Kann mal jemand an die Zukunft denken?
Wird es bald Obergrenzen für Filme geben? Ein deutsches Protektorat? Einige der einflussreichsten Förderbürokraten Deutschlands haben sich was Neues ausgedacht, und es klingt seltsam bekannt. Die Verantwortlichen der Filmförderungsanstalt, kurz FFA, wollen die „Flut“ an Filmen eindämmen, die über die Kinos hereinbricht. Und sie glauben, dass man angesichts zu vieler günstiger Filme mit Grenzwerten in absoluten Zahlen weiter kommt.
Was denn bitte noch? Auffanglager für „kleine, schwierige Filme“? FFA-Vorstand Peter Dinges hat sich schon mal bereit erklärt, künftig Filme auszusortieren: „Einer muss vorangehen, auch wenn die Selektion eine harte Aufgabe ist“, sagte er vielleicht etwas unbedacht beim Filmtheaterkongress im Mai. Unbedacht nicht nur wegen des CSU-Flüchtlingsabwehr-Klangs, sondern auch, weil die Förderentscheidungen gar nicht seine sind.
Oder macht sich der Vorstand ehrlich, und gesteht ein, dass er nicht nur Verwalter, sondern längst Politiker mit Agenda ist? Das wäre eine folgenschwere Kursänderung. Die FFA ist schließlich eine Institution, die, weil sie das Geld (fast) aller verwaltet, die mit Kinofilmen Umsatz machen, sich immer einen Anstrich von Demokratie und Interessenausgleich gegeben hat. Ganz zu schweigen davon, dass die Gremien, die über die Förderungen entscheiden, noch immer frei in ihren Entscheidungen sind und mit Vernunft, Kinokenntnis und Neugierde fördern sollten. Aber Neugierde für Filme, das klingt in manchen Ohren wohl viel zu gefährlich.
Die von Dinges zusammen mit FFA-Präsident Bernd Neumann vorbereiteten und Mitte Juni gegen viel Widerstand verabschiedeten Leitlinien schränken die Auswahl nun deutlich ein: Danach sollen nur noch Spielfilme gefördert werden, die mindestens 2,5 Millionen Euro kosten und ein „Potenzial“ von 250.000 Besuchern im Kino haben. Zum Vergleich: 2016 erreichten genau 21 von rund 250 deutschen Filmen solche Zuschauerzahlen [PDF]. Mehr als die Hälfte waren Sequels, Bestseller-Adaptionen oder Remakes. Man muss nicht lange raten, wem für die Zukunft Zuschauer-Potenzial zugestanden werden wird: Wendy 2, Bibi & Tina 5 und irgendwas mit Hape Kerkeling.
Es ist schon bezeichnend, dass die FFA sich ausgerechnet jetzt solch umstrittene Leitlinien gegeben hat: Seit Anfang des Jahres nämlich ist das Gesetz in Kraft, das mit kleineren rotierenden, noch dazu paritätisch besetzten Gremien dafür sorgen soll, dass es bei der Mittelvergabe gerechter und offener zugeht. Entscheidungen also nicht nur nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner getroffen werden. Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat es vorbereitet, der Bundestag hat es beschlossen – das konnte die FFA wohl nicht auf sich sitzen lassen. Nun lässt sie just die Regel einführen, die Experimente weitgehend ausschließt und noch dazu erwiesenermaßen die größte Hürde für Regisseurinnen ist: Nirgends ist der Anteil von Frauen im Regiefach so gering wie bei hochbudgetierten Filmen.
Die FFA kennt die Zahlen, sie hat ja nichts anderes im Kopf. Sie weiß, dass Maria Schraders Vor der Morgenröte“, der 2016 knapp unter den 250.000 Zuschauern blieb, um ein Vielfaches erfolgreicher war als Til Schweigers Tschiller: Off Duty, der knapp darüber gelandet ist. Raten Sie mal, welcher Film mehr Geld aus der Gemeinschaftskasse erhalten hat?
