Gedanken in der Pandemie 40: Die Neuerfindung des Lebens

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Frappierend aktuell: Das „Deutsche Historische Museum“ hat jetzt der Philosophin Hannah Arendt eine große Einzelausstellung gewidmet. | Foto © Art Resource, New York, Hannah Arendt Bluecher Literary Trust

Eine Erklärung zur Arbeit, eine Erinnerung an Hannah Arendt und andere kluge Frauen: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 40.

„Was wird aus einer Zivilisation, die hinter der Bereitschaft zum Risiko nur noch Heroismus, hellen Wahnsinn oder ein abstruses Verhalten zu sehen vermag?“
Anne Dufourmantelle, Eloge du Risque

„Jeden Morgen stehen Männer und Frauen – besonders auch die Angehörige von Minderheiten, Migrantinnen und Migranten und diejenigen in der informellen Ökonomie – auf, um denjenigen unter uns Dienste zu leisten, die in Quarantäne bleiben können. […] Ohne diejenigen, die ihre Arbeitskraft investieren, gäbe es keine Produktion und keine Dienstleistungen. […] Die Rentabilitätslogik kann nicht alles entscheiden, und bestimmte Bereiche müssen vor unregulierten Marktkräften geschützt werden, während gleichzeitig jedes Individuum Zugang zu einer Arbeit, die mit der eigenen Würde vereinbar ist, haben sollte.“
democratizingwork.org

 

Sie ist eine der interessantesten Denkerinnen ihrer Generation: Lisa Herzog. Philosophin, Sozialwissenschaftlerin, Ökomomieexpertin, hat die erst 36-jährige bereits eine beachtliche Karriere gemacht, und ein paar sehr interessante Bücher geschrieben: Zum Beispiel eine Verteidigung der Freiheit und eine Rettung des Liberalismus vor manchen selbsternannten Liberalen. Ihr letztes Buch heißt „Rettung der Arbeit“ und ist nach Corona eine noch interessantere Lektüre. Denn Herzog wirft eine ambivalenten Blick auf die Digitalisierung, die für sie Chancen wie Gefahren birgt. In der Konzentration von Kapital und Macht liege die Hauptgefahr der Digital-Ökonomie, in einer Monopolbildung, für die Amazon das beste aktuelle Beispiel bildet. An all das kann man in den nächsten Monaten, in denen wir unser Leben neu erfinden müssen, anknüpfen. 

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Herzog ist auch eine der Unterzeichnerinnen eines Offenen Briefs von mittlerweile über 3000 Wissenschaftlern aus aller Welt. Der Brief fordert eine grundsätzliche Demokratisierung der Arbeit. 

„Diese Krise ist ein historischer Einschnitt, und die Frage ist: Wollen wir danach einfach zurück zu business as usual – obwohl wir ja eigentlich wissen, dass die Wirtschaftssysteme, die wir derzeit haben, viele Probleme aufweisen?“ kommentiert Herzog, die gerade am Centre for Philosophy, Politics and Economics der renommierten Universität Groningen lehrt und die deutsche Version des Briefes verfasst hat. 

Dieser kurze Text ist eine prägnante Analyse unserer ökonomischen Verhältnisse „in der Nussschale.“ Er lohnt unbedingt die Lektüre.

„Arbeitende Menschen sind sehr viel mehr als bloße ,Ressourcen’. Dies ist eine der zentralen Lehren aus der gegenwärtigen Krise.“ heißt es da. Arbeit könne nicht auf eine bloße Ware reduziert werden. 

Ein Szenario, in dem Menschen auf ihre Nützlichkeit reduziert würden, lasse sich vermeiden; durch die Beteiligung an Entscheidungen, die das Leben und die Zukunft am Arbeitsplatz betreffen, und durch Demokratisierung der Unternehmen. 

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Was sind die Konsequenzen, die wir aus der Krise ziehen müssen? „Wir sollten jetzt nicht mit der gleichen Naivität wie 2008 vorgehen, als wir auf die Wirtschaftskrise mit einer Rettungsaktion ohne Auflagen reagierten, die die Staatsverschuldung in die Höhe trieb, ohne eine Gegenleistung zu verlangen. Wenn unsere Regierungen in der gegenwärtigen Krise eingreifen, um Unternehmen zu retten, dann müssen auch Unternehmen in die Pflicht genommen werden, die allgemeinen Grundbedingungen der Demokratie erfüllen. 

