Cinema Moralia – Folge 71: Was heißt Alternativlosigkeit?
Unter Zombies: Der Wahlkampf und das Kino der Alternativlosigkeit – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 71. Folge
»Aufrichtigkeit ist die erste Pflicht des Kritikers.« – Marcel Reich-Ranicki
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»Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.« Etwas abgehangen dieser Sponti-Spruch, schon klar, aber hoffen wir mal, dass da am Sonntag keiner etwas tut, was er später bereut. Die Metzger sollen noch mal schön ein bisschen warten.
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Die meisten Deutschen finden den Bundestagswahlkampf langweilig, meldet die Kölnische Rundschau. Vielleicht ist es ja gar nicht der Wahlkampf, vielleicht sind ja auch einfach die Leute langweilig, die Wähler. Aber stimmt ja: Wählerbeschimpfung kommt gar nicht gut an, Leserbeschimpfung also auch nicht, man muss den dummen Leuten sagen, dass sie klug sind. »Die Köchin soll den Staat regieren können«, hat schließlich schon Lenin gesagt. Die Betonung liegt hier allerdings auf »können« und auf »soll« – dass sie ihn schon regieren kann, hat er damit allerdings nicht gesagt. Lenin kannte allerdings auch Angela Merkel noch nicht.
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Heute um 14 Uhr wurde vor dem Kanzleramt ein offener Brief übergeben, den die Schriftstellerin und Filmautorin Juli Zeh aufgesetzt hat, und der inzwischen von über 67.000 Menschen unterzeichnet wurde, darunter auch von zahlreichen Filmemachern und Drehbuchautoren. Der Brief richtet sich gegen die Passivität der Bundesregierung angesichts des NSA-Skandals.
Wir empfehlen unseren Lesern dringend, sich dem Brief anzuschließen: Jeder kann hier unterzeichnen.
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In einem Interview mit der »Berliner Zeitung« sagt Zeh dazu ein paar bemerkenswerte Sätze: »Ein beobachteter Mensch ist nicht frei.« … »Die meisten möchten doch nicht einmal, dass die Partnerin oder der Partner die eigenen Mails liest, weil wir nämlich wohl etwas zu verbergen haben. Nicht ein Verbrechen, sondern einfach nur das, was man Privatsphäre nennt. Ein intimer Raum, der uns immer latent peinlich ist und den wir schützen. Ich denke, wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren. …. Die Fähigkeit, Geheimnisse zu haben, oder anders gesagt: das Bewusstsein dafür, dass es eine Intimzone gibt, ist eigentlich das, was den Menschen wirklich ausmacht. Es ist etwas, das zu unserem Wesensgehalt gehört, zu unserer Würde. Ein Gefühl von Scham, ein Gefühl von Peinlichkeit, ein Gefühl, nicht angeschaut werden zu wollen, das schützt unsere Identität. Wenn wir das aufgeben und sagen, ihr dürft mich alle nackt anschauen, fotografieren und meine Briefe lesen, dann gibt man seine Persönlichkeit auf, seinen Stolz, seine Würde und auch seine Identität. Man kann irgendwann nicht mehr ‚Ich‘ sagen. Ohne Geheimnisse gibt es kein Ich. Man verliert dann im Grunde sich selbst.«
Und weiter: »Das Bundesverfassungsgericht sagt zu Recht, dass schon der beobachtete Mensch kein freier Mensch mehr ist. Studien der Verhaltenspsychologie zeigen, dass ein Mensch, der weiß, dass er beobachtet wird, sich anders verhält und auch irgendwann anfängt, anders zu denken, als ein Mensch, der sich unbeobachtet fühlt. … Schon die Beobachtung ist ein Eingriff, eine Manipulation dessen, der beobachtet wird. Die Demokratie setzt aber freie Bürger voraus, die sich auch freie Meinungen bilden können. Die Überwachung höhlt so unseren Rechtsstaat aus.«
»Es gibt eine große Verunsicherung darüber, was genau passiert, und ein diffuses Gefühl, dass man eh nichts dagegen unternehmen kann. Das ist ja auch genau das, was die Bundesregierung uns signalisiert. Ich glaube, es wird Jahrzehnte dauern, bis das Ausmaß der Veränderungen ins Bewusstsein der Leute wirklich einsickert. Das hat man auch bei anderen großen gesellschaftlichen, quasi revolutionären Veränderungen gesehen, dem Umweltschutz oder dem Kampf für Frauenrechte.
