Cinema Moralia – Folge 93: Das Recht auf Selbstbestimmung
Mitten im Leben, vom Tode umgeben: Warum ich Feminist bin und für das Recht auf einen freien Tod, und was das miteinander zu tun hat – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 93. Folge
»’Where should I go?‘ said Alice.
‚That depends on where you want to end up.‘ replied The Cheshire Cat.«
Alice in Wonderland
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Es wäre sehr lustig, wenn es nicht so grotesk gewesen wäre und auch ein bisschen traurig: Pressekonferenz im Berliner Arsenal. Ich kam etwas zu spät, es hat gerade schon angefangen. Zehn Frauen sitzen vorne, wie die Hühner auf der Stange. Im Saal weitere 29, bis zum Ende der Veranstaltung kommen noch drei dazu. Dazwischen genau zwei Männer. Ich bin der dritte.
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Dienstag, 14.10., 11 Uhr vormittags. Vorgestellt wird der Aufruf »Pro Quote Regie« in Form einer Pressekonferenz. Es läuft etwas falsch, scheint mir, wenn die Redaktionen (darunter diverse Redakteurinnen) zu so einem Termin dann nur die Frauen schicken. Redakteurinnen waren übrigens gar nicht vertreten, sofern ich niemanden übersehen habe.
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Den Aufruf haben bislang rund 200 Regisseurinnen unterzeichnet, aus allen Generationen und Stilrichtungen, darunter sehr bekannte Namen des deutschen Kinos, die meisten, aber nicht alle von ihnen Deutsche. Männer dürfen übrigens nicht unterschreiben, wohl damit das Ganze weiterhin »Aufruf der Regisseurinnen« betitelt werden kann. Es gibt aber eine zweite Liste, auf der sich Unterstützer beiderlei Geschlechts finden. Gefordert wird in dem Aufruf »die Einführung verbindlicher Frauenquoten« in den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, den Filmförderungen des Bundes und der Länder, sowie in alle »Institutionen … in denen öffentliche Mittel für Produktions- und Regieaufträge vergeben werden.« Man wünscht einen Anteil von 30 Prozent bis zum Jahr 2017, und 42 Prozent bis 2019 – das entspricht dem aktuellen Anteil von Frauen mit Regie-Diplom.
Gefördert wird weiterhin eine wissenschaftliche Studie »zu Werdegang und beruflicher Situation von Regisseurinnen in Deutschland sowie zur Vergabepraxis von Rundfunkanstalten und Fördergremien.« Man bietet den Verantwortlichen bei Fördergremien und Sendern einen Dialog an. Sie glauben: »Eine gerechtere Film- und Fernsehförderung kann nur gemeinsam mit der Politik und den Verantwortlichen in den Sende- und Förderanstalten erreicht werden.« Mal abwarten.
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Ich geb’s zu: Als ich zuerst davon gelesen hatte, dachte ich: Was für ein Schwachsinn! Muss das sein? Gibt es nicht wichtigere Fragen als eine Frauenquote? Wäre es nicht viel besser, die Filmbranche würde gemeinsam dafür sorgen, dass die Filme besser werden, sich zusammentun, anstatt zu spalten? Wäre es nicht besser, zumindest die progressiven Kräfte der Kinoszene würden für Ästhetik und Inhalte kämpfen, für Geld, um die bisher arg begrenzten Fleischtröge und Arbeitsmöglichkeiten zu vergrößern, als für Zugangsrechte zu diesen Fleischtrögen? Auf alle Fälle wäre all das besser. Stimmt schon: Es könnte alles ganz anders sein. Ist es aber nicht. Die deutsche Filmszene, auch die mit Verstand und Geschmack, besteht überwiegend aus Solisten. Sie sollten sich zusammentun, hätten das tun können, haben es aber nicht. Die Frauen dagegen haben sich zusammengetan, und etwas auf die beine gestellt. Sie kämpfen für ihre Interessen. Pech, Jungs! Schaut Euch an, wie man es macht.
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Die Argumente für den Aufruf sind einfach überzeugend. Denn die Zahlen sind in einem krassen Missverhältnis: Aktuell werden über 85 Prozent aller Regieaufträge in Deutschland an Männer vergeben, obwohl 42 Prozent aller Regie-Absolventen von Filmhochschulen Frauen sind. Man muss also gar nicht die weibliche Perspektive beschwören, und bloß nicht im Jargon eines neoliberalen Controllers von Wettbewerb reden. Es geht schlicht um klassische Werte: Gleichheit, Gerechtigkeit, Chancen und Teilhabe.
