Cinema Moralia – Folge 93: Das Recht auf Selbstbestimmung

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»Do what you want!« – das lernt auch Marieme in Bande De Filles, Celine Sciammas diesjährigem Cannes-Film über vier starke, schwarze Girls aus Paris.

Mitten im Leben, vom Tode umgeben: Warum ich Feminist bin und für das Recht auf einen freien Tod, und was das mitein­ander zu tun hat – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kino­ge­hers, 93. Folge

»’Where should I go?‘ said Alice.
‚That depends on where you want to end up.‘ replied The Cheshire Cat.«

Alice in Wonder­land

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Es wäre sehr lustig, wenn es nicht so grotesk gewesen wäre und auch ein bisschen traurig: Pres­se­kon­fe­renz im Berliner Arsenal. Ich kam etwas zu spät, es hat gerade schon ange­fangen. Zehn Frauen sitzen vorne, wie die Hühner auf der Stange. Im Saal weitere 29, bis zum Ende der Veran­stal­tung kommen noch drei dazu. Dazwi­schen genau zwei Männer. Ich bin der dritte.

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Dienstag, 14.10., 11 Uhr vormit­tags. Vorge­stellt wird der Aufruf »Pro Quote Regie« in Form einer Pres­se­kon­fe­renz. Es läuft etwas falsch, scheint mir, wenn die Redak­tionen (darunter diverse Redak­teu­rinnen) zu so einem Termin dann nur die Frauen schicken. Redak­teu­rinnen waren übrigens gar nicht vertreten, sofern ich niemanden übersehen habe.

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Den Aufruf haben bislang rund 200 Regis­seu­rinnen unterz­eichnet, aus allen Gene­ra­tionen und Stil­rich­tungen, darunter sehr bekannte Namen des deutschen Kinos, die meisten, aber nicht alle von ihnen Deutsche. Männer dürfen übrigens nicht unter­schreiben, wohl damit das Ganze weiterhin »Aufruf der Regis­seu­rinnen« betitelt werden kann. Es gibt aber eine zweite Liste, auf der sich Unter­s­tützer beiderlei Geschlechts finden. Gefordert wird in dem Aufruf »die Einfüh­rung verbind­li­cher Frau­en­quoten« in den öffent­lich-recht­li­chen Rund­funk­an­stalten, den Film­för­de­rungen des Bundes und der Länder, sowie in alle »Insti­tu­tionen … in denen öffent­liche Mittel für Produk­tions- und Regie­auf­träge vergeben werden.« Man wünscht einen Anteil von 30 Prozent bis zum Jahr 2017, und 42 Prozent bis 2019 – das entspricht dem aktuellen Anteil von Frauen mit Regie-Diplom.
Gefördert wird weiterhin eine wissen­schaft­liche Studie »zu Werdegang und beruf­li­cher Situation von Regis­seu­rinnen in Deutsch­land sowie zur Verga­be­praxis von Rund­funk­an­stalten und Förder­gre­mien.« Man bietet den Verant­wort­li­chen bei Förder­gre­mien und Sendern einen Dialog an. Sie glauben: »Eine gerech­tere Film- und Fern­seh­för­de­rung kann nur gemeinsam mit der Politik und den Verant­wort­li­chen in den Sende- und Förder­an­stalten erreicht werden.« Mal abwarten.

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Ich geb’s zu: Als ich zuerst davon gelesen hatte, dachte ich: Was für ein Schwach­sinn! Muss das sein? Gibt es nicht wich­ti­gere Fragen als eine Frau­en­quote? Wäre es nicht viel besser, die Film­branche würde gemeinsam dafür sorgen, dass die Filme besser werden, sich zusam­mentun, anstatt zu spalten? Wäre es nicht besser, zumindest die progres­siven Kräfte der Kinoszene würden für Ästhetik und Inhalte kämpfen, für Geld, um die bisher arg begren­zten Fleisch­tröge und Arbeits­mög­lich­keiten zu vergrößern, als für Zugangs­rechte zu diesen Fleisch­trögen? Auf alle Fälle wäre all das besser. Stimmt schon: Es könnte alles ganz anders sein. Ist es aber nicht. Die deutsche Filmszene, auch die mit Verstand und Geschmack, besteht über­wie­gend aus Solisten. Sie sollten sich zusam­mentun, hätten das tun können, haben es aber nicht. Die Frauen dagegen haben sich zusam­men­getan, und etwas auf die beine gestellt. Sie kämpfen für ihre Inter­essen. Pech, Jungs! Schaut Euch an, wie man es macht.

