cigarillos in der Hand) und einer scharfen Intellektuellen, die ihr Leben vor allem für einen Dichter aufopferte: Ezra Pound, nach dem Krieg durch seine Sympathien für Mussolini Persona non Grata der europäischen Kultur, bis ihn Hesse, selbst eine radikale Linke, wieder in die Kreise der Avantgarde zurückholte: Durch ihre Übersetzungen und mehrere Bücher mit klugen Interpretationen. Hesse war auch Übersetzerin von T.S.Eliot.
„Aufopfern“ ist übrigens fast wörtlich gemeint, denn weil man mit Übersetzung und Literaturkritik nicht viel verdient und das Erbe der reichen Diplomaten-Familie offenbar bald aufgebraucht war, lebte Hesse mit ihrem irischen Mann, der bei Siemens angestellt war, in München lange in einer Ein- später einer Zweizimmerwohnung.
Über diese tolle Frau haben Willi Winkler in der SZ und Hannes Hintermeier in der FAZ zwei schöne, einander ergänzende Nachrufe geschrieben. Lesen könnte man auch noch das Interview, dass Hintermeier vor acht Jahren mit Hesse geführt hat.
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Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Diesen Eindruck hat man manchmal wenn dieser Tage über den schwedischen Sonderweg in Sachen Anti-Corona-Politik gesprochen wird. Da klingen viele Beiträge so, als wüssten alle anderen Bescheid, als wären die Schweden Verantwortungslose, Vollidioten, Hasardeure. Als hätten nicht alle in dieser eskalierenden Krise sich immer wieder korrigieren müssen.
Und als müssten wir uns irgendwie freuen und betätigt fühlen wenn der schwedische Versuch einer anderen Form der Pandemie-Eindämmung schiefgeht. Denn dann wären wir ja die Besserwisser. Sonst hätten wir ja Unrecht gehabt.
Eine Korrektur: In Schweden sind inzwischen Versammlungen mit über 50 Leuten verboten, nicht mehr mit über 500, wie ich gestern noch schrieb. Das war der Stand von letzter Woche. Nach wie vor allerdings ist es erlaubt, zu Hause eine Party zu feiern, oder in eine Bar zu gehen und draußen im Café zu sitzen.
Werfen wir noch mal einen Blick auf das schwedische Modell. Zugegeben: Es ist mir sympathisch. Weil es pragmatisch einleuchtet. Weil es die Bürger ernst nimmt, als Partner anspricht und als freie Menschen, nicht als Untertanen, oder als unmündige Kinder. Und wenn es klappen sollte, und sich als besser herausstellt, könnten wir es immer noch übernehmen. Wahrscheinlich werden wir es sogar übernehmen, ab dem Moment an dem die schweren Ausgangsbeschränkungen in Deutschland doch gelockert werden.
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Die Rede die der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven am 22. März hielt, ist bemerkenswert. Ich könnte sie mir in Deutschland so absolut nicht vorstellen. Denn sie ist pathetisch, und hier näher an Figuren wie Macron, ohne dass es Löfven einmal nötig hat, von „Krieg“ zu reden. Zugleich ist sie nicht so maternalistisch, wie die im Prinzip relativ gute von Merkel, die sich darin große Mühe gibt, so zu sprechen, dass es alle Kinder im Kindergarten auch wirklich verstehen.
Vergleichen wir einmal genau: Merkel sprach mehr als doppelt soviel, der Wortlaut hat über 10.000 Zeichen, die von Löfven nur knapp 4.200.
Das Wort, das beim Schweden am häufigsten vorkam, heißt „Verantwortung“ (responsibility), Gleich sieben Mal kam es in der kurzen Rede vor. Bei Merkel nicht ein einziges Mal, auch nicht in abgewandelter Form (“verantwortlich“, „verantwortungsvoll“ und so weiter).
Gleich fünfmal spricht Löfven von „Gesellschaft“ (society), weitere viermal von „Land“ (country). Merkel sagt nur einmal Gesellschaft, dagegen gleich viermal „Gemeinschaft“ – was ich ihr als Redenschreiber sofort herausgestrichen hätte. Nicht nur weil es unangenehme Assoziationen an „Volksgemeinschaft“ weckt, sondern weil dies auch schon vor 1933 ein dezidiert antimoderner Begriff war, ideologisch belastet, weil wie die Begriffsgeschichte zeigt, hinter der schwiemeligen Gemütlichkeit auch ein Affekt und etwas Irrationales steht. Gemeinschaft meint immer das Gegenteil von Gesellschaft.
„Land“ sagt die Kanzlerin zweimal, und zweimal „Deutschland“, während Löfven fünfmal „Schweden“ sagt – all das wie gesagt in weniger als der Hälfte der Textmenge.
Der Schlüsselbegriff bei Merkel ist nochmal ein anderer: „Wir“. Nicht weniger als unglaubliche 39 Mal kommt das Wort in Merkels Rede vor. Beim Schweden nur fünfmal. Er spricht die Bürger direkt an, als Gegenüber auf Augenhöhe und Individuum: 29 mal sagt Löfven „You“ oder „Your“. Merkel nur halb so oft.
Solche Unterschiede sind signifikant für eine komplett andere Ansprache der Bürger. Ob eine davon besser ist, weiß ich nicht, dass mir die schwedische lieber ist, dagegen schon. In jedem Fall aber sollten wir uns dessen bewusst sein. Es geht auch anders. Genau hinsehen lohnt sich.