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Ich bin eigentlich auch gegen Quoten. Wenn überhaupt, müsste es eine Quote für den IQ geben, und für Geschmack, wenn man den messen könnte. Ich bin überzeugt, dass Kunst mit Demokratie nicht das Geringste zu tun hat, eher schon mit Autorität, und dass man über Kunst, über Stil, über Ästhetik, über Qualität und Niveau oder auch über Geschmack nicht demokratisch entscheiden oder gar abstimmen kann, und dass die Demokratie der Kunst oft schweren Schaden zufügt. Mit der Einschränkung, dass Kunst zwar keine Sicherheit braucht, aber ein Minimum an Freiheit.
Jeder meint zudem, wenn er »Quote« sagt, etwas anderes. Ich stelle mir bei Quote ein Schutzsystem für Filme vor, für welche aus Europa, aus Asien und Lateinamerika, und vor allem überhaupt für künstlerisch Schutzwürdiges. Analog zu den Mindestquoten für koreanischen Film, die den Aufstieg des Filmlands Korea überhaupt erst möglich machten. Oder denen für Französisches in Frankreich: Die exception culturelle. »Quote« bedeutet hier: Minderheitenschutz. Für Fernsehintendanten sind Quoten dagegen ein Argument um den neuesten Abstieg im Niveau ihres Senders zu rechtfertigen. Um zu erklären, warum die ARD an einem Abend erst den »Gemüse-Check« bringt, dann vom »Mais-Wahn« erzählt und nicht nur den Leuten, sondern sich selbst einredet, das sei »Service«. »Die Leute wollen es ja so« heißt es dann, in einmal mehr missverstandener Demokratie. »Quote« ist in diesem Fall eine Waffe. Das Mittel einer relativ großen Gruppe, die meistens auch keine Mehrheit ausmacht, um alle anderen kleineren Gruppen zum Schweigen zu bringen, sie zu marginalisieren.
Die Quote wie sie hier und in allen Fällen einer sozialen Quote verstanden wird, ist etwas Drittes: Ein Teilhabeminimum. Sie bezeichnet einen Prozentsatz, bezieht sich auf eine bestimmte soziale Teil-Gruppe und einen Bereich, in dem diese Gruppe unterrepräsentiert ist. Die Quote soll den Anteil erhöhen. Quoten, wenn man sich einmal auf sie geeinigt hat, sind ein gutes Mittel dazu.
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Denkt man diesen Gedanken eines Teilhabeminimums allerdings konsequent zu Ende, dann kommt eine Gesellschaft heraus, in der ich nicht leben will. Eine unfreie, hochregulierte Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die sich nicht über Individuen definiert, sondern über Gruppenidentität. Denn warum sollten eigentlich ausgerechnet Frauen quotiert sein? Warum nicht Alte und Junge? Rassen? Religionen? Kulturen? Einkommen? Bildungsgrad? Politische Positionen? Behinderte? Sexuelle Minderheiten? Ausländer? Oder doch IQ? Und so weiter. Ein unendliches Mosaik von Zugehörigkeitsquoten wäre die Folge, und unsere Gesellschaft sähe aus wie ein Fernsehrat, ein gemainstreamtes Patchwork, in dem nur eines fehlt: Das Individuelle und das Individuum, das sich keiner Gruppe fügt, nicht in sie passt, weil es eben bereits qua Begriff unteilbar ist.
Kann man das wünschen? Das kann man nicht wünschen!
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Aber darum geht es auch gar nicht. Wenn ich die Initiatoren und ihr Auftreten auf der Pressekonferenz richtig verstehe, dann wollen sie das auch gar nicht, denn sie wissen ganz genau, dass eine Quote im Kino- und Fernsehfilm praktisch völlig unmöglich ist. Wie soll das auch gehen? In einer Filmwelt, in der Filme von mehreren Länderförderern und Fernsehanstalten finanziert werden müssen, weil man sie sonst gar nicht machen kann. Wer die Quote wirklich will, der müsste zunächst mal die Filmförderung revolutionieren. Das könnte ja schon mal interessant werden – wenn wir denn diese Revolution wollten. Tatsächlich sollten wir an einer anderen Filmförderrevolution interessiert sein.
Worum es dem Aufruf tatsächlich geht, ist Bewusstseinsbildung. Über eine Schieflage, die einen relevanten Teil der Gesellschaft vom Filmemachen strukturell ausschließt. Die einem de-facto-Berufsverbot gleichkommt. Die Regisseurinnen Maria Mohr und Connie Walther haben es treffend ausgedrückt: Frauen müssen schlechte Filme machen dürfen. Wenn sie das heute tun, war es ihr letzter Film, während man bei Männern von einem Ausrutscher spricht.