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Die Argumente für den Aufruf sind einfach überz­eu­gend. Denn die Zahlen sind in einem krassen Miss­ver­hältnis: Aktuell werden über 85 Prozent aller Regie­auf­träge in Deutsch­land an Männer vergeben, obwohl 42 Prozent aller Regie-Absol­venten von Film­hoch­schulen Frauen sind. Man muss also gar nicht die weibliche Perspek­tive beschwören, und bloß nicht im Jargon eines neoli­be­ralen Control­lers von Wett­be­werb reden. Es geht schlicht um klas­si­sche Werte: Gleich­heit, Gerech­tig­keit, Chancen und Teilhabe.

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Ich bin eigent­lich auch gegen Quoten. Wenn überhaupt, müsste es eine Quote für den IQ geben, und für Geschmack, wenn man den messen könnte. Ich bin überzeugt, dass Kunst mit Demo­kratie nicht das Geringste zu tun hat, eher schon mit Autorität, und dass man über Kunst, über Stil, über Ästhetik, über Qualität und Niveau oder auch über Geschmack nicht demo­kra­tisch entscheiden oder gar abstimmen kann, und dass die Demo­kratie der Kunst oft schweren Schaden zufügt. Mit der Einschrän­kung, dass Kunst zwar keine Sicher­heit braucht, aber ein Minimum an Freiheit.
Jeder meint zudem, wenn er »Quote« sagt, etwas anderes. Ich stelle mir bei Quote ein Schut­z­system für Filme vor, für welche aus Europa, aus Asien und Latein­ame­rika, und vor allem überhaupt für künst­le­risch Schutz­wür­diges. Analog zu den Mindest­quoten für korea­ni­schen Film, die den Aufstieg des Filmlands Korea überhaupt erst möglich machten. Oder denen für Fran­zö­si­sches in Frank­reich: Die exception cultu­relle. »Quote« bedeutet hier: Minder­hei­ten­schutz. Für Fern­seh­in­ten­danten sind Quoten dagegen ein Argument um den neuesten Abstieg im Niveau ihres Senders zu recht­fer­tigen. Um zu erklären, warum die ARD an einem Abend erst den »Gemüse-Check« bringt, dann vom »Mais-Wahn« erzählt und nicht nur den Leuten, sondern sich selbst einredet, das sei »Service«. »Die Leute wollen es ja so« heißt es dann, in einmal mehr miss­ver­stan­dener Demo­kratie. »Quote« ist in diesem Fall eine Waffe. Das Mittel einer relativ großen Gruppe, die meistens auch keine Mehrheit ausmacht, um alle anderen kleineren Gruppen zum Schweigen zu bringen, sie zu margi­na­li­sieren.
Die Quote wie sie hier und in allen Fällen einer sozialen Quote verstanden wird, ist etwas Drittes: Ein Teil­ha­be­mi­nimum. Sie bezeichnet einen Prozent­satz, bezieht sich auf eine bestimmte soziale Teil-Gruppe und einen Bereich, in dem diese Gruppe unter­re­prä­sen­tiert ist. Die Quote soll den Anteil erhöhen. Quoten, wenn man sich einmal auf sie geeinigt hat, sind ein gutes Mittel dazu.

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Denkt man diesen Gedanken eines Teil­ha­be­mi­ni­mums aller­dings konse­quent zu Ende, dann kommt eine Gesell­schaft heraus, in der ich nicht leben will. Eine unfreie, hoch­re­gu­lierte Gesell­schaft. Eine Gesell­schaft, die sich nicht über Indi­vi­duen definiert, sondern über Grup­pen­iden­tität. Denn warum sollten eigent­lich ausge­rechnet Frauen quotiert sein? Warum nicht Alte und Junge? Rassen? Reli­gionen? Kulturen? Einkommen? Bildungs­grad? Poli­ti­sche Posi­tionen? Behin­derte? Sexuelle Minder­heiten? Ausländer? Oder doch IQ? Und so weiter. Ein unend­li­ches Mosaik von Zugehö­rig­keits­quoten wäre die Folge, und unsere Gesell­schaft sähe aus wie ein Fern­sehrat, ein gemain­streamtes Patchwork, in dem nur eines fehlt: Das Indi­vi­du­elle und das Indi­vi­duum, das sich keiner Gruppe fügt, nicht in sie passt, weil es eben bereits qua Begriff unteilbar ist.
Kann man das wünschen? Das kann man nicht wünschen!