Unsere Regierungen müssen ihre Hilfe für Unternehmen von bestimmten Änderungen in deren Strategien abhängig machen – im Namen der demokratischen Gesellschaften, denen die Regierungen dienen und durch die sie konstituiert werden, und im Namen ihrer Verantwortung, unser Überleben auf diesem Planeten zu sichern.“

Neben der „Einhaltung strenger Umweltnormen“ fordern die Unterzeichner auch die Erfüllung von „Bedingungen demokratischer Governance“. 

„Machen wir uns nichts mehr vor: Die meisten Kapitalanlegerinnen und -anleger werden sich, wenn sie sich selbst überlassen sind, weder um die Würde der Beschäftigten kümmern, noch werden sie den Kampf gegen die ökologische Katastrophe führen. Es gibt eine Alternative: Demokratisieren wir die Unternehmen, dekommodifizieren wir die Arbeit, hören wir auf, Menschen als Ressourcen zu behandeln – damit wir uns gemeinsam um die Erhaltung des Lebens auf diesem Planeten kümmern können.“

Die Unterzeichner fordern eine Rückeroberung der Wirtschaft durch den Staat nach der Corona-Krise, also öffentliche Aufträge, mehr Mitbestimmung und nachhaltige Gestaltung von Wirtschaft und Arbeitswelt. 

Herzog glaubt auch, dass aufgrund ihrer Sozialisation Frauen eine etwas andere Sicht auf die Wirtschaftswelt hätten, „oft eine sehr viel kritischere.“

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In Ergänzung meines gestrigen Hinweises auf die Amazon-Doku bei Arte und passend zu Herzogs Arbeits-Buch, hier noch der Hinweis auf den Blog von Katharina Nocun, der ehemaligen Geschäftsführerin des deutschen Ablegers der Piratenpartei (die in Ländern wie Island immerhin regiert), und gerade auf dem Sprungbrett zur Bestseller-Autorin – mit einem Buch über Verschwörungstheorien, das zur Hygiedemo passt wie Faust aufs Auge. Kattasha berichtet hier als Datenschutz-interessierte über ihre persönlichen Erfahrungen mit Amazon.

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Ein geradezu unglaubliches Erlebnis, vor allem für mich als Ungläubigen, bot heute morgen der Deutschlandfunk. In der Mittwochs-Höreranruf-Sendung ging es zur Abwechslung mal um Katholizismus. Genau gesagt um die Reformbewegung „Maria 2.0“, die sich für Frauenrechte in der katholischen Kirche einsetzt. Vier katholische Frauen waren zu Gast und diskutierten. Auch bei den Anruferinnen konnte man erleben, dass die reaktionärsten Stimmen von jungen Frauen kamen, weniger verhakte Ansichten von Älteren. Da konnte man Menschen hören, die zur Lösung von Problemen ernsthaft empfahlen, alle Deutschen sollten doch gemeinsam den Rosenkranz beten. 

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In Berlin ist im „Deutschen Historische Museum“ jetzt eine große Einzelausstellung der Philosophin Hannah Arendt gewidmet. (Deutsches Historisches Museum, bis 18. Oktober, täglich 10 bis 18 Uhr, zum Teil bis 20 Uhr. Besuch nur mit Voranmeldung online.

Dazu der Katalog: Dorlis Blume, Monika Boll, Raphael Gross (Hrsg.): „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“; München 2020)

Heute ist sogar ein ICE nach ihr benannt. Ihr berühmtes Fernsehgespräch von 1964 mit Günther Gaus ist ein Renner auf YouTube. Zur Zeit ist sie also fast schon modisch. Jedes Jahr erscheinen neue Bücher über sie, gerade auch junge Leute, ob die engagierten Schüler der „FridaysForFuture“ oder feministisch bewegte Studenten berufen sich auf sie. Doch zu Lebzeiten war Hannah Arendt in der Bundesrepublik die am meisten ignorierte politische Theoretikerin.

Wer war diese Hannah Arendt? Was macht sie so interessant?

Die politische Philosophin Hannah Arendt, 1906 in Hannover als Kind jüdischer Eltern geboren, 1975 in New York als Amerikanerin gestorben. Dazwischen lag ein abenteuerliches, wechselhaftes Leben, Verfolgung und Vertreibung, und ein denkerisches Werk, das ebenso von

intellektueller Brillanz wie von eigenen Erlebnissen geprägt ist, von einer Zeitzeugenschaft, die den Zivilisationsbrüchen des Jahrhunderts immer mutig ins Auge sehen wollte. 