Es geht im Aufruf auch darum, auch mit dem Märchen aufzuhören, dass Frauen die besseren Menschen seien. Angela Merkel beweist täglich das Gegenteil. Man könnte aber auch darauf hinweisen, dass die Mehrzahl der Länder-Förderungen nach wie vor von Frauen geleitet werden. Bis Ende 2013 waren nur der bayerische FFF und die ostdeutsche MDM in männlicher Hand. Seit diesem Jahr auch wieder Hessen und die MFG. Ein gesellschaftlicher Roll-Back.
Aber auch unter weiblicher Führung sind die Ergebnisse nicht befriedigend. Zudem wenn man berücksichtigt, dass viele Förderreferenten- und TV-Redakteurstellen weiblich besetzt sind. Es hat sich nicht positiv ausgewirkt. Weder sind die Themen besonders weiblich, noch die Entscheidungen sehr frauenfreundlich. Bei einzelnen Personen, ob aus München, Frankfurt oder Berlin wird sogar offen von »Stutenbissigkeit« und »Zickentum« gesprochen. es gibt Fernsehredakteurinnen, die haben noch nie in ihrem Leben eine Frau gefördert, es gibt Förderentscheiderinnen, da ist es ein offenes Geheimnis, dass bestimmte Männer-Typoen die besten Chancen auf Förderung haben.
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Aber all das ist kein Argument gegen die Quote: Im Gegenteil: Die gerechte Beteiligung von Frauen wird nicht mehr verändern, als die von manchen Frauenbewegten selbstgepflegten und gern kultivierten Mythen, Frauen seien irgendwie anders. Erst die gerechte Beteiligung von Frauen wird mit dieser falsch verstanden Frauenbewegung so aufräumen, wie es die Betriebsräte mit den Mythen der Arbeiterbewegung getan haben. Danach erst kann man sich dann vielleicht wieder auf die Lage der Menschheit konzentrieren, anstatt diese in Identitätsgruppen zu spalten.
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So weit sind wir aber noch nicht. Wer all dies nicht glaubt, der kann sich ja einmal die Erfahrungen zu Gemüte führen, die mehrere Dutzend Film-Frauen (so nenne ich sie jetzt mal, denn sie sind längst nicht nur Film-Regisseurinnen) jetzt für ein Buch formuliert haben. Es ist der Sammelband »Wie haben Sie das gemacht? Aufzeichnungen zu Frauen und Filmen« [http://www.schueren-verlag.de/programm/titel/407–wie-haben-sie-das-gemacht-aufzeichnungen-zu-frauen-und-filmen.html]
Einige von ihnen sind mit den Unterstützern des Aufrufs identisch, andere unterstützen den Aufruf dezidiert nicht. Der Band, den Claudia Lenssen und Bettina Schoeller-Boujou herausgegeben haben, wird am Donnerstag-Abend in der Berliner Akademie der Künste vorgestellt. Es geht darin auch um eine Zwischenbilanz, ein Resümee des politischen Kampfes um Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen.
Die spannenden Texte des Buches machen einmal mehr klar, dass die Debatten keineswegs zu Ende sind. Die Frage der Frauen wird uns auch hier in den nächsten Wochen und Monaten weiter beschäftigen.
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Bei der Frauenfrage geht es um nicht weniger, als ein zentrales Grundrecht: Art. 3 des Grundgesetzes [http://www.gesetze-im-internet.de/gg/] ist deutlich genug: »(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.: (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender
Nachteile hin.«
Noch Fragen?
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Beim Filmfestival von Cannes gab es in diesem Jahr übrigens einen hervorragenden Film zum Thema: Er stammt – nicht zufällig, so scheint mir – aus Frankreich und zwar von der Regisseurin Celine Sciamma, und heißt Bande De Filles (international aka GIRLHOOD), was natürlich nichts anderes ist als eine offene Anspielung auf Godard. Es geht um vier starke, schwarze Girls aus der Vorstadt. Sie haben nichts, also nehmen sie sich alles: Style, Stolz, Freiheit. Ein Film, der uns vorführt (nicht erklärt, warum Freiheit womöglich mehr mit Ästhetik zu tun hat als mit Moral, mehr mit Pop als mit political correctness, mit Musik und Mut und ganz bestimmt gar nichts mit Quoten. Das Motto: »Do what you want!«
Die junge Marieme, die es auch nicht leicht hat, zum Beispiel mit ihrem kaputten Bruder, wird Mitglied einer Frauen-Gang. Sie sind unkonventionell und witzig, sie prügeln sich, wenn es sein muss, und zeigen uns, was Feminismus wirklich heißt: Selbst-Bewusstsein. Es geht um das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbild – darum gucken sich die Girls auch fortwährend im Spiegel an, Filmen sich, beurteilen sich gegenseitig. »Bande de Filles« zeigt uns, was das eigentliche Problem ist, das meiner Ansicht nach auch für viele deutsche Frauen gilt, auch für nicht wenige, die das Papier »Pro Quote Regie« unterschrieben haben: Fehlende Härte, fehlender Mut. Das sind eben keine »männlichen Werte«, sondern universale.