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Aber darum geht es auch gar nicht. Wenn ich die Initia­toren und ihr Auftreten auf der Pres­se­kon­fe­renz richtig verstehe, dann wollen sie das auch gar nicht, denn sie wissen ganz genau, dass eine Quote im Kino- und Fern­seh­film praktisch völlig unmöglich ist. Wie soll das auch gehen? In einer Filmwelt, in der Filme von mehreren Länder­för­de­rern und Fern­seh­an­stalten finan­ziert werden müssen, weil man sie sonst gar nicht machen kann. Wer die Quote wirklich will, der müsste zunächst mal die Film­för­de­rung revo­lu­tio­nieren. Das könnte ja schon mal inter­es­sant werden – wenn wir denn diese Revo­lu­tion wollten. Tatsäch­lich sollten wir an einer anderen Film­för­der­re­vo­lu­tion inter­es­siert sein.
Worum es dem Aufruf tatsäch­lich geht, ist Bewusst­seins­bil­dung. Über eine Schief­lage, die einen rele­vanten Teil der Gesell­schaft vom Filme­ma­chen struk­tu­rell ausschließt. Die einem de-facto-Berufs­verbot gleich­kommt. Die Regis­seu­rinnen Maria Mohr und Connie Walther haben es treffend ausge­drückt: Frauen müssen schlechte Filme machen dürfen. Wenn sie das heute tun, war es ihr letzter Film, während man bei Männern von einem Ausrut­scher spricht.
Es geht im Aufruf auch darum, auch mit dem Märchen aufzu­hören, dass Frauen die besseren Menschen seien. Angela Merkel beweist täglich das Gegenteil. Man könnte aber auch darauf hinweisen, dass die Mehrzahl der Länder-Förde­rungen nach wie vor von Frauen geleitet werden. Bis Ende 2013 waren nur der baye­ri­sche FFF und die ostdeut­sche MDM in männ­li­cher Hand. Seit diesem Jahr auch wieder Hessen und die MFG. Ein gesell­schaft­li­cher Roll-Back.
Aber auch unter weib­li­cher Führung sind die Ergeb­nisse nicht befrie­di­gend. Zudem wenn man berück­sich­tigt, dass viele Förder­re­fe­renten- und TV-Redak­teur­stellen weiblich besetzt sind. Es hat sich nicht positiv ausge­wirkt. Weder sind die Themen besonders weiblich, noch die Entschei­dungen sehr frau­en­freund­lich. Bei einzelnen Personen, ob aus München, Frankfurt oder Berlin wird sogar offen von »Stuten­bis­sig­keit« und »Zickentum« gespro­chen. es gibt Fern­seh­re­dak­teu­rinnen, die haben noch nie in ihrem Leben eine Frau gefördert, es gibt Förde­r­ent­schei­de­rinnen, da ist es ein offenes Geheimnis, dass bestimmte Männer-Typoen die besten Chancen auf Förderung haben.

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Aber all das ist kein Argument gegen die Quote: Im Gegenteil: Die gerechte Betei­li­gung von Frauen wird nicht mehr verändern, als die von manchen Frau­en­be­wegten selbst­ge­pflegten und gern kulti­vierten Mythen, Frauen seien irgendwie anders. Erst die gerechte Betei­li­gung von Frauen wird mit dieser falsch verstanden Frau­en­be­we­gung so aufräumen, wie es die Betriebs­räte mit den Mythen der Arbei­ter­be­we­gung getan haben. Danach erst kann man sich dann viel­leicht wieder auf die Lage der Mensch­heit konz­en­trieren, anstatt diese in Iden­ti­täts­gruppen zu spalten.

