Fernsehen ist tot – Es lebe das Geschichtenerzählen

pablo (21)

Im Herbst 2016 hat Oliver Schütte ein E-Book zur Zukunft des Fernsehens in Deutschland herausgebracht. Dabei analysiert er die Entwicklungen, die heute bereits in Ansätzen vorhanden sind und prolongiert sie in die Zukunft. Hier findet Ihr zusammengefasste Auszüge aus dem Buch „Fernsehen ist tot – Es lebe das Geschichtenerzählen“.

Bügelfernsehen und Kostendruck
Oliver Schütte prognostiziert, dass im Jahr 2025 das klassische Fernsehen nur noch ein „Nebenbei-Medium“ sein wird. So, wie es schon einmal dem Radio ergangen ist, das noch in den 1970er Jahren anspruchsvolle Hörspiele und Features gesendet hat, heute aber fast nur noch im Auto gehört und nicht mehr als eigenständiges Nutzungsobjekt wahrgenommen wird, reduziert sich auch das Fernsehen immer mehr zur Hintergrundberieselung. Das sei heute bereits am Programm vor 18:00 Uhr erkennbar (sogenanntes „Bügelfernsehen“). Die erzählerische Konsequenz dieser Entwicklung ist, dass fiktionale Sendungen auch ohne Bilder verstanden werden müssen. Es gilt also, alle wichtigen Informationen auf der Sprachebene zu vermitteln und komplexe Figuren oder Handlungsstränge zu vermeiden. Da nicht sehr viele Zuschauer diesem Programm folgen, müssen die Sendungen kostengünstig hergestellt werden. Schütte meint, dass der Kostendruck weiter zunehmen wird und auch das Programm am Abend, in der Prime Time, der eigentlichen Domäne des fiktionalen Erzählens, immer weniger kosten dürfe. Dies wird spürbare Auswirkungen auf die Qualität der Formate haben. Dann beginnt ein Teufelskreis, weil ein schlechtes Programm noch weniger Zuschauer anziehen wird. Die Zuschauer, die anspruchsvollen Filmen folgen wollen, werden das auf andere Weise tun. Dem abendlichen Fernsehen wird das gleiche Schicksal widerfahren wie dem vorabendlichen. Die Sender rühmen sich, dass die Nutzungsdauer des Fernsehens pro Tag gleich bleibt oder sogar steigt. Im April 2016 lag die tägliche Nutzungsdauer bei 223 Minuten. Geht man jedoch ins Detail, erkennt man, dass bei den Altersgruppen bis 49 Jahre der Fernsehkonsum zurückgeht. Der Anstieg ergibt sich aus Zuschauern der Altersgruppe über 50 Jahre. Die jüngere Generation schaut Filme wann und wo sie will.

