Dokfest München: Nur das Kino kann, was das Kino kann
Morgen beginnt das Dokfest München. Ein Filmfestival online – geht das überhaupt? Auf jeden Fall wird es neue Erkenntnisse und Fragen bringen, meint der Festivalleiter Daniel Sponsel.
Das Dokfest München hat in den vergangenen Jahren einen enormen Zuwachs an Publikum zu verzeichnen, der weit über das übliche Potential der regulären Auswertung von Dokumentarfilmen im Kino hinausgeht. Dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits bietet das Dokfest alle Attraktivitäten einer solchen Veranstaltung, ein sorgfältig kuratiertes und exklusives Filmprogramm: Reihen, Wettbewerbe und Preise, begleitet von Filmgesprächen mit Gästen aus der ganzen Welt. Anderseits gelingt es dem Festival, diverse spezifische Zielgruppen mit hohem Einsatz und individueller Ansprache für sich zu gewinnen. Das Dokfest München 2020 kann aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus in diesem Jahr nicht regulär an den vertrauten Spielorten stattfinden und wagt den Schritt ins Netz mit einer Online-Edition. Wesentlich sind die Fragen nach der Bedeutung und dem Erfolg dieses Projekts und die Erkenntnisse die sich im Falle eines Erfolges oder eines Misserfolges daraus für die Branche gewinnen lassen.
Wer schon einmal mit uns die Eröffnung des Dokfest München im Deutschen Theater erlebt hat, ist um ein Filmerlebnis reicher und weiß um die pure Energie, die entsteht wenn 1.500 Menschen gemeinsam emotionale Momente teilen, lachen oder berührt sind. Der Dokumentarfilm beweist in diesem Saal Jahr für Jahr, dass er gleichermaßen verbriefte Wirklichkeit und ein Kinoerlebnis ist. Aktuell wäre leider keinem Kino geholfen, wenn das Dokfest einfach ausfallen würde. Die Online-Edition des Festivals ist kein Statement gegen die Filmkunst im Kino, sondern ein Lebenszeichen für diese außergewöhnlichen Dokumentarfilme überhaupt, die jenseits des Festivals nirgendwo zu sehen sein würden.
Das Neue ist scheinbar der Tod des Bestehenden. So lässt sich die Entwicklung unserer Kulturtechniken aus emotionaler Sicht beschreiben. Wobei die Betonung auf scheinbar liegen muss: Bisher wurde keine Kulturtechnik oder gar Kulturgattung durch ihre Weiterentwicklung zu Grabe getragen. Und noch nie konnte eine funktionierende und wirkmächtige neue Kulturtechnik verhindert werden, weil die bestehende doch so gut war. Bisher haben sich die Produzent*innen von Kultur und die Künstler*innen immer dieser neuen Technik frühzeitig bemächtigt, sie in ihrem Sinne genutzt und in jeder Form weiterentwickelt. Konkret formuliert: Wir werden keine Menschen zurück in die Kinos bekommen, wenn wir glauben, wir könnten ihnen die Art und Weise, wie sie Filme zu sehen haben, vorschreiben. Der Markt ist zu groß und zu liberal, um ihn regulieren zu können.
Aktuell reagieren zahlreiche Kulturanbieter im Netz auf die Beschränkungen durch die Corona-Krise mit gut gemeinten Angeboten – selbstverständlich kostenfrei. Ein grundsätzlich fragwürdiges Signal, auch oder gerade in dieser Zeit. Nach der Aufhebung der Beschränkung wird Filmkultur weiterhin im Netz zu sehen sein, wie auch schon die Jahre zuvor. Auf diese Weise forcieren wir weiter den eigentlichen Geburtsfehler des Netzes: die scheinbar urheberlose und kostenfreie Welt des digitalen Contents. Auch in seiner Online-Edition sind die Filme des Dokfests nur mit einem Ticket oder dem Festivalpass zu sehen. Darüber hinaus gibt es das Extraticket mit einem Solidarbeitrag für unsere Partnerkinos. Alle Preise sind niedriger angesetzt als der reguläre Zugang zum Kino, aber deutlich höher als die Angebote der Mitbewerber aus dem Silicon Valley. Die Filmkünstler*innen, die mit hohem individuellem Einsatz diese Werke erschaffen, stehen am Ende einer fragilen Verwertungskette. Filmkunst hat ihren Preis, auch online, und es gibt genügend Besucherinnen und Besucher, die das genauso sehen.
