Von der Seifenoper zur Kunstform
Während sich die inhaltliche Diskussion in Deutschland nach wie vor um die Frage dreht, wie man auch in unserer Fernsehlandschaft horizontal erzählte Serien mit nicht uneingeschränkt sympathischen Hauptfiguren erzählen könnte, geht die Entwicklung der Serien in den USA bereits einen Schritt weiter, wie Matt Zoller Seitz in einem äußerst lesenswerten Artikel auf Vulture zeigt.
Die Renaissance der Fernsehserie wurde letztlich durch das Aufbrechen der in sich geschlossenen Episodenstruktur hin zu staffelübergreifender, horizontaler Erzählweise ausgelöst, die es ermöglicht, wesentlich komplexere Geschichten und tiefere Figurenentwicklungen zu erzählen. Erst dadurch konnte das künstlerisch bis dato eher belächelte Erzählformat Fernsehserie eine erzählerische Kraft entfalten, die an die der besten Romane heranreicht.
Allerdings hat sich schnell gezeigt, dass die horizontale Erzählweise im Umkehrschluss auch bedeutet, dass man eine Serie nicht mehr beliebig lang, open-end, fortsetzen kann. Denn wenn es eine horizontale Entwicklung der Figuren gibt, dann muss die auch irgendwann zu einem Ende kommen, wenn es nicht hanebüchen werden soll.
Das selbe gilt für die Handlung: „Homeland“ hat eindrucksvoll gezeigt, wie man eine Serie ruinieren kann, wenn man die Prämisse einer Geschichte überdehnt und auf Teufel hinaus versucht, Staffel um Staffel aus ihr herauszupressen.
Im Gegensatz dazu beruht die herkömmliche Fernsehserie mit ihren abgeschlossenen Episoden im Wesentlichen darauf, dass am Ende einer Episode wieder die Ausgangssituation hergestellt ist. Man hat es hier letztlich mit statischen Figuren zu tun, die sich über die einzelnen Episoden hinweg gar nicht oder nur kaum verändern. Erzählerisch bleibt man damit in einer einmal etablierten Ausgangssituation und erzählt nur immer wieder nur neue Episodengeschichten, in denen nichts wirklich Bahnbrechendes passieren darf, weil das nur die Zuschauer irritieren würde, die diese Folge verpasst haben.
Kein Wunder also, dass die horizontal erzählten Serien das Publikum so beeindrucken: sie eröffnen eine völlig neue Dimension des Geschichtenerzählens.
Die Form wird aufgebrochen
Das alles geschah bislang aber immer noch innerhalb einer relativ rigiden Struktur, die sich aus dem Programmschema der linearen Fernsehsender ergab: Episoden von 50 Minuten Länge, Staffeln aus acht bis zwölf Folgen – und davon möglichst viele.
Diese formale Limitierung wird bei den neuesten amerikanischen Serien immer mehr aufgebrochen: „True Detective“ erzählt in jeder Staffel einen anderen Fall mit einem anderen Ermittlerteam in einer anderen Stadt. „Fargo“besteht aus zehn nur lose miteinander verknüpften, eigenständigen Geschichten. Die meisten Folgen der letzten Staffel von „Sons of Anarchy“ waren deutlich länger als 50 Minuten und das Finale kam, wie bei „Breaking Bad“, in Spielfilmlänge.
Möglich wird diese formale Experimentierfreude durch die veränderten Sehgewohnheiten der Zuschauer, die sich per Stream oder DVD lieber eine Folge nach der anderen ansehen, anstatt eine ganze Woche zu warten, bis im Fernsehen gerade mal eine weitere Folge ausgestrahlt wird.
Dass sich das starre Erzählschema aufzulösen beginnt, ist damit auch ein Zeichen dafür, wie stark das klassische lineare Fernsehen inzwischen an Einfluss verloren hat. Es sind nicht mehr die Fernsehsender, die aus programmlichen Gründen diktieren, wie eine Serie auszusehen hat – es ist zunehmend die Geschichte selbst, die ihre Erzählform bestimmt, befeuert durch ein Publikum, das nach außergewöhnlichen Geschichten dürstet.
