Cinema Moralia – Folge 163: Mein Freund Harvey
Soll man Mr. Weinstein verbrennen? Und ein verschwundener Artikel über Sexismus und Rassismus auf der Berlinale – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 163. Folge
»Sometimes we stop and watch the birds when there ain’t no birds. And look at the sunsets when its raining. We have a swell time. And I always get a big tip. But afterwards, oh oh…
»What do you mean, ‚afterwards, oh oh‘?«
»They crab, crab, crab. They yell at me. Watch the lights. Watch the brakes, Watch the intersections. They scream at me to hurry. They got no faith in me, or my buggy. Yet, it’s the same cab, the same driver. and we’re going back over the very same road. It’s no fun. And no tips… After this he’ll be a perfectly normal human being. And you know what stinkers they are!«
»Harvey »von Henry Koster, 1950
»Der, der ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.«
Evangelium des Johannes
»Mein Motto: Immer auf der falschen Seite stehen.«
Shizu
Die sogenannte Weinstein-Affaire wirft mehr Fragen auf, als bisher beantwortet werden.
Wenn man liest, was veröffentlicht wird, ist es unglaublich viel Hörensagen, Verdacht, anonyme Anschuldigung, vages, »unangemessenes Benehmen«. Wenn man die Erlebnisse von Ashley Judd und Asia Argento liest, möchte man sie lieber nicht gelesen haben. Nicht wegen der Ekeleien Weinsteins, sondern weil diese Frauen da viel dummes Zeug reden, und seinerzeit manches dumme Zeug gemacht haben – was natürlich Weinstein nicht im Geringsten entschuldigt, das muss man ja heute besser dazu sagen.
+ + +
Ich frage mich manches, zum Beispiel: Warum sind es eigentlich immer Juden, die derart öffentlich vorgeführt, an den Pranger gestellt und exekutiert werden? Roman Polanski, Woody Allen, Dominique Strauss-Kahn, Harvey Weinstein? Wird da neben der Lust an detaillierter Beschreibung auch ein verkappter Antisemitismus der Öffentlichkeit bedient?
Ich frage mich: Warum sind es immer Linke oder Liberale und Unterstützer der Demokraten, um die es geht? Mein Eindruck: Es geht auch darum, mit einer Epoche abzurechnen: den Sixties und ihrer Liberalität. Nicht Personen, sondern die libertäre Kultur der Sechziger Jahre soll gebrandmarkt und öffentlich vernichtet werden.
Es geht um ein Zurück zum Puritanismus.
+ + +
Verena Lueken stellte in ihrem FAZ-Kommentar eine wichtige Frage: Wie ist die Rolle der Medien? »Sie sind Teil der Branche. Recherchen, die schon vor mehr als zehn Jahren unternommen wurden, hat er, so scheint es, zu unterdrücken gewusst. Weinstein hat in den vergangenen Jahren, in denen keiner seiner Filme mehr Oscars gewann, mit seiner Firma Macht eingebüßt. Gibt es einen Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung? Brachte die »New York Times« den Stein nur ins Rollen, weil Weinstein schon angeschossen war?«
Man fragt sich übrigens, warum der Sender NBC wegen »Quellenproblemen« jene Story ablehnte, die der »New Yorker« gedruckt hat. Sie stammt nicht zufällig von Ronan Farrow, dem Sohn von Mia Farrow und Woody Allen.
+ + +
Ich frage mich schließlich, warum in dieser Hexenjagd jedes Maß verloren wird? Gerede jene, die sonst bei allen möglichen überführten und verurteilten Kriminellen auf Resozialisierung pochen, die – oft mit guten Gründen – in vielen Verfahren mildernde Umstände ins Feld führen, kennen in diesem Fall keinen Rechtsstaat mehr.
Rechtstaatliche Basisprinzipien, wie die Unschuldsvermutung existieren de facto nicht mehr im Fall von Sexualverbrechen.
+ + +
Wie ich reagiert habe, als ich von der Causa Weinstein erfuhr, werde ich gefragt. Sehr allgemein gesagt: Mich erstaunt vor allem das Erstaunen. Mich irritiert die Stärke der Reaktion, und zum Teil die Reaktion selbst, die mir vor allem heuchlerisch vorkommt.
Mich empört die Lust an der Enthüllung, das Breittreten der vielen Details, das natürlich ein genüssliches ist, voyeuristisch.
Mich stört das Missverhältnis zwischen der jetzigen Aufmerksamkeit für Weinstein und der sonstigen Aufmerksamkeit fürs Kino. Ich würde mir wünschen, dass wir das Kino auch nur halb so wichtig nähmen, dass wir die sonstige Arbeit von Studiobossen auch nur ein Viertel so genau kommentieren und beobachten, wie wir jetzt das Treiben eines Filmmogul.