Wenn die FFA jetzt sagt „Klasse statt Masse“, meint sie leider „klotzen, nicht kleckern“. Dabei ist es doch kein Geheimnis, dass ein 8 Millionen Euro teurer Action-Krimi anders bewertet werden muss als das Historien-Tableau für 5,5 Millionen. Und dass Tom Tykwers Bestseller-Verfilmung Ein Hologramm für den König bei 14 Millionen Euro Kosten mit gut 200.000 Zuschauern sich in seinem „Potenzial“ wohl ordentlich verrechnet hat.
Den Ansatz mit absoluten Zahlen moniert auch die Arbeitsgemeinschaft Kino (AG Kino), der Verbund, der in Deutschland die meisten Arthouse- und Programmkinos vertritt. Ein widersprüchlicher Verein: Im internen Newsletter rühmen sie sich einerseits, selbst am Ursprung der Leitlinien beteiligt zu sein. Andererseits kritisieren sie, dass ihr Vorschlag nicht angenommen wurde, Fortsetzungen von der Förderung auszuschließen.
Dabei wäre das nicht nur eine Kleinigkeit, es wäre vermutlich der einzige Weg gewesen, bei den begrenzten Mitteln Slots für Unerwartetes zu garantieren. So aber heißt es auch 2017 wieder: Die Höchstförderung geht an Fack Ju Göhte3“. Unbenommen der Tatsache, dass Sequels beste Chancen bei Länderförderern haben und sie bei der FFA ohnehin über Referenzmittel der früheren Kassenerfolge verfügen.
Warum aber setzt sich dann die AG Kino noch für diese Leitlinien ein? Man könnte etwa hoffen, dass sie dabei helfen, auch künstlerisch ambitionierte Produktionen mit ordentlichen Budgets auszustatten. Doch wahrscheinlicher ist, dass die kleine Kinobetreiberlobby etwas anderes im Auge hat, sie nennt das Stichwort selbst: „Crossover“. Arthouse-Kinos spielen längst regelmäßig kommerzielle Filme mit mehr oder weniger kulturellem Anstrich, Originalversionen aus dem Mainstream, deutsche Komödien oder Wohlfühlkino aus Frankreich.
Da können Filme, die nicht von vornherein den großen Erfolg versprechen, lästig werden. Also ab mit den anspruchsvolleren (und deshalb schwieriger zu finanzierenden) Filmen an den Katzentisch: Ihnen soll es reichen, bei der Kulturstaatsministerin Monika Grütters (kurz BKM) eine Chance auf Förderung zu haben, schreibt die AG Kino. Und Dinges sieht die FFA endlich davon befreit, „BKM-Aufgaben [zu] übernehmen“.
Die Kultur hier, die Wirtschaft dort? Das unterstellt, dass kleinere Filme nicht genauso mehrere Finanzierer brauchen – und propagiert, dass nur Filmklotze wirtschaftlich sind. Anstatt sich zu freuen, dass der Bund kompensiert, wo die Länderförderer für Künstlerisches ausfallen, will sich die FFA noch weiter aus ihrer Verantwortung eines Marktausgleichs stehlen. Die Kleinen wird es ohnehin immer geben, deshalb lieber eine Umverteilung von unten nach oben. Ja, danke auch. Mit den Worten von Peter Dinges: „Die Vielfalt hat dort ihre Grenzen, wo es zu einer Übersättigung kommt!“ Wer aber ist hier bitteschön satt? Da hilft auch die Alibi-Leitlinie nichts mehr, nach der ein Portfolio-Gedanke bei der FFA beibehalten werden soll.
Wenn sich alte Industrien nach dem Motto „Das Boot ist voll“ abschotten, dann kann man darauf wetten, wie lange es dauern wird, bis sie von der Konkurrenz überholt werden. Bei der überwiegend auf öffentliche Mittel angewiesenen Filmproduktion mag das länger dauern als anderswo. Die Zeichen stehen dennoch auf Wandel, denn natürlich liegt etwas im Argen im deutschen Kino. Wenn sich aber Zuschauer von hiesigen Filmen abwenden, dann doch nicht, weil sie zu wenig Klein-Hollywood sind. Sondern, weil sie ihre Eigenheiten zu selten pflegen. Weil sie verwechselbar, wenn nicht sogar austauschbar sind. Die Hoffnung von Kinobetreibern und Förderern, dass es wieder weniger Filme geben könnte, wie früher, denkt den Medienwandel mit Rückspultaste. Und ignoriert, wie toll es ist, als Zuschauer ein größeres Filmangebot zu haben.