Streamingdienste
Wie so oft in der Geschichte der Bewegtbilder werden die Rezeptionsmöglichkeiten und die Vertriebswege von der technischen Entwicklung beeinflusst. Mit dem Internet kam auch das Videostreaming und der Nutzer hat die Möglichkeit, zu entscheiden, ob er Filme und Serien auf dem Smartphone, auf dem Tablet, auf dem Computer oder auf dem Fernseher ansieht. Das lineare Fernsehen ist ein Push-Produkt. So werden diejenigen Produkte bezeichnet, die wir erhalten, ohne explizit danach zu fragen. Pull-Produkte müssen wir uns dagegen holen. Streaming ist ein Pull-Produkt. Streaming bedeutet zunächst nur, dass die Nutzer das audiovisuelle Werk über das Internet sehen. Video-on-Demand bietet den Vorteil, dass das Werk ständig bereitgehalten wird und jederzeit abrufbar ist. Am meisten genutzt wird dies bei YouTube. Hinzu kommen sogenannte Subscription-Video-on-Demand-Dienste (SVoD), die ein Abo-Modell mit einem festgelegten Angebot anbieten, das uneingeschränkt abgerufen werden kann. Die beliebtesten Anbieter sind Netflix und Amazon, aber auch Hulu und HBO. In den USA besitzen 59 Prozent der Haushalte ein Abonnement eines SVoD-Anbieters, 47 Prozent begnügen sich dabei nicht mit einem einzigen Streamingdienst. Bei iTunes, die ebenfalls streamen, muss der Zuschauer für jedes Werk einzeln bezahlen, das er kaufen oder leihen kann. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, dass im Jahr 2020 die Zuschauer einen sehr großen Teil ihrer audiovisuellen Produkte per Stream empfangen werden. Streaming Dienste haben einen für Anbieter unschlagbaren Vorteil: Während klassische Fernsehsender nur quantitativ bestimmen können, wie viele Menschen ihre Sendungen gesehen haben, wissen diese Dienste, was jeder Zuschauer wann, wo und wie lange schaut. Sie kennen also den Geschmack jedes einzelnen Nutzers. Insofern ist es ihnen möglich, zu bestimmen, welche Schauspieler, welche Handlungen und welcher Look bei welchen Nutzern gut ankommt. Dies ermöglicht ihnen auch, auf die Zuschauer zugeschnittene Filme anzubieten. Das klassische Fernsehen versucht, mit seinen Sendungen ein möglichst breites, zahlenmäßig großes Publikum anzusprechen. ARD und ZDF legen die Quote als Überlebensmaßstab an. Sie versuchen die magischen zehn Prozent unter keinen Umständen zu unterschreiten. Denn dann, so die Angst, würde die Diskussion über die Rundfunkgebühren erst richtig losgehen. Das führt zu Produkten, die mit vielen Kompromissen versehen sind. Also nichts Zugespitztes, nichts Originelles. Das Programm, das den geringsten Widerstand erzeugt, wird ausgestrahlt. Streaming-Dienste haben ein anderes Modell als die klassischen Sender, sie wollen dieses breite Publikum gar nicht, weil sie mit jedem einzelnen Produkt eine ganz bestimmte Zielgruppe oder auch Nische treffen wollen und das reicht ihnen dann auch. Deshalb geben auch Netflix und Amazon die Zahlen über ihre Abonnenten nicht raus. Sie müssen sie ja auch keinem Werbekunden erklären. Ihr Geschäftsmodell: man spricht über das Programm, was man bei den Streamingdiensten sehen kann und dadurch gewinnen sie neue Abonnenten. Ihre Kunden müssen bereit sein, zu zahlen – derzeit im Durchschnitt 110,00 Euro im Jahr. Die Zuschauer werden diesen Preis nur zahlen, wenn sie bei dem jeweiligen Streaming-Dienst etwas bekommen, das sie nirgendwo anders sehen können. Dies sind weniger die eingekauften Spielfilme, die in den Kinos liefen, als vielmehr die eigenproduzierten Sendungen. Aber auch hier werden die Zuschauer nur neugierig, wenn sie das Gefühl haben, etwas Spezielles zu erhalten. Bei den frei empfangbaren linearen Sendern sehen sie Filme, die auf den Massengeschmack zugeschnitten sind. Die Streaming-Provider müssen also etwas anderes bieten. Es wird nicht einmal zehn Jahre dauern, bis sich Streaming vollständig durchgesetzt haben wird. Revolutionäre technische Veränderungen setzen sich sehr schnell durch, wie schnell können wir uns bewusst machen. Eine hinterhältige Frage lautet: „Was war die beliebtest App bei der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland?“ Die Antwort erstaunt die meisten. Damals im Jahr 2006 gab es noch keine Apps, weil es noch kein iPhone gab. Das kam erst 2007. Trotzdem kommt es uns heute vor, als existierte es bereits ewig und wir können uns an die Zeit davor kaum erinnern, wie wir ohne Apps zurechtkamen.

The Future of TV is Apps
Im September 2015 veranstaltete Apple eine seiner bekannten Keynotes, und der CEO des Unternehmens, Tim Cook, kündigte eine neue Revolution an: „The Future of TV is Apps“. Er stellte fest, dass sich das Prinzip des Fernsehens seit seinem Bestehen nicht geändert habe. Fernsehen wurde nach Sendern organisiert. Mehr als 50 Jahre galt der Grundsatz, dass die Zuschauer nur das sehen konnten, was die Programme ihnen anboten. Das Fernsehen wird in der Zukunft nicht mehr von Sendern bestimmt, sondern von Apps. Wenn das Fernsehgerät, das dem Zuschauer die Sender ins Haus bringt, nun auch Apps zur Verfügung stellt, dann wird sich das Nutzerverhalten ändern. Wenn auf den Smart-TVs jeder seine persönlichen Apps programmieren kann, wird es in wenigen Jahren auf dem Fernseher so aussehen wie auf den Smartphones, es werden die Logos vieler unabhängiger Anbieter zu sehen sein, die zu den unterschiedlichsten Themen Sendungen anbieten. Die Sender müssen sich damit einer weiteren Konkurrenz stellen, die zu ihrer Marginalisierung beitragen wird.

