Gedanken in der Pandemie 07: Schau heimwärts, Engel

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In der Virus-Krise sucht Schweden einen sehr eigenen Weg. Szenenfoto aus Ingmar Bergmans „Fanny und Alexander“ (1982) | Foto © Tobis

Abgerechnet wird zum Schluss: Die agile Hauptrisikogruppe, das schwedische Modell, und ein Krisenstab im Sender: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 07. 

„Es ist besser, im Stehen zu sterben, als auf den Knien zu leben.“
Alexander Lukaschenko, Staatschef von Weißrussland

 

In Krisenzeiten kümmern sich Chefs und Auftraggeber in sehr unterschiedlicher Weise um ihre Mitarbeiter. Im Medienfeld finde ich gerade den WDR vorbildlich. Vielleicht durch leidige Erfahrungen mit motorradfahrenden Omas und dem schwachen Umgang mit hausinternen, anonymen #MeToo-Beschuldigungen schlauer geworden, bekommen Mitarbeiter fast täglich eine umfangreiche Informationsmail mit einem Update vom eigens eingerichteten Krisenstab. 

Sechs positiv getestete Kollegen seien in Quarantäne, erfährt man da, bekommt Hinweise für Ausfallhonorare und anteilige Bezahlung bei Projekten, die nicht fertiggestellt werden können. Freie Mitarbeiter können bei der Personalabteilung ein Darlehen beantragen. 

Außerdem wird gebeten „da wir alle die WDR Server schonen sollten“, keine Videokonferenzen abzuhalten, da diese zu viel Datenmenge brauchen. Stattdessen rät der Krisenstab zur Audiokonferenz per Skype oder Festnetz und Handy. 

„Durch manche Nebenwirkungen der Krise erleben wir gerade einen ,Kulturwandel express’ auf allen Ebenen: Umgang miteinander, digitale Ausstattung, moderne Arbeitsweisen, Rücksichtnahme und Solidarität – das finden wir gut und setzen darauf, dass wir das dauerhaft in die Zeit nach Corona mitnehmen können … Wir haben im Krisenstab den Eindruck: Was agiles und selbstverantwortliches Arbeiten angeht, machen wir gerade einen Riesenschritt nach vorne.“

Ob man das alles wirklich so ausführlich schreiben und täglich updaten muss wie hier, darüber lässt sich diskutieren. Von anderen Radiosendern, bei denen ich als Freier arbeite, habe ich aber dagegen noch gar nichts gehört. 

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In der WDR-Mail philosophiert Betriebsarzt Dr. Michael Neuber allerdings auch über die weiter steigende Zahl der „normalen“ Grippe. Eigentlich müsste die Grippe-Saison längst vorbei sein, aber die neuesten Zahlen zeigten, dass die Aktivität der saisonalen Grippe ungewöhnlich hoch und die Saison ungewöhnlich lang. Und dies ist  nun besonders bemerkenswert, weil hier wieder das Phänomen auftritt, das uns gerade viel zu oft begegnet: Der eine sagt dies, der andere das Gegenteil.

Neuber behauptet, die Symptome der Corona-Erkrankung, und der saisonalen Grippe oder einer normalen Erkältung würden sich kaum unterscheiden. Und weiter sagt er, dass man sich gegen die saisonale Grippe jetzt nicht mehr impfen lassen könne, „es ist schlichtweg kein Impfstoff mehr da – das gilt nicht nur für die Betriebsarztpraxis, sondern für alle Hausarztpraxen.“

Genau das Gegenteil von beidem konnte man heute im Deutschlandfunk in der Sendung „Sprechstunde“ hören. Dort hieß es, zumindest für ältere Bürger sei eine Impfung selbst im April noch sinnvoll. 

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In Deutschland starben 954.874 Menschen im Jahr 2018. Geteilt durch 365 Tage im Jahr bedeutet dies, das im statistischen Mittel pro Tag rund 2.616 Menschen starben. An verschiedenen Atemwegserkrankungen (Grippe, Asthma, Bronchitis) starben im Jahr 2017 52.991 Menschen; das ergibt täglich im Schnitt gut 145 Tode. 