Früher nannte man das alles ja Emanzipation. Auch so ein altehrwürdiger Ausdruck, der etwas demodé geworden ist. Dabei kommt es doch genau darauf an: Sich zu emanzipieren von Rollenschemata, übrigens auch von manchen der Frauenbewegung und zum Individuum zu werden.
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Wenn solche Filme, Filme wie Bande De Filles oder die von Sofia Coppola endlich mal auch in Deutschland gemacht werden, dann dürfen Frauen unbedingt auch schlechte Filme machen und das immer wieder. Versprochen!
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Aber es gibt auch noch andere Themen: Letzte Woche hatten wir an dieser Stelle zur Teilnahme an der offiziellen Europäischen Bürgerinitiative gegen TTIP und CETA aufgerufen. Wir tun das hiermit noch einmal. Denn auch die Produzentenallianz hat sich gegen TTIP positioniert. Die Produzenten sind zwar nicht gegen alles, was man an TTIP kritisieren könnte und lehnen das Abkommen auch nicht rundweg ab, aber sie fordern gravierende Änderungen, die die Amerikaner ablehnen: Vor allem eine »kulturelle Ausnahme« für Audiovisuelles und Medien. »Auch wir Produzenten sind natürlich für einen fairen Wettbewerb«, erklärt Alexander Thies von der Allianz Deutscher Produzenten. »Dass die europäische Filmindustrie im Gegensatz zur amerikanischen Förderung braucht und bekommt, verzerrt nicht den Wettbewerb, sondern macht ihn erst möglich. Ohne Förderung, ohne ‚kulturelle Ausnahme‘ gäbe es den europäischen Film nämlich gar nicht mehr, keine Oscar-Gewinner wie ‚Liebe‘ oder europäische Blockbuster wie ‚Ziemlich beste Freunde‘. Gerade weil wir für fairen Wettbewerb sind, brauchen wir die ‚kulturelle Ausnahme« für Audiovisuelles und Medien … Die ‚kulturelle Ausnahme‘ auch in dem TTIP-Abkommen ist unverzichtbar.«
Wer die Initiative gegen TTIP unterzeichnen will, kann dies hier tun:
https://www.campact.de/Stop-TTIP-EBI
https://www.lobbycontrol.de/ttip-stoppen
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Es gibt allerdings auch noch andere Grundgesetz-Artikel. Noch vor Artikel 3 kommen 1 und 2. Dort heißt es: »Art 1:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
Art 2
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.«
Zuallererst also Würde; dann Entfaltungsfreiheit, Freiheit zu tun, und zu lassen, was man will, das was Werteprediger gern als »Hedonismus« zu diffamieren versuchen. Diese Reihenfolge markiert auch eine Hierarchie der Werte, und die hat uns im Folgenden zu interessieren.
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Aus Münchner Urzeiten her kannten wir ihn noch, hatten ihn sogar ein paarmal persönlich erlebt: Udo Reiter. Er war so einer von denen, die gern mal mit Quoten argumentierten, den Intendantenquoten, Minderheitstotschlagsquoten oder mit anderen groben Klötzen. Aber er hatte auch den Charme eines Machos alter Schule, eine offene ehrliche Haut, der kein Blatt vor den Mund nahm, political correctness und andere Benimmregeln hasste, der innerlich nie borniert war, auch wenn manche seiner Entscheidungen, vor allem als Hörfunkdirektor des CSU-Haussenders BR in den guten alten Zeiten des großen Vorsitzenden FJS manchmal diesen Eindruck erwecken konnten. So kam er denn Anfang der 90er zum MDR, um den Osten auf Linie zu bringen – und tat es dann doch etwas anders als gedacht. Denn Udo Reiter war sich zu schade, für die Union den Stasi-Putzmann zu spielen.
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Er war auch der erste öffentliche Rollstuhlfahrer, jedenfalls der erste, der mir begegnete. Lange vor Wolfgang Schäuble. Ein guter Typ, wenn ich das mal so schreiben darf, das zeigte auch die Art, wie er mit seiner Behinderung umging, ironisch und doch sensibel.