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So weit sind wir aber noch nicht. Wer all dies nicht glaubt, der kann sich ja einmal die Erfah­rungen zu Gemüte führen, die mehrere Dutzend Film-Frauen (so nenne ich sie jetzt mal, denn sie sind längst nicht nur Film-Regis­seu­rinnen) jetzt für ein Buch formu­liert haben. Es ist der Sammel­band »Wie haben Sie das gemacht? Aufz­eich­nungen zu Frauen und Filmen« [http://www.schueren-verlag.de/programm/titel/407–wie-haben-sie-das-gemacht-aufz­eich­nungen-zu-frauen-und-filmen.html]
Einige von ihnen sind mit den Unter­s­tützern des Aufrufs identisch, andere unter­s­tützen den Aufruf dezidiert nicht. Der Band, den Claudia Lenssen und Bettina Schoeller-Boujou heraus­ge­geben haben, wird am Donnerstag-Abend in der Berliner Akademie der Künste vorge­stellt. Es geht darin auch um eine Zwischen­bi­lanz, ein Resümee des poli­ti­schen Kampfes um Gleich­be­rech­ti­gung und Selbst­be­stim­mung von Frauen.
Die span­nenden Texte des Buches machen einmal mehr klar, dass die Debatten keines­wegs zu Ende sind. Die Frage der Frauen wird uns auch hier in den nächsten Wochen und Monaten weiter beschäf­tigen.

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Bei der Frau­en­frage geht es um nicht weniger, als ein zentrales Grund­recht: Art. 3 des Grund­ge­setzes [http://www.gesetze-im-internet.de/gg/] ist deutlich genug: »(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.: (2) Männer und Frauen sind gleich­be­rech­tigt. Der Staat fördert die tatsäch­liche Durch­set­zung der Gleich­be­rech­ti­gung von Frauen und Männern und wirkt auf die Besei­ti­gung beste­hender
Nachteile hin.«
Noch Fragen?

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Beim Film­fes­tival von Cannes gab es in diesem Jahr übrigens einen hervor­ra­genden Film zum Thema: Er stammt – nicht zufällig, so scheint mir – aus Frank­reich und zwar von der Regis­seurin Celine Sciamma, und heißt Bande De Filles (inter­na­tional aka GIRLHOOD), was natürlich nichts anderes ist als eine offene Anspie­lung auf Godard. Es geht um vier starke, schwarze Girls aus der Vorstadt. Sie haben nichts, also nehmen sie sich alles: Style, Stolz, Freiheit. Ein Film, der uns vorführt (nicht erklärt, warum Freiheit womöglich mehr mit Ästhetik zu tun hat als mit Moral, mehr mit Pop als mit political correct­ness, mit Musik und Mut und ganz bestimmt gar nichts mit Quoten. Das Motto: »Do what you want!«
Die junge Marieme, die es auch nicht leicht hat, zum Beispiel mit ihrem kaputten Bruder, wird Mitglied einer Frauen-Gang. Sie sind unkon­ven­tio­nell und witzig, sie prügeln sich, wenn es sein muss, und zeigen uns, was Femi­nismus wirklich heißt: Selbst-Bewusst­sein. Es geht um das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbild – darum gucken sich die Girls auch fort­wäh­rend im Spiegel an, Filmen sich, beur­teilen sich gegen­seitig. »Bande de Filles« zeigt uns, was das eigent­liche Problem ist, das meiner Ansicht nach auch für viele deutsche Frauen gilt, auch für nicht wenige, die das Papier »Pro Quote Regie« unter­schrieben haben: Fehlende Härte, fehlender Mut. Das sind eben keine »männ­li­chen Werte«, sondern univer­sale.
Früher nannte man das alles ja Eman­zi­pa­tion. Auch so ein altehr­wür­diger Ausdruck, der etwas demodé geworden ist. Dabei kommt es doch genau darauf an: Sich zu eman­zi­pieren von Rollen­sche­mata, übrigens auch von manchen der Frau­en­be­we­gung und zum Indi­vi­duum zu werden.

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Wenn solche Filme, Filme wie Bande De Filles oder die von Sofia Coppola endlich mal auch in Deutsch­land gemacht werden, dann dürfen Frauen unbedingt auch schlechte Filme machen und das immer wieder. Verspro­chen!

