Ein Vierteljahr im Kino: Lasst die Wunden klaffen!

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Fördermillionen und Trophäen gehen an Mainstream-Suchendes, Eigensinniges wie „Wild“ wird ignoriert oder erst gar nicht eingereicht. Die offizielle Filmszene liebt das Mittelmaß – alles andere wird an den Rand gedrängt. | Foto © NFP

Es liest sich wie nichts, eine Randnotiz in der Zeitung. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, fliegt anlässlich der „Oscars“ nach Hollywood. Deutsche Politiker in L. A., das ist in den letzten Jahren nicht unüblich. Auch wenn sie in der Regel zur Gala gar nicht eingeladen sind. Darüber macht sich die Zeitung auch ein wenig lustig, doch was die Reise des Regierenden für sie wirklich bemerkenswert macht, ist, dass dessen Tochter mitfährt. Allerdings betonen Müllers Sprecher sogleich, dass sie ihren Flug selbst bezahlt hat. Okay, ja, kann man klarstellen, ist so verkehrt nicht, sind ja Steuern. Aber es geht noch weiter: Die Tochter, so heißt es ganz offiziell, durfte auf keine Party mit.

Ist das nicht albern? Spaßbefreit? Jugendfeindlich? Ist unser Misstrauen oder der vorauseilende Gehorsam so groß? Es wird gute Gründe für diese Politik geben. Aber sie fühlen sich alles andere als richtig an. Überall Ethik, selbst wenn es ums Kino geht.

Aufgeblasen zur Großindustrie. Dabei könnte man schon mit einem kurzen Blick auf Müllers Politik was zum Lachen haben. Schon im vergangenen Jahr hat sein Adjutant, Senatskanzleichef Björn Böhning, das Wasser getestet für eine neue Filmpolitik. Jetzt hat auch Müller sie sich zu eigen gemacht: Im Vorfeld der Berlinale präsentierte er eine „Industriepolitik“, die so großkotzig klingt, wie sie leer ist. Deren Wiederholung auf höherer hierarchischer Ebene macht sie nicht richtiger. Eine „Industriepolitik“ für einen Wirtschaftszweig zu fordern, der so deutlich mittelständisch ist wie die hiesige Filmproduktion, das kann nur eine Nebelkerze sein.

Aber was soll’s, wir wollen eben mitspielen in der ersten Liga der europäischen Sparmodelle für US-Produktionen. Berlin und Brandenburg pumpen sogar fleißig Kohle rein, damit der Hauptstadt-Hauptbahnhof seinen Quality-TV-Auftritt hat.

Und nicht nur das! Wenn die ehemalige Geheimagentin Carrie für die Showtime-Serie „Homeland“ durch Glas-Beton-Berlin läuft, dann geschieht etwas, das hat noch kein Berlinbesucher zuvor erlebt: Der Aufzug im Hauptbahnhof kommt, nicht nach drei bis fünf Minuten, sondern direkt, einfach weil er gerufen wurde. Servicemekka Deutschland. Wenn das die Folge ist, können deutsche Politiker meinetwegen gern öfter nach L. A. fliegen. Aber bitte, lasst die Kinder mit auf die Partys.

Filmförderung für US-Majors? „Stupid German Money“ nannte man früher deutsches Geld, das leichtfertig in US-Produktionen gepumpt wurde. Das sagt heute keiner mehr, schon weil es nach Yuppie-Neunzigerjahre klingt. Der Neid hat aber nicht nachgelassen, er kommt diesmal jedoch von überraschender Seite: Der vermutlich größte Profiteur der deutschen Filmförderung will noch größere Stücke vom Kuchen. Martin Moszkowicz, Vorstand der Fack-ju-Constantin-Film, findet, es müsse jetzt mal darüber gesprochen werden, wer überhaupt Anspruch auf Geld aus der Förderung hat. Weil seine Constantin, regelmäßig Nutznießerin Nummer eins, trotz der riesigen Kassenerfolge gerne noch mehr Null-Risiko-Geld will. Und so hat er sich vorgenommen, eine Debatte darüber anzustoßen, ob US-Majors wie Fox und Warner Bros. auch Geld bekommen müssen. Zum Glück lässt sich niemand auf eine so transparent eigennützige Diskussion ein.

Mein Vorschlag: Wer aus den Gewinnen eines Films seinen nächsten finanzieren kann, wird von der Förderung ausgeschlossen.

Wobei: ein solch gerechtes System, undenkbar in Deutschland. Da könnte ja niemand mehr neidisch sein – und man bräuchte sich nicht über einen Flop wie Til Schweigers „Kino-Tatort“ zu ärgern. Der hat gleichzeitig Höchstsummen aus ARD-Mitteln und der Filmförderung für sich beanspruchen können – und wird diese, wie’s ausschaut, niemals über die Kinokassen zurückzahlen.

Ein sensibles Thema, denn schnell wird einem ein Ungerechtigkeitsempfinden als Neid ausgelegt. Darin ist nicht zuletzt Til Schweiger Spezialist. Gerne wirft er Kritikern, die ihm künstlerisches Versagen attestieren, Missgunst vor. Doch diesmal bietet Schweiger eher Anlass zu Schadenfreude: Gerade mal 280.000 Besucher hat „Tschiller: Off Duty“ angelockt – „Honig im Kopf“ wollten mehr als sieben Millionen sehen, und auch die früheren „Tatorte“, die ins Kino kamen, waren um ein Vielfaches erfolgreicher.