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Hannah Arendt provozierte, sie wusste das, sie wollte es mitunter, aber sie erzwang es nicht um jeden Preis, nahm Provokationen und Verletzungen eher in Kauf als den notwendigen Preis eines kompromisslosen Denkens, und eines Daseins als öffentliche Intellektuelle, die sich wie ihre existenzphilosophischen Vorbilder Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre engagieren und einmischen wollte, mutig und riskant Position beziehen, „Denken ohne Geländer“, wie ihre berühmte Selbstbeschreibung lautet. 

Das schon mal konnte man von ihr lernen. 

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Blitzartig wurde die gerade 40-jährige Emigrantin um 1950 der ganz jungen Bundesrepublik bekannt, mit zwei komplett unterschiedlichen Texten: „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ erschienen zuerst in Amerika, dann in einer selbstgefertigten, an einigen Stellen markant abweichenden Übersetzung, auf Deutsch. Vielen gilt dies bis heute als Arendts wichtigstes Werk: Eine historische zugleich philosophische Studie, die das Trauma des Nationalsozialismus dadurch geistig verarbeitet, dass sie den Bogen über Antisemitismus, Rassismus und Imperialismus bis hin zur „Totalen Herrschaft“ schlägt, zu Propaganda, Unterwerfung und Ichverlust als deren Bedingungen: Das einzige Gegenmittel: „Nicht mitmachen, selber urteilen. Dazu gehört, dass man nicht Wir sagt, sondern dass man Ich sagt.“ Arendt entwickelt hier bis heute gültige Kategorien der Politikwissenschaft, allen voran eine Totalitarismustheorie, die Sowjetunion und Nationalsozialismus gleichzusetzen schien. Das machte sie bei vielen Linken verdächtig.

Kurz davor war ein kurzer knapper Essay mit dem Titel „Besuch in Deutschland“ erschienen, die Frucht einer Reise in das Land, aus dem sie 1933 vertrieben wurde. Zuvor hatte sie in Marburg, Freiburg und Heidelberg studiert, mit dem „fundamentalonologischen“ Starphilosophen Martin Heidegger eine heftige Liebesaffaire begonnen, bei Karl Jaspers promoviert, den Kommilitionen (und Philosophen) Günter Anders geheiratet, mit dem sie ins Pariser Exil floh. Dort machte sie mit ersten Texten zur Existenzphilosophie, zum Antisemitismus und zur „Flüchtlingsfrage“ Furore. 1941 gelang mit ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher über Lissabon die Flucht in die USA. 

Die erste Reise nach Deutschland bedeutete das Wiedersehen mit Jaspers, mit dem sie zeitlebens eng befreundet blieb, und Heidegger, der ihr Vorbild als Denker war, den sie zugleich für seine anhaltenden Faschismus-Sympathien und seine fehlende Selbstkritik verachtete. Dies ist der Hintergrund des „Besuch in Deutschland“ in dem sie hart und stellenweise mit sarkastischem Witz mit ihren einstigen Landsleuten ins Gericht geht: „Die Geschäftigkeit der Deutschen ist ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden.“ beschreibt Arendt, fassungslos über das, was sie als Verdrängung und Realitätsverleugung beobachtet: „Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen als handele es sich um bloße Meinungen. […] Dies ist ein ernstes Problem, vor allem, weil der Durchschnittsdeutsche ganz ernsthaft glaubt, […] dieser nihilistische Relativismus gegenüber Tatsachen sei das Wesen der Demokratie.“ Der Text wurde viel gelobt, unter anderem von Thomas Mann, aber er begründete eine Distanz gegenüber Arendt. 

Ihre berühmte Reportage über den Eichmann-Prozess machte es nicht besser. Als Arendts „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ erschien, löste er eine heftige Kontroversen aus – einen Streit, der nicht allein Arendts weiteres Leben, wie ihr Werk als Philosophin deutlich beeinflusste, sondern auch den Blick auf den Nationalsozialismus. Arendt wurde berühmt. Aber ihre brillanten Überlegungen fügten sich zu wenig in die von Schwarzweiß-Denken dominierten politischen Diskurse des Kalten Kriegs, ähnlich wie ihre pathetische Feier der Revolution oder ihre Unterscheidung von Macht und Gewalt 

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Erst jetzt, 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, entfaltet das Werk von Hannah Arendt das man früher gern für altmodisch oder konservativ hielt, eine frappierende Aktualität. 