Exklusivität scheint momentan überhaupt en vogue zu sein. So ist in den letzten Monaten die gesamte Kinobranche in Aufruhr geraten – wegen einer doch erst einmal sehr verlockenden Vorstellung: dass die ARD-Mediathek auch aus Neapel, Marseille und Rotterdam frei zugänglich sein könnte. Was bisher nur in einem einzigen Land kostenlos gestreamt werden kann und für alle anderen wegen Geoblocking hinter Ländersperren verschwindet, soll, so die Vorstellung nicht weniger Parlamentarier, allen EU-Bürgern zur Verfügung stehen. Es ist die Rede von einem digitalen Binnenmarkt für die EU. Klingt doch plausibel: Wenn wir es mit der Abschaffung der Grenzen ernst meinen, dann ja wohl auch derer im Netz.
Mit alarmierenden Pressemitteilungen und einer regelrechten Presse-Kampagne haben die verschiedensten Leute davor gewarnt: „Verschenken Sie nichts, was Ihnen nicht gehört!“, rief die Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG?Dok) den EU-Parlamentariern zu, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung titelte „Die EU zerstört Europas Filmwirtschaft“. Die Angst: Europäische Koproduktionen wie Das weiße Band oder Toni Erdmann könnten gar nicht erst finanziert werden, wenn sie keine Lizenzen mehr für einzelne Länder verkaufen könnten. Und nationalen Produktionen breche eine ganz entscheidende Einnahmemöglichkeit weg.
Das stimmt zweifelsohne und liegt vor allem daran, dass Filme in der EU oft erst viele Monate, wenn nicht gar Jahre später im Nachbarland erscheinen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Verfügbarkeit in der Mediathek (in aller Regel 24 Monate nach Kinostart, immer öfter aber auch früher) schon in greifbare Nähe rückt.
Wie es so ist, wenn Besitzstand gewahrt werden soll, ist nur leider wenig die Rede von der Zukunft. Viel zu selten geht es um neue Finanzierungsmodelle und, brennender, die Zuschauergewinnung. Man kann sich zurückwünschen in Zeiten, in denen dritte Sender ganz regelmäßig verlässliche Partner von Filmemachern waren. Oder man sucht und schafft Alternativen zu dieser Abhängigkeit.
Am kürzeren Hebel zu sitzen, rächt sich schließlich ein ums andere Mal: Bei den Verträgen mit den Sendern über die Mediatheken-Auswertung müssten Filmhersteller doch ein gewichtiges Wort mitzureden haben. Das wird aber zumindest für die finanzschwächeren Firmen nie der Fall sein, wenn sich nicht insgesamt etwas an der Gemengelage ändert. Und das heißt nicht mehr Geld und Einfluss vom Fernsehen, sondern weniger. Wie wär’s zum Beispiel mit einem direkt von der Haushaltsabgabe gespeisten Kinofilmfonds? Dann macht auch die Freizügigkeit in der EU weniger Angst.
Wäre es nicht ohnehin viel spannender, über die Chancen zu sprechen, die darin schlummern, wenn europaweit Filme zugänglich werden, die bisher viel zu wenig reisen? Es kommt darauf an, Potenziale zu denken – nicht von der Vergangenheit her, sondern von der Zukunft. Das gilt für die FFA, genauso wie für Mediatheken. Den Zuschauern muss dabei nichts geschenkt werden, aber etwas geboten bekommen sollten sie schon.
Frédéric Jaeger hält in seiner Kolumne auf Spiegel online vier Mal im Jahr Rückschau auf das vergangene Quartal in der Filmbranche. Diese Folge erschien am 11. Juli 2016. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Spiegel online.
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