Vor zwei Wochen war Reiter, seit einigen Jahren nicht mehr MDR-Intendant, sondern Ruheständler, in der ZDF-Talkshow »Maybrit Illner« [http://www.youtube.com/watch?v=IW9HnmKbLq0]. Diskutiert wurde da über Sterbehilfe. Reiter spielte die beste, sympathischste Rolle, er war relativ still, aber zwischen lauter Funktionären und Meinungspuppen, zwischen den Pastoren Käßmann (Alkohol) und Hintze (CDU) war er der einzige Authentische, der einzige, dem das, was er sagte, existentielles Anliegen war. Das konnte man spüren.
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Der entscheidende Punkt zielt auf das Grundgesetz: »Ich finde, wenn man das Recht auf Selbstbestimmung, das ja die Grundlage unserer Verfassung ist, für das ganze Leben einfordert, dann muss mir erstmal jemand erklären, warum das gerade für die letzte Phase, für das Sterben nicht gelten soll. Ich finde, das müssen wir verlangen.«
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Udo Reiter sagte außerdem: Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass ich nicht als Pflegefall enden möchte, nicht als jemand, der langsam sein Ich verliert, der von anderen dann gewaschen und gebürstet und gewindelt wird, und ich möchte auch nicht als gutmütiger oder bösartiger Idiot vor mich hindämmern, sondern möchte rechtzeitig sagen können: Es ist sehr schön gewesen. Es hat mich sehr gefreut, aber jetzt möchte ich gehen. … Es sind in Deutschland immerhin 10.000 Leute, die sich jährlich das Leben nehmen. Die Hälfte davon hängt sich an Bäumen oder Fensterkreuzen auf, drei werfen sich jeden Tag vor die Eisenbahn… Ich finde, das ist ein unwürdiger Zustand, das muss nicht sein, da muss es Hilfe geben, und zwar professionelle Hilfe, ärztliche Hilfe zum selbstbestimmten Sterben. … Mir geht es um die Leute, die selbstbestimmt sterben wollen. Da muss es doch irgendeinen Weg geben, dass man human rauskommt. … 70 Prozent der Bevölkerung wollen das.«
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Worum geht es: Der Staat, die Gesellschaft, die selbsternannten Fürsorger greifen exzessiv in unser Leben ein – zu unserem Besten natürlich. Sie verordnen gesundes Essen, Sport, Rauchverbot, Glühbirnen (die giftig sind), Fahrradhelme, und ächten den Freitod.
Wir dürfen theoretisch noch selbstbestimmt leben, aber dürfen wir auch selbstbestimmt sterben? Schwerkranke Menschen haben nur die Gewissheit unerträglicher Schmerzen, eines fortschreitenden Verfalls und eines qualvollen Sterbens. Wenn einem das Leben zur Last wird, warum soll man es dann nicht beenden dürfen? Es muss möglich und erlaubt sein, selbst über sein Leben zu verfügen, selbst bestimmen zu können, wann man dem Leben ein Ende setzt, und zwar völlig unabhängig davon, ob man todkrank ist, oder nicht: Mein Tod gehört mir.
Der Tod gehört zur Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen ja Frau Merkel verfassungsgemäß verpflichtet ist, was sie nicht davon abhält, amerikanische
Foltergefängnisse und andere Menschenrechtsverletzungen zu tolerieren.
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Keiner hat das Recht sich hier einzumischen. Schon gar nicht Gestalten wie die Physikerin Merkel, der Bauer Kauder, der Versager de Maiziere oder der Pfarrer Hintze. Ihnen fehlt jedes Recht, auch nur stellvertretend über meine letzten Stunden zu entscheiden, meinen Weg aus dem Leben zu gehen. Was für eine unsägliche, infame Anmaßung dieser drittklassigen Knallchargen, die schon mit viel schlichteren Fragen überfordert sind!
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Wir sollten das ernst nehmen. Es gibt Menschen, die wollen sterben, ohne dass sie verrückt sind, oder gestört. Freitod kann ein Teil von humaner Kultur, kann ein Ausdruck unserer Würde sein. Eine Woche nach der ZDF-Sendung hat Udo Reiter sich auf der Terrasse seines Hauses erschossen. Wir werden ihm gerecht, wenn wir das nicht kleinreden, oder interpretieren.
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Was den Protest der Frauen mit diesem letzten Akt Udo Reiters verbindet, ist nicht allein der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, die Forderung, dass es mit der Fremdbestimmung endlich ein Ende haben muss. Es ist noch mehr eine sehr prinzipielle, aber am Ende doch auch ganz einfache Einsicht: Man darf nicht warten, bis einem andere das Recht geben. Man muss sich das Recht nehmen. Selbst.
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.
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