Schummeln wie in China. Zu spät für Schweiger (aber hinterher ist man ja immer klüger) kommt die Nachricht von dem tollkühnen System, das in China die Besucherzahlen in die Höhe schnellen lässt. Für „Ip Man 3“ wurde der Verleiher einer schön abstrusen Methode überführt: Weil Erfolg Erfolg gebiert, versuchen findige Unternehmer seit jeher, die Charts zu manipulieren. Bei „Ip Man 3“ wurden die Verkaufszahlen nun anscheinend um knapp neun Millionen Dollar frisiert. Manche Kinos hätten dafür am Startwochenende im Zehn-Minuten-Rhythmus ausverkaufte Vorstellungen des Films gelistet – und das bis drei Uhr nachts. Faktisch unmöglich, aber doch immerhin erfinderisch.

Später stellte sich laut chinesischer Aufsichtsbehörde heraus, dass drei Betreiber von Ticketing-Systemen und 73 Kinos an dem Betrug beteiligt waren. Mehr als 7600 Vorstellungen des Films waren erfunden. Das machen deutsche Kinos so schnell nicht nach.

Rekordzahlen, Rekordpreise. Obwohl selbstverständlich zum Jahresbeginn wieder Erfolge gefeiert werden mussten. Mehr Geld, mehr Zuschauer, deutsches Kino, juchhu! Juchhu? Bemerkenswert an den Zahlen erscheint mir vor allem, dass Kinotickets schon wieder teurer geworden sind, um stolze 34 Cent. Der durchschnittliche Kinopreis feiert also ebenfalls Rekord: 8,39 Euro – wohlgemerkt, im Durchschnitt.

Unterdessen meldet das Studio Babelsberg, immer gut im Fabrizieren von neuen Unternehmen und anderer legaler Steuerspartricks, 2015 habe es wieder schwarze Zahlen geschrieben. Nur eine Dividende werde nicht ausgeschüttet, zu unsicher sei die Auftragslage.

Mal wieder ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Politik? Oder ein Zeichen, dass keiner auf die Potsdamer Studios neidisch sein braucht? Obwohl es seit Anfang des Jahres noch einen Extra-Fördertopf für Großproduktionen und Serien gibt – mit dem so trottelig anbiedernd klingenden Namen German Motion Picture Fund.

Das Elend in der Mitte. Die Babelsberger Nachbarn, die Ufa-Chefs Nico Hofmann und Wolf Bauer, bemühen sich derweil, ihr völliges Desinteresse für Netflix glaubhaft unter Beweis zu stellen. Alle anderen Produktionsfirmen buhlen um deren Aufträge (Baran bo Odar soll es mit „Dark“ richten), und auch Amazon hat sich ein deutsches Projekt gesichert.

Derweil verschärft sich der Wettstreit der neuen mit den alten Playern. So kam es auf dem Sundance Film Festival im Januar zu einem spektakulären Bieterstreit: Netflix bot dem Vernehmen nach 20 Millionen US-Dollar für das Arthouse-Sklaverei-Drama „Birth of a Nation“. Am Ende erhielt Fox Searchlight für 17,5 Millionen Dollar den Zuschlag – auch das schon ein Rekordpreis für einen Sundance-Film.

Gleichzeitig zeigte Nicolette Krebitz auf dem Festival ihr unaufgeregtes, aber umso aufregenderes Drama „Wild“. Warum das nicht auf der Berlinale lief? Vielleicht auch, um diesen zarten, rohen, lustvollen und eigensinnigen Film vor den deutschen Heinis ein wenig zu schützen.

Neid zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Filmbranche, manchmal als politische Strategie, wie bei Moszkowicz, öfter aber als Lähmung der Zustände: Bloß keine zu guten Filme für die „Deutschen Filmpreise“ nominieren, die Mittelmäßigkeit der Masse würde zu offensichtlich.

Neuestes Beispiel: Eigensinniges wie „Der Nachtmahr“ oder „Der Bunker“ wurde ignoriert – und ein kategoriensprengender Film wie „Wild“ erst gar nicht eingereicht. Die Deutsche Filmakademie und ihr Preis spiegeln in aller Ehrlichkeit die deutsche Filmbranche: Jedes Experiment, das nicht aus der Mitte entspringt, wird an den Rand gedrängt.Vielleicht schaffen es deshalb Personen wie Berlinale-Direktor Dieter Kosslick in der hiesigen Branche so weit: mit einer Position der Mitte, die unangreifbar (oder fast) das Gute propagiert, statt das Schöne und das Wahre. Das „Recht auf Glück“ für die Armen und Geflüchteten dieser Welt hat Kosslick in diesem Jahr zum Motto der Berliner Filmfestspiele erhoben. Man fühlt sich an Titos Versprechen vom Recht auf Arbeit erinnert, so sehr lässt dieses Motto Filme als Auftragsarbeit sozialdemokratischer Interessen erscheinen.

„Genug mit der Ethik, es werde Kino!“, möchte man da rufen. Und wenn das nicht möglich ist, dann vielleicht mal wieder über den Teich schauen und an die Amis halten. „Oscars“ für nur für weiße Darsteller und ein bisschen auf die Hautfarbe ausgerichtete Trailer für „Straight Outta Compton“, damit klar wird, wie schlecht es steht. Ich bin langsam so weit, dass sich das richtiger anfühlt: die Wunden einfach klaffen zu lassen.

Frédéric Jaeger hält in seiner Kolumne auf Spiegel online jetzt vier Mal im Jahr Rückschau auf das vergangene Quartal in der Filmbranche. Diese erste Folge erschien am 29.04.2016. Zweitveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Spiegel online.