Die Berliner Ausstellung schlägt facettenreich und nachvollziehbar Schneisen durch Arendts Leben und Denken. Manchmal etwas kleinteilig wird vor allem betont, wie sie in ihrem unzeitgemäßen Interesse an Grautönen ihrer Zeit voraus war. Nur bei den Moden der Gegenwart werden die Macher blind: Denn so gesucht es wirkt, wenn Arendt im Kapitel „Der Stil Hannah Arendts“ mit ausgestellter Kette, Pelzmantel und Minox-Kamera zum Glamourgirl mutieren soll, so albern ist es, eine Philosophin, die das Private vom Politischen strikt trennte, die Frauenbewegung der 70er kritisierte, und alle „Identitätspolitik“ sehr zu Recht aufs Blut bekämpfte, rückwirkend zur Feministin zu erklären. 

Vielmehr saß Hannah Arendt gern zwischen allen Stühlen: Der Linken zu antikommunistisch, der Rechten zu unhöflich, vielen Juden zu israelkritisch, den Wiederaufbaudeutschen nicht nachsichtig genug, den Frauen zu männlich, den Männern als denkende Frau suspekt. 

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Woher kommt ihre frappierende Aktualität? Es gibt vier Hauptgründe: 

# Hannah Arendts Kategorien funktionieren als ein Immunsystem. Ihr konsequentes Festhalten am Gedanken der Freiheit funktioniert als Widerhaken gegen alle Vereinnahmungen durch die herrschenden politischen Verhältnisse. Als Denkerin der Freiheit ist Arendt eine eigensinnige Denkerin. Ihr „leidenschaftliches Denken“ ist voller innerer Widersprüche, Inkonsistenz und Individualität. Es lässt sich keiner akademischen Schule oder politischen Richtung eindeutig zuordnen. 

# Hannah Arendt kann auch vor den dümmsten Dummheiten des Linksradikalismus schützen. „Hannah Arendt verkörpert als politische Denkerin alles, was deutsche Linke nicht hören wollten und wollen“, schrieb schon vor 25 Jahren Daniel Cohn-Bendit. Sie benannte die Verbrechen des Stalinismus. Sie kritisierte und widerlegte Fetische des Marxismus wie das Lieblingstheorem der Zentralität der Arbeit oder der Abschaffung des Staates. 

# Arendt stellt begriffliche Instrumente zur Verfügung, die es erlauben, die Gegenwart anders zu begreifen, als in gewöhnten politischen Theorien. Etwa Arendts Machtbegriff. Macht und die Begründung republikanischer, freiheitlicher Institutionen, gehören in ihrem Verständnis eng zusammen. Macht ist öffentliches, kommunikatives Handeln und damit der Gegensatz von stummer, unkommunikativer Gewalt. Machtausübung verlangt Reflexion. In der Bürokratie verschwindet Macht, in der Revolution und öffentlichen Volksversammlungen wird sie wiedergeboren. 

Die Macht der Republik ist auch das Gegenteil des Prinzips des Nationalstaats. Arendt war ihr jede Form von Identitätspolitik suspekt. Eine Nation kann eine von Bürgern sein, nicht eine der ethnischen Homogenisierung. 

Daher gehört zu Arendts Denkarsenal auch die Skepsis. Die Skepsis vor der Idee der „reinen“ Demokratie. Denn nur dort ist Totalitarismus möglich. In den Gemütern der Volksgemeinschaft herrscht das Willensprinzip und die Wut, es ist dort kein Platz für Reflexion, für „politische Urteilskraft“. 

Am Ende ihres Lebens hat Arendt an einer Theorie des Urteilens gearbeitet, die auf Kants „Kritik der Urteilskraft“ beruht. Urteilen ist nach Arendt das Gegenteil des Meinen, Urteilen ist „Verallgemeinerung“ und Anerkennung des Anderen, des Neuen, des Heterogenen.

# Schließlich sind Arendts Kategorien auch über 40 Jahre nach ihrem Tod zeitgemäß. Das liegt zum einen daran, dass Arendt immer wieder über politische Umbrüche und Neuanfänge reflektiert. „Immer wenn es Momente der Unsicherheit, der Krisen und Brüche gibt, dann ist Arendt ganz gut dafür geeignet, solche Momente zu reflektieren“, sagt die Wissenschaftlerin Stefania Maffeis (Stefania Maffeis: „Transnationale Philosophie. Hannah Arendt und die Zirkulation des Politischen“; Campus Verlag, 542 Seiten, 39,95 Euro). Ihre Studie über die Ursprünge des Totalitarismus, wurde nach Donald Trumps Wahl plötzlich in den USA enorm populär. Das ist kein Zufall. Viele Leute hatten den Eindruck: Wir müssen nochmal anfangen zu denken, wie es überhaupt geschehen kann, dass Demokratien in totalitäre Systeme umkippen. Und das hat Hannah Arendt so präzise durchdacht wie niemand außer ihr.