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Unfehlbar sind nur Engel. Der Satz geht auf eine Bemerkung vom Phiklosophen Kant zurück, die natürgemäß etwas komplizierter formuliert ist. Dies ist aber jetzt auch der Titel des Aufmachertextes im „Philosophie Magazin“, das einige sehr lesenswerte Texte zu unseren Corona-Zuständen ins Netz gestellt hat. 

Darin kritisiert die Philosophin Susanne Schmetkamp all die selbsternannten Sozialpolizisten und Neo-Blockwarte, die seit Verhängung des Ausnahmezustands strenger als die Polizei über den Seuchen-Gehorsam der Bürger wachen – nicht wenige davon aus der „Hauptrisikogruppe“, wie wir sie jetzt mal nennen wollen. Anstatt zuhause zu bleiben, scheinen sich manche an ferne Jugendzeiten zu erinnern, und allemal zu freuen, dass es endlich einen Grund gibt, andere Menschen bei der Polizei zu melden. In Bayern wird man dafür auch vom Haussender öffentlich gelobt, die Polizei selbst, die mit diesem Typ Mensch auch sonst zu tun hat, ist reservierter und bittet darum wenigstens die Nummer 110 zu blockieren, die für die wirklich wichtigen Dinge reserviert ist. 

Wenn Angela Merkel statt an Solidarität an Selbstdisziplin appelliert habe, habe sie Selbstverantwortung gefordert. „In den Sozialen Medien breitet sich seit einiger Zeit aber gleichzeitig ein scharfer Ton der Disziplinierung aus – und das ist etwas anderes, nämlich: soziale Ächtung“, schreibt Schmetkamp, die in Siegen lehrt und ein Buch über Theorien der Empathie geschrieben hat. 

„Das empörte Gebrüll hinter den Hashtags #StayAtHome oder StayTheFuckHome hört man buchstäblich im virtuellen Raum erschallen. Vorgebracht werden hier nicht nur rationale und demokratische Argumente pro verantwortliches Verhalten, sondern ein starker Moralismus oder, wie es Sascha Lobo ausgedrückt hat: Eine ,Vernunftpanik’. Moralismus ist etwas, das moralisch übertreibt, Macht einsetzt, sich überlegen fühlt, mit sozialer Sanktionierung droht – und vor allem den anderen gar nicht mehr als Vernunftwesen oder Akteur anerkennt, sondern als bloßen zu bändigenden, bedrohlichen (Fremd)-Körper. Bei vielen der Vernünftler fehlt es an der Bereitschaft zum Perspektivenwechsel und zur Selbstreflexion. Die Moralistin weiß, was zu tun ist, und rügt jene, die es in ihren Augen ,noch nicht kapiert haben’. Ungeachtet der Dringlichkeit und Notwendigkeit von Appellen … entsteht eine Dichotomie zwischen ,wir’ (die zuhause bleiben) und ,denen’ (die völlig unverantwortlich ,Partys feiern’). Das Fatale daran ist, dass nicht differenziert wird, sondern alle als ,Idioten’ über einen Kamm geschert werden. Es geht aber weniger darum, wer recht hat, sondern um die Einstellung: Als welche Art Mensch möchten wir uns verstehen?“ so Schmetkamp weiter. Das „digitale bashing“ sei aber „ebenso respektlos“. 

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Ich glaube btw, dass „Corona Partys“ von Anfang an vor allem ein Medienmythos sind. Nicht jedes Mal, wenn drei Leute zusammen vor dem Späti mit Bier anstoßen, oder wenn sich vier 15-Jährige zum Skaten verabreden, ist dies schon eine Corona-Party. 

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Der von Schmetkamp angesprochene Text von Sascha Lobo ist auch unabhängig davon der Betrachtung wert. Letzte Woche schon ging er viral, plötzlich saß Lobo bei „Markus Lanz“, und musste erklären, was an einem Ausnahmezustand schlecht sein könnte. Wer ihn trotzdem verpasst hat, kann ihn hier nachlesen. 