Wie Seitz schreibt, erobert das Fernsehen damit nicht unbedingt Neuland, vielmehr kehrt es zu seinen Ursprüngen zurück. Wie neu und revolutionär uns diese Erzählformen heute vorkommen, zeigt vor allem, wie durchkonfektioniert und zielgruppenoptimiert das lineare Fernsehen seit den 80er Jahren geworden ist.
Das Schwere Erbe der Seifenoper
Auch in Deutschland gab es bis in die 90er Jahre hinein horizontal erzählte Serien, die vielschichtige Figuren und komplexe Geschichten erzählt haben – und beim Publikum ankamen: die 13-teilige Serie „Rote Erde“ etwa, die die Geschichte einer Bergarbeiterfamilie zwischen dem Ende des 19. und der Mitte des 20. Jahrhunderts im Ruhrgebiet erzählte. Oder Edgar Reitz‘ Serie „Heimat“ von 1984, die in elf Episodenin unterschiedlichen Längen zwischen 58 und 138 Minuten erzählt wurde und ein riesiges Publikum erreichte (bevor sich Reitz mit den weiteren „Staffeln“ zunehmend dem Publikum verweigerte).
Dass es in Deutschland keine Serientradition gebe, wie immer mal wieder behauptet wird, ist also schlicht und einfach falsch. Wir haben es nur verlernt. Erst mit dem Aufkommen des Privatfernsehens ist es durch konsequente Quoten- und Profitmaximierung zu einer auf Massengeschmack getrimmten Vereinheitlichung des fiktionalen Erzählens gekommen, die das Publikum heute mehrheitlich langweilt.
Das geht aber nicht nur uns so, sondern auch dem amerikanischen Publikum. Denn die erzählerische Massenkonfektionierung ist nur die logische Konsequenz eines sich aus Werbeeinnahmen finanzierenden linearen Fernsehens. Schließlich geht es dem nicht darum, dem Publikum ein möglichst attraktives Produkt in Form möglichst guter Geschichten zu liefern, sondern darum, ein möglichst großes homogenes Publikum für ihre Werbung zu generieren. Die daraus als Werberahmenprogramm entstandenen Seifenopern prägen bis heute die Dramaturgie der Fernsehserie der Mainstream-Sender: in sich geschlossene Episoden ohne größere horizontale Entwicklungen mit sympathischen Hauptfiguren und Geschichten, die niemanden verschrecken. Wie bei allen werbefinanzierten Unternehmungen ist eben auch beim kommerziellen Fernsehen das Publikum das Produkt – der Kunde ist der Werbetreibende.
Nur durch die einzigartige wirtschaftliche Dynamik des amerikanischen Kabelfernsehmarktes konnte der Zuschauer wieder zum Kunden und die Serie wieder zum Produkt werden, das der sich aussucht. Erst die künstlerische Befreiung von der Diktatur der Quote hat zum neuen goldenen Zeitalter des Fernsehens geführt – und findet deshalb auch nach wie vor weitgehend abseits des klassischen linearen Fernsehens statt, dessen Abhängigkeit von der Quote durch stetig sinkende Marktanteile eher noch größer wird.
Streaming-Anbieter wie Netflix und Amazon werden diesen Trend noch ungemein verstärken. Ohne das Gefängnis des rigiden Programmschemas der linearen Fernsehsender sind sie perfekt dazu in der Lage, dem Publikum das zu bieten, was es will. Wie hat Kevin Spacey es so schön auf den Punkt gebracht? „Give people what they want, when they want it, in the form they want it in.“
Die große Hoffnung, die das deutsche Publikum in einen Start von Netflix in Deutschland setzt, gründet sicherlich auch in der diffusen Ahnung, dass nur finanzstarke Akteure mit einem neuen Geschäftsmodell in der Lage sein werden, die verkrusteten Erzählkonventionen der deutschen Fernsehserie aufzubrechen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, aber der Erfolg der neuen amerikanischen Serien beweist vor allem eines: Erst wenn sich die Fernsehserie vom Fernsehen emanzipiert, kann sie ihr volles Potential entfalten. Befreit von formalen wie inhaltlichen Erzählzwängen hat sie das Zeug dazu, zur bedeutendsten Kunstform unserer Zeit zu werden. Die Entwicklung zeigt klar in diese Richtung.
Das goldene Zeitalter der Fernsehserie hat erst begonnen.
Zuerst erschienen auf Drama-Blog.de
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