Auch Der Unterschied zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre ist zentral für Arendts Werk. Sie schrieb „Historisch ist es sehr wahrscheinlich, daß das Entstehen des Stadt-Staates und des öffentlichen Bereichs auf Kosten der Macht und der Bedeutung des Privaten, der Familie und des Haushalts, stattgefunden hatte.“ Arendt hat diesen Unterschied von Aristoteles abgeleitet. Für Arendt kann das Private niemals politische Ansprüche erheben. Für die Gegenwart ist diese Unterscheidung zentral: Die Durchlässigkeit zwischen Innen und Außen ist im Zeitalter der totalen Mobilmachung der Medien immer stärker geworden. Das Private, das mal das der Öffentlichkeit Entzogene und Abgesonderte war, das Nicht-Politische, hat immer mehr Macht, und schränkt den dezidiert politischen Raum ein. Im Politischen nimmt Nicht-Politisches Platz ein: Die Eigeninteressen der Wutbürger, die Gefühle der neuen Sentimentalität. Aber auch der neuen Rassisten und Identätisten: Weil die alten weißen Männer in den Republiken des Westens ihre Partikularität – Weiß, Männlich, Heterosexuell – ins Zentrum stellen und zur Norm erheben, verschwindet das universalistische Norm- und Politikverständnis der liberalen Moderne mit der Möglichkeit gleichberechtigter politischer Beteiligung für alle, die alles Partikulare gezielt ausklammert. Stattdessen geht es in den demokratischen Gesellschaften plötzlich um Privilegien, die an Identitätsvorstellungen und körperliche Besonderheiten geknüpft sind: Geschlecht, Hautfarbe, Ethnie, Religion. Tatsächlich wurden derartige Differenzen werden vom Universalismus der europäischen Republiken bewusst und permanent unterdrückt. Und zwar geplant und per definitionem. Aber eben auch die Differenzen der Mehrheit (Weiß, Männlich, Heterosexuell). 

Warum das so ist, hat die kürzlich verstorbene ungarische Philosophin Agnes Heller so ausgedrückt: „Alle Rassen und beide Geschlechter haben ihre eigene Wahrheit; und je mächtiger ihre Lobbys sind, desto nachdrücklicher versuchen sie, ihre Wahrheiten als unbestreitbar und absolut zu proklamieren.‘

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Genau dies, das Proklamieren und Verabsolutieren jeweils eigener, an selbstdefinierte Identität gekoppelte „Wahrheiten“ geschieht in den modischen „Gender-Studies“, „Cultural-Studies“, und „Identity-Politics“. An den Universitäten werden neue „Wahrheiten“ produziert, die vermeintlich auf wissenschaftlich zwingenden Fakten beruhen, tatsächlich aber vor allem zur Legitimation der Ziele biopolitischer Lobbys dienen. 

Gegen diese Art von Totalitarismus wendet sich Arendt. 

Der Autorin Maike Weißpflug zufolge, die soeben eine neue Deutung von Hannah Arendts Werk veröffentlicht hat (Maike Weißpflug: „Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken“; Matthes & Seitz, Berlin 2019. 320 Seiten, 25 Euro), ist das Besondere an Hannah Arendt ihr Denkstil. Arendt begreift politisches Denken als Kunst. Quellen sind nicht allein Platon, Machiavelli und Hegel, sondern Hermann Melville, Joseph Conrad und Franz Kafka. 

Und das wichtigste im Politischen sind nicht Ansichten oder Meinungen, sondern Haltung. Dazu gehört es, fremde Perspektiven einzunehmen, ohne sie zu rechtfertigen.

Politik bedeutet für Arendt: Ein gemeinsamer Handlungsraum. Dieser sei, so Maike Weißpflug, „politisch gesprochen, das öffentlich Wahrgenommene, das Geteilte, das erst erscheint, wenn es artikuliert wird, wenn darum gekämpft wird, es zu artikulieren, also allgemein gesagt: das, was umstritten ist.“