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Aber es gibt auch noch andere Themen: Letzte Woche hatten wir an dieser Stelle zur Teilnahme an der offi­zi­ellen Europäi­schen Bürger­initia­tive gegen TTIP und CETA aufge­rufen. Wir tun das hiermit noch einmal. Denn auch die Produ­z­en­ten­al­lianz hat sich gegen TTIP posi­tio­niert. Die Produ­z­enten sind zwar nicht gegen alles, was man an TTIP kriti­sieren könnte und lehnen das Abkommen auch nicht rundweg ab, aber sie fordern gravie­rende Ände­rungen, die die Ameri­kaner ablehnen: Vor allem eine »kultu­relle Ausnahme« für Audio­vi­su­elles und Medien. »Auch wir Produ­z­enten sind natürlich für einen fairen Wett­be­werb«, erklärt Alexander Thies von der Allianz Deutscher Produ­z­enten. »Dass die europäi­sche Film­in­dus­trie im Gegensatz zur ameri­ka­ni­schen Förderung braucht und bekommt, verzerrt nicht den Wett­be­werb, sondern macht ihn erst möglich. Ohne Förderung, ohne ‚kultu­relle Ausnahme‘ gäbe es den europäi­schen Film nämlich gar nicht mehr, keine Oscar-Gewinner wie ‚Liebe‘ oder europäi­sche Block­buster wie ‚Ziemlich beste Freunde‘. Gerade weil wir für fairen Wett­be­werb sind, brauchen wir die ‚kultu­relle Ausnahme« für Audio­vi­su­elles und Medien … Die ‚kultu­relle Ausnahme‘ auch in dem TTIP-Abkommen ist unver­zichtbar.«
Wer die Initia­tive gegen TTIP unterz­eichnen will, kann dies hier tun:
https://www.campact.de/Stop-TTIP-EBI
https://www.lobby­con­trol.de/ttip-stoppen

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Es gibt aller­dings auch noch andere Grund­ge­setz-Artikel. Noch vor Artikel 3 kommen 1 und 2. Dort heißt es: »Art 1:
(1) Die Würde des Menschen ist unan­tastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflich­tung aller staat­li­chen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unver­let­z­li­chen und unver­äußer­li­chen Menschen­rechten als Grundlage jeder mensch­li­chen Gemein­schaft, des Friedens und der Gerech­tig­keit in der Welt.
(3) Die nach­fol­genden Grund­rechte binden Geset­z­ge­bung, voll­zie­hende Gewalt und Recht­spre­chung als unmit­telbar geltendes Recht.
Art 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfal­tung seiner Persön­lich­keit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfas­sungs­mäßige Ordnung oder das Sitten­ge­setz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körper­liche Unver­sehrt­heit. Die Freiheit der Person ist unver­let­z­lich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes einge­griffen werden.«
Zual­ler­erst also Würde; dann Entfal­tungs­frei­heit, Freiheit zu tun, und zu lassen, was man will, das was Werte­pre­diger gern als »Hedo­nismus« zu diffa­mieren versuchen. Diese Reihen­folge markiert auch eine Hier­ar­chie der Werte, und die hat uns im Folgenden zu inter­es­sieren.

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Aus Münchner Urzeiten her kannten wir ihn noch, hatten ihn sogar ein paarmal persön­lich erlebt: Udo Reiter. Er war so einer von denen, die gern mal mit Quoten argu­men­tierten, den Inten­dan­ten­quoten, Minder­heits­tot­schlags­quoten oder mit anderen groben Klötzen. Aber er hatte auch den Charme eines Machos alter Schule, eine offene ehrliche Haut, der kein Blatt vor den Mund nahm, political correct­ness und andere Benimm­re­geln hasste, der innerlich nie borniert war, auch wenn manche seiner Entschei­dungen, vor allem als Hörfunk­di­rektor des CSU-Haus­sen­ders BR in den guten alten Zeiten des großen Vorsitz­enden FJS manchmal diesen Eindruck erwecken konnten. So kam er denn Anfang der 90er zum MDR, um den Osten auf Linie zu bringen – und tat es dann doch etwas anders als gedacht. Denn Udo Reiter war sich zu schade, für die Union den Stasi-Putzmann zu spielen.

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Er war auch der erste öffent­liche Roll­stuhl­fahrer, jeden­falls der erste, der mir begegnete. Lange vor Wolfgang Schäuble. Ein guter Typ, wenn ich das mal so schreiben darf, das zeigte auch die Art, wie er mit seiner Behin­de­rung umging, ironisch und doch sensibel.
Vor zwei Wochen war Reiter, seit einigen Jahren nicht mehr MDR-Intendant, sondern Ruhe­ständler, in der ZDF-Talkshow »Maybrit Illner« [http://www.youtube.com/watch?v=IW9HnmKbLq0]. Disku­tiert wurde da über Ster­be­hilfe. Reiter spielte die beste, sympa­thischste Rolle, er war relativ still, aber zwischen lauter Funk­ti­onären und Meinungs­puppen, zwischen den Pastoren Käßmann (Alkohol) und Hintze (CDU) war er der einzige Authen­ti­sche, der einzige, dem das, was er sagte, exis­ten­ti­elles Anliegen war. Das konnte man spüren.