Was bleibt für das lineare Fernsehen?
Natürlich wird es auch im Jahr 2025 noch in vielen Haushalten ein Fernsehgerät geben und es wird auch noch Sender geben, die ihr Programm linear ausstrahlen. Es gibt immer Ereignisse, wie z.B. Fußballspiele, die nur live zu sehen wirklich Sinn machen. Singuläre Ereignisse, deren Reiz in ihrer Visualität besteht, erschaffen Momente, in denen Fernsehen seine Stärken haben wird. So wird das lineare Fernsehen versuchen, sich darauf zu konzentrieren, vor allem auf spannende Live-Berichterstattung und Sportveranstaltungen. Die Rechte an großen Veranstaltungen wie den Olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften werden jedoch immer teurer. Die Olympischen Spiele nach 2018 sind in Europa schon an den amerikanischen Konzern Discovery gegangen und werden nicht mehr exklusiv über ARD und ZDF ausgestrahlt werden. Daher kann man annehmen, dass das Fernsehen von 2020 noch mehr von Shows geprägt sein wird als heute bereits. Das klassische Fernsehen hat jahrzehntelang diese Events in Form von Unterhaltungsshows selbst geschaffen und wird versuchen, diese Shows noch weiter zu etablieren. (Siehe dazu auch den Artikel vom 4. November 2016 in der Süddeutschen Zeitung: „Im Fernsehen wird so viel gespielt wie nie zuvor“). Die dann noch bestehenden fiktionalen oder halbfiktionalen Programme werden überwiegend Billigproduktionen sein. Als Beleg dafür nimmt Oliver Schütte das Programm, das RTL heute schon ausstrahlt. Bis auf die amerikanischen Formate zeigt RTL ausschließlich billigst hergestellte Produktionen, bei denen die erzählerische Originalität nicht im Vordergrund steht. Werden ARD und ZDF 2020 ein anderes Programm anbieten? Eher nicht, denn ihre Zuschauer werden weniger und älter. Etwas wird sich allerdings ändern: Die privaten Sender haben sich dem Bundeskartellamt gegenüber verpflichtet, bis 2022 ihre Programme unverschlüsselt – also kostenfrei in der Standardauflösung – zu übertragen. Aber was kommt danach? Die HD Ausstrahlung ist schon heute eine lukrative Einnahmequelle. Dann werden höchstwahrscheinlich auch die privaten Sender zu Pay-TV werden.
Ausblick auf 2020 in Deutschland
Je diversifizierter der Markt sein wird, umso mehr gilt es für neue Anbieter Marken aufzubauen. Worüber kann sich eine Marke definieren? Das geht nur über eigenproduzierte Filme und Serien. Den Spielfilm von vor einem Jahr haben alle im Angebot. Das ist der Grund, warum Netflix und Amazon in eigenproduzierte Programme investieren und weitere Anbieter einsteigen. Ökonomisch und künstlerisch sind dabei Serien im Vorteil. Sie binden den Zuschauer für längere Zeit und können eine Marke aufbauen, die auch für das Marketing besser eingesetzt werden kann. Damit setzt sich das Zeitalter der Serien, das in den USA bereits vor einigen Jahren erfolgreich begonnen hat, fort (in den USA wurden 2015 doppelt so viele Serien produziert wie im Jahr 2009). Serienformate im linearen Fernsehen sind gezwungen, sich in ein festes Sendeschema einzufügen. Jede Folge muss auf die Sekunde genau die gleiche Länge haben. Dies führt dramaturgisch und erzählerisch zu künstlichen Filmen. Mal gilt es die Erzählung mit etwas Unwichtigem auszudehnen, dann wieder ist es notwendig zu streichen. Serien, die abgerufen werden, müssen sich nicht an so strikte Schemata halten. Dies hat weitreichende Folgen für das Geschichtenerzählen. Denn es wird automatisch komplexer. Diese Zunahme an Komplexität lässt sich an inhaltlichen und dramaturgischen Neuerungen festmachen, die die amerikanischen Serien schon heute prägen:

– ein großes Ensemble an Figuren
– ambivalente Figuren
– eine Vielzahl von Handlungssträngen
– Genrevielfalt
– kontroverse Themen, die z.T. im direkten Realitätsbezug aktueller Entwicklungen stehen
– nonlineares Erzählen