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Macht Schweden eigentlich gerade alles falsch? Das ist die 100-Millionen-Dollar-Frage. Denn mitten in der Pandemie gibt es zur Zeit jenseits der Alternativlosigkeit des Ausnahmezustands genau drei Sonderwege: Zum einen Weißrussland, wo die einzige noch aktive Fußballliga der Welt veranstaltet wird, (und lukrative Fernsehverträge mit darbenden Sportsendern einbringt); wo Corona als Psychose gilt; und wo der Staatspräsident Wodka und Sauna als Mittel gegen das Virus empfiehlt. Wäre doch schön, wenn sich das als erfolgreich herausstellt. Trotzdem halten den weißrussischen Weg so ziemlich alle Experten für Irrsinn, für die Seuchenforscher der Welt ist Weißrussland aber ein wunderbares Labor, um abzugleichen, was passiert, wenn man gegen Corona gar nichts tut. 

Anders liegt der Fall bei Südkorea. Die haben nur 3 Tote pro eine Million Menschen, das ist statistisch ein absoluter Spitzenwert. Nur China (2 Tote) liegt besser, und – Vorsicht! – Polen (0,8). Die dortigen Anti-Corona Maßnahmen werden allerorten als Vorbild genannt, allen voran von Gesundheitsminister Jens Spahn. Nur die Datenschützer sind nicht richtig happy – denn die Südkoreaner haben mit Massentests, Handy-Tracking und Isolierung Erkrankter die Epidemie zum Stillstand gebracht. Vor allem die letzten beiden Dinge will man bei uns angeblich nicht. Zugleich ist umfassendes Handy-Tracking der feuchte Traum aller Kontrollbesessen, die eine Total-Überwachung der Bevölkerung als Sicherheit verkaufen wollen. Aber im Zweifelsfall wird genau dies in den nächsten Wochen kommen, jetzt wo sogar der Best-Boy der Seuche, Christian Drosten gemeint hat, das wär’s überhaupt. 

Was gegen den südkoreanischen Weg angeführt wird, ist zweierlei: Erstens seien die Länder nicht vergleichbar, denn die Altersstruktur sei völlig anders. In Korea gäbe es weniger Alte, nur deshalb weniger Tote. Das Argument scheint nur halb überzeugend, denn es unterstützt ja all jene, die Ausgangsbeschränkungen und Massenschließungen der Geschäfte für übertrieben halten. Das zweite Argument: Die verflachte Infektionskurve werde in Korea bald wieder ansteigen, sobald die Kontrollen nachlassen.

Da können die Schweden einstweilen nur lachen. Denn der schwedische Weg ist die eigentliche Provokation der europäischen Seuchenpolitik. 

Wie die Schweden auch sonst sind – cool bleiben, Verstand anschalten – haben sie zwar Massenveranstaltungen über 500 Menschen verboten, und Hinweise für Abstandshaltung veröffentlicht, zugleich aber das öffentliche Leben nicht lahmgelegt. Ansonsten gibt es keine Vorschriften, sondern Vernunftappelle. Nach dem Motto: Vertrauen statt Verbote. Hier kann man mehr über den schwedischen Weg erfahren, entweder gewürzt mit typisch  deutscher Bedenkenträgerei oder mit typisch britischer Neugier oder ein bisschen fassungslos mit Erklärungsversuchen, oder von den Schweden und von der von der schwedischen Regierung selbst. 

Wer das verurteilen will, sollte vorsichtig sein. Er könnte eine Chance verpassen. Denn es gibt auch hier keine einfachen Wahrheiten. Es ist zwar klar, dass die Zahl der Infizierten und Toten in Schweden noch stark zunehmen wird. Aber das wird sie auch bei uns. Entscheidend ist, wie und wann die Kurven stark abflachen.

Abgerechnet wird zum Schluss. 

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