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Auch in Schweden wird übrigens kontrovers über die dortige wie die resteuropäische Seuchenpolitik debattiert – wie es einer offenen Gesellschaft würdig ist. Es gibt immer Alternativen, und der der sie vorschlägt, tut dies erst einmal bis zum Beweis des Gegenteils mit bestem Willen.
Interessanterweise kommt die Kritik nicht aus der breiten Bevölkerung, sondern aus Kreisen der Wissenschaft, wenn auch nicht immer der Epidemiologie und der Mediziner. Darum hat der frühere Staats-Epidemiologe Johan Giesecke, die Forscher aufgerufen, „innerhalb des Bereichs zu bleiben, in dem sie sich auskennen.“
Das ist natürlich auch keine Haltung.
Die Frage, die sich uns allen stellt, in Schweden wie in Deutschland, ist eher die, ob man immer auf die Experten hören sollte. Denn Experten sehen oft nur ihr Feld und ihren Horizont, der ist in der Regel genauso beschränkt ist wie der von uns allen. Das Letzte, was wir brauchen, ist eine Expertokratie, die Herrschaft der Experten. Genau darum haben wir Politiker: Weil eben nicht die Ingenieure und Ökonomen und Ärzte das Sagen haben sollen, sondern die ganze Gesellschaft. Gesellschaft heißt Kommunikation unter Unterschiedlichen. Genau darum geht es jetzt: Darum die unterschiedlichen Ansichten, Standpunkte, Positionen und Interessen miteinander in ein Gespräch zu bringen. Das wäre Gesellschaft, nicht das „Wir“ und die „Gemeinschaft“, was beides leicht etwas Debatten unterdrückendes hat, einen Hauch von „Was soll das Gerede, wir brauchen Entscheidungen.“ Dies ist das Gegenteil von Demokratie. Es wäre Aufgabe der Politik, dieses Gespräch zu organisieren, das Fremde und Andersdenkende zusammenführt.
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Wir haben am Anfang dieser Pandemie merken können, dass die Virologen die Macht hatten. Was sie dachten und sagten wurde von der Regierung exekutiert. Auch wenn es sich widersprach, auch wenn die Überlegungen der ersten Wochen in der dritten wieder zurückgenommen wurden oder ins Gegenteil verkehrt. Die Regierung exekutierte, sie war nicht die, die entschieden hat. Dass sich das jetzt geändert hat ist eine gute Nachricht. So muss es auch bleiben. Zu den biologischen und medizinischen Experten kamen nun schnell andere Experten hinzu: Ökonomen, Psychologen, Polizei-Wissenschaftler. Nun brauchen wir noch mehr: Philosophen, Historiker, Soziologen. Wir brauchen diverse Kompetenz, denn tatsächlich verstehen Virologen etwas von Virologie. Aber sie verstehen schon nichts davon, wie man überhaupt einen Ausnahmezustand praktisch in Gang setzt, und was der für Folgen hat. Sie verstehen auch nichts davon, was mit Kindern passiert, die vier bis sechs Wochen lang weggesperrt sind und nicht in die Schule kommen. Oder was mit den Familien passiert, wenn die Eltern keinen Babysitter organisieren können. All das müssen wir alle zusammen entscheiden, auch wenn wir nicht fachlich hierfür kompetent sind.
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Die Situation, in die wir hineingeworfen sind, jetzt anzunehmen, hieße bereit zu sein zu dieser Entscheidung. Auch wenn wir die Konsequenzen nicht zu 100 Prozent überblicken können. Es hieße Verantwortung auf uns zu nehmen und Risiken auf uns zu nehmen.
Wer Sicherheit will und verlangt in einer Situation, die unsicher ist, der verweigert sich der Situation.
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Zur ganzen Wahrheit im Fall Schweden gehört zum Beispiel auch die (für mich sehr überraschende) Information, dass über die Hälfte aller Schweden in Single-Haushalten lebt. Dies ist der höchste Anteil in ganz Europa.
So hat die Krise immerhin ein Gutes: Wir lernen etwas über unsere Mitmenschen.
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Wer noch mehr über Schweden wissen möchte, dem kann ich die interessante Seite „The Local“ empfehlen. Ich kannte sie vorher nicht, habe sie jetzt durch Zufall entdeckt: Ein in Schweden basiertes, europäisches Netzmagazin, das in vielen Hauptstädten der EU Ableger hat, auch in Berlin. Zweifellos eher kommerziell, aber niveauvoll, gut informiert und meinungsstark.
Dort findet man auch über Deutschland Zahlen, die man in deutschen Medien nicht so schnell findet; zum Beispiel diese statistische Auffächerung der bisherigen deutschen Corona-Toten.
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Es sind nationale Unterschiede, die hier offenbar werden. Die dänische Regierung sagt ihrer Bevölkerung: Cancelt die Osterferien! Fahrt nicht übers Land! Die schwedischen Behörden sagen ihren Bürgern vor den Osterferien: Es ist wichtig, darüber nachzudenken, ob die geplanten Reisen wirklich notwendig sind.
Grundsätzlich ist die schwedische Gesellschaft eine höfliche Gesellschaft. Man benutzt keine harschen Ausdrücke, und spricht nicht miteinander im Befehlston, so wie das etwa in Dänemark der Fall ist. Sondern man versorgt die Menschen mit den Fakten die sie brauchen, um eine informierte und verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen. Und man hat ein optimistisches Menschenbild, indem man glaubt, dass die größte Zahl der Menschen auch eine solche Entscheidung treffen wird.