Zur Sache selbst ist zu sagen: Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Missbrauch auch, »sexuelle Belästigung« dagegen schon weitaus vager, ebenso wie die tatsächlichen Abhängigkeiten von Schauspielerinnen, die auf eine Rolle hoffen, und Produzenten, die sie derart ausnutzen, natürlich sehr relativ und sehr im Auge der jeweiligen Betrachter liegt.
Andere Dinge mögen geschmacklos sein, wir mögen sie unmoralisch finden, aber sie sind letztlich Privatsache.
+ + +
Der Fall Weinstein ist nicht nützlich, sondern schädlich für den Feminismus. Denn was uns hier öffentlich vorgeführt wird, ist Entmächtigung und Ohnmacht von Frauen anstatt Ermächtigung und Macht. Wir lernen: Frauen sind also Opfer. Und zumindest die mitunter erkennbare klammheimliche Sehnsucht, ein Opfer zu sein, und sich öffentlich als Opfer zu erklären, hat für mich etwas zutiefst Irritierendes.
Fällt jemanden auf, dass bei Sexualdelikten noch Rollenbilder der 50er-Jahre verbreitet sind. »Der Mann ist der aktive Teil, der den Sex immer will. Die Frau bleibt passiv.« So ein Rollenverständnis wäre in jedem anderen Lebensbereich heute undenkbar.
+ + +
»Sexismus« ist ein schönes, weil passend vages Schlagwort. Was Sexismus wirklich heißt, darüber müssen wir ein andermal schreiben. Aber man sollte »den Film« nicht für einen Einzelfall halten. Wie sieht es eigentlich in anderen Branchen aus?
Und in anderen Ländern?
+ + +
»Ich will jetzt gar nicht davon reden, welche Frauen mir davon erzählt haben, dass Dieter Kosslick ihnen ungefragt die Schultern massiert hat – könnte ich aber, wenn ich muss.« Diesen Satz hatte ich mir bereits vorgestern für den heutigen Blog notiert – versprochen!
Dann erschien ein interessanter Text bei »Missy Magazine«. Die Autorin schreibt unter dem Pseudonym Bernadine Harris einen offenen Brief an Berlinale-Chef Dieter Kosslick. Unter der Überschrift »Unter der Bettdecke der Filmbranche. Über Harvey Weinstein hatte auch Berlinale-Direktor Dieter Kosslick etwas zu sagen – selbst Teil des Problems« erschien dort der Text einer Frau die, wie sie beschreibt, »vor wenigen Jahren … in einer recht niedrigen Position« für die Berlinale gearbeitet hat. Sie berichtete von Verhaltensweisen des Berlinale-Chefs, die das »Missy Magazine« selbst als »sexistisch und rassistisch« charakterisiert hat. Man muss diese Ansicht nicht teilen, um in dem Brief einen wichtigen Beitrag zu sehen. Wichtig für das Thema Sexismus, aber auch wichtig für die angemessene Einschätzung des Binnenklimas der Berlinale, das von Angst, Respektlosigkeit und Willkür geprägt ist. Bernadine Harris fasst die »unglückliche Ansammlung von sehr schlechtem Verhalten« Kosslicks ganz klug und souverän in der Formulierung zusammen, »dass Männer wie du [= Kosslick] sehr gut darin sind, eine Atmosphäre zu schaffen, in der ständige und willkürliche Erniedrigungen gang und gäbe sind. Eine Atmosphäre, die ermöglicht wird, weil in den Räumen, die ihr beherrscht, Ehrgeiz, Macht und Ruhmsucht jene fragile Stimmung erzeugen, die allzu leicht an unsere niedersten Instinkte appelliert.«
Und vor allem wichtig, weil er die Doppelmoral und Scheinheiligkeit jener Personen bloßstellt, die jetzt wie Kosslick Spitzen und »lustige« Anekdoten über Weinstein zu bieten haben, den sie vor Kurzem noch hofierten
Was nicht abzusehen war, war, dass dieser Brief auch noch ein Beitrag zu den Medienverhältnissen in Deutschland werden könnte.
Denn am Mittwochmorgen war er plötzlich nicht mehr online und einige Minuten später war auch bei präziser Titelsuche kein Link mehr auf Google zu finden. Da hat wohl jemand einen Löschantrag gestellt.
Auf meine Anfrage nach den Hintergründen bekam ich zunächst von der Redaktion die Nachricht, der Text sei auf Wunsch der Autorin zurückgezogen worden, dann von »Missy«-Chefredakteurin Stefanie Lohaus die etwas ausführlichere Auskunft: »Dieter Kosslick hat kurz nach der Veröffentlichung bei unserer Autorin angerufen, ein längeres Gespräch mit ihr geführt und sich bei ihr entschuldigt, sie hat die Entschuldigung angekommen, darüber geschlafen und daraufhin gebeten, dass wir den Text zurückziehen. Dem sind wir nachgekommen.«
Das muss man akzeptieren. Wobei natürlich die Frage naheliegt, wofür sich der Berlinalechef denn genau entschuldigt hat?