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Der entschei­dende Punkt zielt auf das Grund­ge­setz: »Ich finde, wenn man das Recht auf Selbst­be­stim­mung, das ja die Grundlage unserer Verfas­sung ist, für das ganze Leben einfor­dert, dann muss mir erstmal jemand erklären, warum das gerade für die letzte Phase, für das Sterben nicht gelten soll. Ich finde, das müssen wir verlangen.«

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Udo Reiter sagte außerdem: Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich nicht als Pfle­ge­fall enden möchte, nicht als jemand, der langsam sein Ich verliert, der von anderen dann gewaschen und gebürstet und gewindelt wird, und ich möchte auch nicht als gutmü­tiger oder bösar­tiger Idiot vor mich hindäm­mern, sondern möchte recht­zeitig sagen können: Es ist sehr schön gewesen. Es hat mich sehr gefreut, aber jetzt möchte ich gehen. … Es sind in Deutsch­land immerhin 10.000 Leute, die sich jährlich das Leben nehmen. Die Hälfte davon hängt sich an Bäumen oder Fens­ter­kreuzen auf, drei werfen sich jeden Tag vor die Eisenbahn… Ich finde, das ist ein unwür­diger Zustand, das muss nicht sein, da muss es Hilfe geben, und zwar profes­sio­nelle Hilfe, ärztliche Hilfe zum selbst­be­stimmten Sterben. … Mir geht es um die Leute, die selbst­be­stimmt sterben wollen. Da muss es doch irgend­einen Weg geben, dass man human rauskommt. … 70 Prozent der Bevöl­ke­rung wollen das.«

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Worum geht es: Der Staat, die Gesell­schaft, die selbst­er­nannten Fürsorger greifen exzessiv in unser Leben ein – zu unserem Besten natürlich. Sie verordnen gesundes Essen, Sport, Rauch­verbot, Glüh­birnen (die giftig sind), Fahr­rad­helme, und ächten den Freitod.
Wir dürfen theo­re­tisch noch selbst­be­stimmt leben, aber dürfen wir auch selbst­be­stimmt sterben? Schwer­kranke Menschen haben nur die Gewiss­heit uner­träg­li­cher Schmerzen, eines fort­schrei­tenden Verfalls und eines qual­vollen Sterbens. Wenn einem das Leben zur Last wird, warum soll man es dann nicht beenden dürfen? Es muss möglich und erlaubt sein, selbst über sein Leben zu verfügen, selbst bestimmen zu können, wann man dem Leben ein Ende setzt, und zwar völlig unab­hängig davon, ob man todkrank ist, oder nicht: Mein Tod gehört mir.
Der Tod gehört zur Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen ja Frau Merkel verfas­sungs­gemäß verpflichtet ist, was sie nicht davon abhält, ameri­ka­ni­sche
Folter­ge­fäng­nisse und andere Menschen­rechts­ver­let­zungen zu tole­rieren.

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Keiner hat das Recht sich hier einzu­mi­schen. Schon gar nicht Gestalten wie die Physi­kerin Merkel, der Bauer Kauder, der Versager de Maiziere oder der Pfarrer Hintze. Ihnen fehlt jedes Recht, auch nur stell­ver­tre­tend über meine letzten Stunden zu entscheiden, meinen Weg aus dem Leben zu gehen. Was für eine unsäg­liche, infame Anmaßung dieser dritt­klas­sigen Knall­chargen, die schon mit viel schlich­teren Fragen über­for­dert sind!

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Wir sollten das ernst nehmen. Es gibt Menschen, die wollen sterben, ohne dass sie verrückt sind, oder gestört. Freitod kann ein Teil von humaner Kultur, kann ein Ausdruck unserer Würde sein. Eine Woche nach der ZDF-Sendung hat Udo Reiter sich auf der Terrasse seines Hauses erschossen. Wir werden ihm gerecht, wenn wir das nicht klein­reden, oder inter­pre­tieren.

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Was den Protest der Frauen mit diesem letzten Akt Udo Reiters verbindet, ist nicht allein der Wunsch nach Freiheit und Selbst­be­stim­mung, die Forderung, dass es mit der Fremd­be­stim­mung endlich ein Ende haben muss. Es ist noch mehr eine sehr prin­zi­pi­elle, aber am Ende doch auch ganz einfache Einsicht: Man darf nicht warten, bis einem andere das Recht geben. Man muss sich das Recht nehmen. Selbst.

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurzkri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.

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