Während in den USA seit mehr als 15 Jahren sogenanntes „Quality TV” produziert wird, sind in Deutschland Filme oder Serien, die hier mithalten könnten, sehr sehr selten. Die öffentlich-rechtlichen Sender erklären schon seit Jahren, dass sie auch anspruchsvolle Serien machen wollen. Entscheidend für die Serien in Amerika ist, dass die Autoren bestimmen, was und wie erzählt wird. Hierzulande beharren die Produzenten und Sendervertreter jedoch immer noch auf ihre Entscheidungshoheit. Sie bestimmen, was gedreht und gezeigt wird, weil sie glauben, dramaturgisch ausgebildeter und kreativer zu sein als die Autoren. Es ist nicht abzusehen, dass sich das System bis 2020 von innen heraus ändern wird und anspruchsvolle, innovative Serien produzieren lässt. Bei den privaten Sendern ist dieser Anspruch gar nicht vorhanden. Die dadurch entstehende Lücke ist eine große Chance für Streamingdienste, die nun auch auf und für den deutschen Markt produzieren werden. Was die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland dringend bräuchten, ist eine auf längere Sicht geplante Qualitätsoffensive, eine Agenda 2025, die die Rahmenbedingungen für nachhaltige und positive Entwicklungen festlegt, vergleichbar der der BBC, die unter dem Titel „Delivering Quality First“ ihre Strategie so beschreibt: „BBC output should be distinctive.The BBC should regularly include output that breaks new ground, develops fresh approaches, sets trends, and takes creative risks, from drama and comedy to entertainment.“

Produzieren für Streamingdienste
Es dauerte bis deutsche Produzenten verstanden, was Netflix und Co. genau suchten. Jedenfalls nicht das, was in den letzten Jahren hierzulande produziert worden ist. Es lohnt sich, nur das anzubieten, was bei ARD und ZDF nicht gewollt ist. Auch wenn sich im Jahr 2020 Netflix und Amazon etabliert haben werden, werden sie in Deutschland nicht zu einem größeren Phänomen geworden sein. Denn jeder Haushalt zahlt in Deutschland mehr als 200,00 Euro pro Jahr an Gebühren für die öffentlich-rechtlichen Sender. Da ist eine zusätzliche Ausgabe von mindestens 100,00 Euro pro Jahr nicht für jeden bezahlbar. Die Schätzungen für 2020 lauten auf 10 Prozent der Haushalte, die einen Streaming- dienst abonniert haben werden. Das bedeutet, jeder Streaminganbieter wird höchstens zwei bis drei deutsche Serien im Jahr produzieren, also wahrscheinlich insgesamt sechs.

Die Zukunft des Kinos
Bei uns in Deutschland kann der Zuschauer einen Film zuerst nur im Kino sehen und erst sechs Monate später über Download-Portale beziehen. In Amerika ist die Frist kürzer und betrug einmal sogar nur 17 Tage. In Deutschland haben wir das Phänomen, dass die meisten Kinofilme von Sendern koproduziert wurden und damit auch fernsehtauglich entwickelt und eben auch im Fernsehen ausgestrahlt werden. Dass mehr Zuschauer dafür ins Kino gehen werden ist unwahrscheinlich. Da in Deutschland die Herstellung und der Verleih von Kinofilmen staatlich gefördert wird, besteht von Seiten der Filmemacher und Produzenten kaum Veränderungsbedarf. Die Gesetze des Marktes sind schon seit Jahrzehnten ausgehebelt. Ein normaler deutscher Film hat sich für die Produzenten schon bei der Fertigstellung wirtschaftlich gerechnet, so Schütte. Es besteht zwar der Ehrgeiz, viele Zuschauer zu generieren, aber nicht unbedingt die wirtschaftliche Notwendigkeit. Kaum ein Film spielt mehr als die Herstellungskosten ein. Darum wird es auch in Zukunft nicht zwingend notwendig sein, den Film gleichzeitig im Kino und bei einem Streamingdienst anzubieten. Streaming-Anbieter werden eine dem Kino untergeordnete Zweitverwertung bleiben. Im Jahr 2020 wird es in Deutschland weiterhin ausgesprochen erfolgreiche Filme geben, die sicherlich weiterhin von männlichen Schauspielstars dominiert werden und sich im Genre auf das erfolgreiche Muster der Komödie verlassen. Kurz und gut: Kino in 2020 wird nicht anders sein als heute.

schütteÜber Oliver Schütte: Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Publizistik und Soziologie arbeitete Oliver Schütte freiberuflich als Drehbuchautor. Zudem war er als Dramaturg tätig, drehte Nachrichtenfilme und leitete in dieser Zeit die Fernsehfachschule für TV-Journalisten, Kameraleute und Cutter in Schwerin. 1995 gründete er die Master School Drehbuch. Parallel begann er eine umfangreiche Lehrtätigkeit im In- und Ausland und war Mitbegründer der Development Agentur Script House. Im Jahr 2000 initiierte er das Scriptforum. 2001 und 2007 nahm er Einladungen als „Writer in-residence“ am Grinnell-College in den USA an. Neben vier Jahren bei der Auswahlkommission des Österreichischen Filminstituts war er Gründungsmitglied der Deutschen Filmakademie. oliverschuette.de