Ein schöner Kommentar dazu kam auch von einer langjährigen Bekannten des Berlinalechefs: »Wow, Modell Weinstein? Kosslicks Anrufe, Bitten und Entschuldigungen kenne ich zu gut.«
+ + +
Schade ist allerdings schon, dass »Das feministische Magazin für Pop und Politik« da so schnell eingeknickt ist. Meiner Ansicht nach hätte die Redaktion die Autorin eher darin bestärken sollen, den Artikel online zu lassen, und darauf hinweisen müssen, dass einmal öffentlich gemachte Texte nun einmal öffentlich geworden sind, und sich nicht wieder aus dem Verkehr ziehen lassen.
Tatsächlich ist der Text mit etwas Neugier weiterhin im Netz aufzufinden, und wurde auch auf Facebook verbreitet.
+ + +
Einige weitere Stunden später fand sich unter der ursprünglichen Adresse eine Erklärung, die mich etwas ratlos lässt: »Diesen Brief haben wir auf dann Wunsch der Autorin von der Webseite genommen. Weil dieses Vorgehen wiederum für Irritationen gesorgt hat, hat uns Bernadine Harris folgendes Statement zukommen lassen:«
»Nachdem der Brief, in dem ich über einen unangenehmen Vorfall mit Herrn Kosslick schrieb, veröffentlicht wurde, meldete sich dieser bei mir und wir trafen uns auf ein Gespräch, bei dem auch seine Assistentin anwesend war. In dem Gespräch besprachen wir noch mal den Vorfall und ich erläuterte ihm meine Position und warum es mir wichtig war anhand des Vorfalls mit ihm vor einigen Jahren, die komplexen Dynamiken aufzuzeigen, die u.a. in der Filmbranche sexuelle und andere Formen der
Belästigung und die anschließende Vertuschung ermöglichen. Wir sind den spezifischen Fall nochmal durchgegangen und Herr Kosslick hat sich bei mir entschuldigt. Da ich beobachtet habe wie Online-Debatten oftmals ablaufen und wie dabei komplexe Zusammenhänge auf emotionale Weise verzerrt werden, hatte ich mich selbstständig dazu entschieden, den Artikel herunternehmen zu lassen.
Allerdings möchte ich alle ermutigen, diese wichtige und überfällige Debatte auch außerhalb ihrer Bildschirme zu führen und Kollegen, Freunde und Familie zu sensibilisieren.
Ein Like oder Share unter einem Artikel nützt nichts wenn wir nicht täglich in der Arbeitswelt den Mut finden solches Verhalten zu rügen und klar zu verurteilen.
Bernadine Harris«
+ + +
Stimmt: Ein Like oder Share unter einem Artikel allein nutzt nichts. Allerdings muss es auch dafür den Artikel erst einmal geben. Und offenbar nutzte der Artikel doch immerhin genug, um Bernadine Harris binnen Stunden jene Entschuldigung zu geben, auf die sie jahrelang vergeblich gewartet hatte.
Und die Erklärung der Autorin ist unbefriedigend. Denn auch vorher wusste sie schon, »wie Online-Debatten oftmals ablaufen.« Das Ganze hat ein Geschmäckle und ich kann nicht anders, als zu vermuten, dass hier doch noch anderer Druck und andere Drohkulissen mit im Spiel waren.
Allemal ist es immer schlechter Stil, Texte nachträglich wieder ungeschehen machen zu wollen. Etwas, das weiß ich aus eigener Erfahrung, das den Autor selbst am meisten schmerzt.
Insofern können wir jetzt hoffen, auch wenn ich da nicht sehr optimistisch bin, dass andere, stärkere Bataillone der öffentlichen Meinung einmal recherchieren, wie die Arbeitsbedingungen bei der Berlinale wirklich aussehen, wie es mit Sexismus und Rassismus der Berlinale aussieht.
Wo seid ihr Pro-Quote-Frauen? Wo seid ihr Förderintendantinnen und -Referentinnen, wo ist die Kulturstaatministerin? Wo sind alle, die gern unter dem Banner »wir müssen mehr für Frauen tun« segeln? His Rhodos, hic salta!
Und wo sind die Redakteurinnen und Redakteure der Qualitätsmedien und der sogenannten Hauptstadtpresse? Wirklich »eine Kampagne gegen Kosslick« wie eine leitende Redakteurin den Vorfall heute kommentierte?
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!