… Der Staat muss dafür sorgen, dass unserer Daten nicht geraubt werden.«
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Alternativlosigkeit ist ein Wort, das besser ist als unsere Kanzlerin und besser als der Gebrauch dieses Wortes, um unsere Zeit auf den Begriff zu bringen. Was heißt Alternativlosigkeit?
Die Biographien sterben aus. Heute gibt es nur noch alternativlose Biographien. Die jener Menschen, die immer schon wussten, was sie mal machen würden. Gegenbeispiel: Die Biographie von Berthold Beitz, der kürzlich gestorben ist. Sie war keine alternativlose Biographie, sondern eine mit Ecken, Wendungen und Risiko.
Was Alternativlosigkeit bedeutet? Das heutige Neo-Biedermeier, das sich eine Mutter der Nation leistet, die es stillstellt, und aus der Langeweile eine Tugend macht, und die nicht nur äußerlich an Louis-Philippe I. erinnert.
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Es gibt auch ein Kino der Alternativlosigkeit. Was das Kino nicht leistet: Alternativen zur Alternativlosigkeit zu bieten. Genau das müsste es aber tun, anstatt sich in die Gräben der Unterhaltung oder in Elfenbeintürme zurückzuziehen. Stattdessen laufen in deutschen Filmen nur noch Plot-Zombies herum, keine Figuren aus Fleisch und Blut.
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Gestern ist Marcel Reich-Ranicki gestorben. Auch wer sich nicht für Literatur interessiert, erinnert sich an seine flammende Rede zum Qualitätsverfall des Fernsehens.
»Wir müssen nur etwas tun, damit das Fernsehen das Programm ändert! Ich habe vor kurzem über einen Freund aus dem Fernsehrat bei einem unserer Intendanten interveniert und gesagt: Ich halte das Programm seines Senders für einen Skandal und für Barbarei! Er hat mir antworten lassen, knapp: ‚Fußball ist wichtiger als Literatur!‘ Ich habe ihm wiederum antworten lassen: ‚Wer heute sagt, ‚Fußball ist wichtiger als Literatur‘, wird morgen sagen ‚man soll die Bücher wieder verbrennen‘!«
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Die ARD hat jetzt nach langem Gedrängtwerden die Preise ihrer Fernseh-Produktionen veröffentlicht. Auf der Internetseite daserste.de kann man einiges nachlesen. Danach kostet eine Minute »Tatort« 15.500 Euro. 17.500 Euro pro Minute werden durchschnittlich für einen »Donna Leon«-Krimi veranschlagt. Der durchschnittliche Minutenpreis für die 90-minütigen Fernsehfilme, die unter dem Signum »Film-Mittwoch im Ersten« laufen, beträgt ebenfalls 15.500 Euro. »Für herausragende Eventproduktionen liegt ein individuell zu verhandelnder Minutenpreis zugrunde, für den kein allgemeingültiger Durchschnittswert angegeben werden kann«, heißt es weiter. Allen Preisen liegen die sogenannten Total-Buyout-Verträge zugrunde, in denen zum Beispiel Wiederholungshonorare und Auslandsrechte bereits abgegolten sind.
Als Grund für die Offenlegung nannte der Senderverbund den »häufig formulierten Wunsch nach mehr Transparenz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk«.
Das ZDF beläßt es einstweilen noch bei allgemeinen Informationen. Auf der Seite www.unternehmen.zdf.de findet man staatsvertragliche Grundlagen und Satzungen, Gremien, Gehälter der Geschäftsleitung und Finanzpläne. Demnächst sollen auch »Kosten-Größenordnungen von ZDF-Sendungen« folgen.