Ein Festival-Feeling entsteht durch die Begegnung von vielen Menschen in einem Kinosaal mit den Filmen auf der großen Leinwand und durch die Gespräche mit den Macher*innen im Anschluss an die Vorführungen. Beides kann das Dokfest in seiner Online-Edition nicht bieten. Bieten können wir allerdings die Filme an sich und haben jetzt schon die positive Erfahrung gemacht, dass die Mehrzahl der Rechteinhaber*innen mit ihren Filmen gerne dabei geblieben und neugierig sind auf das, was eine Online-Edition unseres Festivals für die Präsentation ihrer Filme bedeutet. Es gibt auch in der Online-Edition die Reihen und Wettbewerbe, analog zum Festival, wie es schon komplett geplant war. Darüber hinaus wird es Filmgespräche geben, die wir so vor Ort bisher nie führen konnten. In Videokonferenzen sprechen unsere Moderator*innen jetzt nicht nur mit den Macher*innen, wir holen Teammitglieder dazu und die Protagonist*innen – beinahe emissionsfrei, inklusiver und nachhaltig, in jedem Sinne.
Eine paradoxe Situation: Angenommen, die Online-Edition des Dokfest München wird keine Erfolgsgeschichte – was wären die Erkenntnisse? Würde das beweisen, dass Festival-Filmkultur nur vor Ort und in den Kinos funktioniert? Oder wäre es ein Beleg dafür, dass Dokumentarfilme auch online keinen leichten Stand haben? Und wenn die Online-Edition eine Erfolgsgeschichte wird? Wäre damit der Beweis erbracht, dass mit genügender Reichweite und überzeugender Kommunikation der Dokumentarfilm auch online reüssieren kann? Denken Sie kurz nach – was wünschen Sie sich?
Wir müssen davon ausgehen, dass wir als gesamte Gesellschaft nach dieser Krise nicht wieder in den Ausgangsmodus zurückkehren können. Dazu ist diese Krise zu substanziell, dafür sind die Bedürfnisse in unserer Wohlstandsgesellschaft zu ausgeprägt. Das beginnt mit unserem Körperkontakt bei Begrüßungen, das gilt für die Reisefreiheit, für Konsum allgemein, für Großveranstaltungen insbesondere und sicher auch für das Kino. Das Kino muss in näherer Zukunft eine Koexistenz mit dem Netz nicht nur aushalten können, sondern fordern. Nur das Kino kann, was das Kino kann, es muss mit seinen unersetzlichen Qualitäten arbeiten.
Inspiriert durch einen wunderbaren Text des Intendanten Jochen Schölch über das Theater: Der Dokumentarfilm zelebriert das Leben in seinen Widersprüchen und seiner Zerrissenheit. Er erzählt uns Geschichten über die Menschlichkeit und die Fehlbarkeit derselben, über alles, was uns als Menschen ausmacht. Dokumentarfilme sind vor allem lebendige Orte der Erinnerung: Alles, was auf der Leinwand ganz Gegenwart zu sein scheint, ist in Wirklichkeit auch schon wieder vergangen und entlässt uns in eine ungewisse Zukunft.
Auf die Frage, wie es mit dem Dokumentarfilm weitergehen könnte, hat Werner Herzog in einem Interview schon im Jahr 1997 angemerkt: „Ganz egal, über welche Kanäle wir die Menschen in Zukunft mit unseren Filmen erreichen, es wird immer darum gehen, ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind.“
Was treibt uns an und um, was ist unsere Idee und Motivation, mit dem Dokfest München eine Online-Edition zu wagen: Vielleicht schauen Sie in diesem Jahr unsere Filme tatsächlich allein zuhause, aber Sie teilen die Ideen und Ideale der Macher*innen und der Menschen vor der Kamera, die ihre Geschichte nur für Sie erzählen.
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