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Ein Lehrstück für die Medienwissenschaften ist die Berichterstattung der letzten Monate über Ägypten. Meinungsstark und neugierschwach – so erlebte man die gesammelte Mannschaft des Qualitätsjournalismus . mit wenigen Ausnahmen wie dem Ägypten-Korrespondenten des »Spiegel.«
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Was man am Beispiel Ägypten auch lernen kann: Demokratie ist relativ.
Wenn im Herbst 1933 die deutsche Wehrmacht Hitler mit Gewalt gestürzt hätte, und dabei ein paar Hundert seiner Anhänger, darunter HJ-Pimpfe, aber auch SA-Schergen getötet worden wären – würden dann heute auch die deutschen Zeitungen mit Verfassungskatalogen herumwedeln, und erklären, Hitler sei schließlich demokratisch gewählt worden? Demokratie sollte nicht zum Fetisch werden
In Ägypten ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Muslimbrüder. Die Muslimbrüder haben bereits Sadat getötet – falls man sich an den noch erinnert –, die Muslimbrüder fordern den Dschihad gegen Israel und den Westen, ihre Führer rufen zum Märtyrertod auf, aber der deutsche FDP-Außenminister verteidigt sie.
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Freiheit ist natürlich ohne Frage auch die Freiheit der Andersdenkenden, da könnte der deutsche FDP-Außenminister sich mal zum Beispiel für Edward Snowden einsetzen, oder für Julien Assange, beides keine Anti-Demokraten, die aber in den ach so hochgelobten Demokratien ihrer Freiheit nicht sicher sein können.
Freiheit ist nicht nur die Freiheit der Andersdenkenden, sondern auch die der Anti-Demokraten. Freiheit ist aber keineswegs die Freiheit der Andershandelnden.
Freiheit ist schließlich auch die Freiheit der Blöden. Deswegen werden auch diesmal wieder ein paar Prozent der Wähler mit der Zweitstimme die … wählen – siehe oben.
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»Es war nicht seine Sache, wissenschaftliche Gutachten zu liefern. Etwas anderes strebte er an, und er verwirklichte es auf eine bis dahin unbekannte Weise: Kerr machte aus der Theaterkritik ein zusätzliches Spektakel, ein geistiges Schauspiel. Dies aber konnte ihm nur gelingen, weil er, der sich vom Komödiantischen betören ließ, selber ein komödiantisches Temperament hatte.
Seine Rezensionen waren aufsehenerregende Darbietungen eines Virtuosen, eines jauchzend in seine Kunst verliebten Artisten. Es waren effektvolle Selbstpräsentationen. Wer will, mag Kerr vorwerfen, was ihm tatsächlich unzählige Male vorgeworfen wurde, zumal von jenen, die sich von ihm schlecht behandelt fühlten: haarsträubende Egozentrik und wollüstigen Selbstgenuß. Das trifft schon zu, aber es hängt untrennbar mit seiner Leistung zusammen. Denn die Egozentrik war die Voraussetzung seiner kritischen Tätigkeit und darüber hinaus seiner ganzen schriftstellerischen Existenz, die Eitelkeit der Motor seines Schreibens, der Selbstgenuß sein Stilprinzip.
Im Mittelpunkt stand immer er selber. Denn Kerr betrachtete sich als Versuchsperson, über deren Reaktion auf künstlerische Darbietungen (oder auf Städte, Landschaften, Sehenswürdigkeiten) er sein Publikum zu informieren hatte. Um es überspitzt auszudrücken: Nicht über einen Theaterabend schrieb Kerr, sondern über sein persönliches, durch diesen Theaterabend hervorgerufenes Erlebnis. Er war ein unruhiger und ungeduldiger Schreiber, der dem spontanen Antrieb folgte.«
Marcel Reich-Ranicki über sein Kritikervorbild Alfred Kerr
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.
Toller Text !