Berlinale: Globale Perspektiven 

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Die Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ ist längst keine Nische für den Nachwuchs mehr. Die Filme greifen aktuelle Brennpunkte auf und zeigen an, welche Themen die nächste Generation beschäftigt. Der Dokumentarfilm „Vergiss Meyn Nicht“ basiert auf dem Originalmaterial eines Filmstudenten, der während einer Räumung im Hambacher Forst starb. | Foto © Made in Germany

Wenn alle nur auf den Wettbewerb starren, zieht hinten vielleicht unbemerkt die Zukunft vorbei. Gerade in der kleinsten Sektion bot sich eine echte „Perspektive Deutsches Kino“.

Längst ist die Sektion Perspektive Deutsches Kino kein Nebenschauplatz, bespickt mit deutschen Nischenproduktionen. Jetzt sollte man auch endlich mal die pauschale und oft maulig dahingeworfene Abwertung der Beiträge als „deutsche Perspektivlosigkeit“ ablegen. Leicht haben es die Filme der Sektion dieses Jahr in Konkurrenz mit den Haupt- und Nebensektionen der Berlinale trotzdem nicht gehabt. Wenn im Hauptwettbewerb des Festivals gleich fünf deutsche Filme antreten, ist es ungleich schwerer, Redaktionen und Publikum für die „Perspektive“ zu begeistern. Auch die Nebensektionen fuhren jede Menge Titel aus Deutschland ein. Das Generation-14plus-Programm öffnete mit „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ von Sonja Heiss, die 2007 mit „Hotel Very Welcome“ Perspektive-Teilnehmerin war. Im Berlinale Special zeigte Robert Schwentke seinen „Seneca“-Film. Auch er hatte von der Perspektive bereits eine Chance bekommen. 2003 liefen seine „Eierdiebe“ im Programm. Es gab noch mehr Titel, die von der Aufmerksamkeit für die kleinste Reihe des Festivals (was die Anzahl der Produktionen betrifft), weglenkten. Davon demnächst an anderer Stelle, in einem anderen Text. Um es noch einmal zu betonen: fünf deutsche Filme liefen im Wettbewerb. Zum Teil alte Bekannte mit Dauerabonnement. Wer neue Namen, neue Talente entdecken wollte, musste also die Sektion wechseln.

Diesen Misstand der Sichtbarkeit der Sektionen kann man durchaus der Berlinale als Gesamtes ankreiden. Die Grenzen der einzelnen Sektionen verfließen mehr und mehr und nehmen damit den jeweiligen Programmen die Kontur. Es wurde darüber hinaus kaum die Werbetrommel gerührt. Auf der Programmpressekonferenz hätte man der internationalen Presse die Neubesetzungen in der Programmleitung der Nebensektionen (neben der Perspektive die Sektion Generation) sichtbar machen können. Nicht nur konnten die Nebenreihen ihr jeweiliges Programm nicht vortragen, die neuen Sektionsleitungen konnten sich selbst auch nicht vorstellen. Stattdessen wurden lieblos die Filmtitel der Hauptwettbewerbe Internationaler Wettbewerb und Encounters heruntergespult. Eine vertane Chance. Denn: Von 2011 bis 2022 war Linda Söffker die Sektionsleiterin der Perspektive. Seit dem aktuellen Jahrgang hat Jenni Zylka das Zepter übernommen. Wer jetzt unter den internationalen Presseleuten Jenni Zylka nur als Moderatorin der Berlinale Pressekonferenzen kannte, wußte vielleicht auch nicht, dass sie bereits, neben all ihrer anderen journalistischen und filmischen Tätigkeiten, Jahre lang in der Auswahlkommission Spielfilm der Sektion Panorama gewirkt hatte.

Das Motto des diesjährigen Programms der Sektion Perspektive Deutsches Kino lautete „Küsse, Kämpfe, Kollisionen“. Kuschelkurs und harmoniesüchtige Belanglosigkeiten sollte man also nicht erwartet haben. Damit greift die Reihe der deutschen Nachwuchsfilme die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Brennpunkte auf und zeigt an, mit welchen Themen sich die jungen und nicht immer ganz so jungen Jungfilmemacher und -Macherinnen unserer Zeit beschäftigen. Das sind selbstverständlich feministische, politische und gesellschaftliche Themen und durchaus mit Kampfansage. Jenni Zylka stellte sich bei der Auswahl die Kritierien: hat ein Film Relevanz und ist er universal verständlich und bedeutend? Ferner spielte eine Rolle: Wollen die Filme etwa verändern? Auch auf die Gewerke blickte sie. Dabei greift sie die Initiative ihrer Vorgängerin Linda Söffker, die Gewerke sichtbarer zu machen, wieder auf. Unter dem Label „Perspektive Match“ wird jeweils ein Gewerk mit einem/einer Vertreter/in des Bereichs zu einem Gespräch mit dem jeweiligen Crewmitglied zusammengebracht. Darunter fallen nicht nur Regie und Schauspiel, sondern auch Filmmusik oder Schnitt. Einige deutschsprachige Medien haben mit Jenni Zylka gesprochen. Zum Beispiel der Berliner Filmfestivalblog oder „EPD Film“.

Dieser 22. Jahrgang umfasste erstmals wieder eine zweistellige Anzahl an Filmen. Im ersten Corona-Jahr, 2021, waren es nur sechs Filme gewesen. Letztes Jahr steigerte sich die Auswahl auf sieben Titel. 2023 umfasste das Programm zehn Werke. Vier Spielfilme, drei Dokumentarfilme und drei mittellange Filme, die sich nicht nur aus den aktuellen Hochschulabgängen bedienten. Mit Salzgeber, W-Film, Jip Film und Film Kino Text haben sich die kleineren, engagierten Verleihe bereits mit den wichtigstens Langproduktionen eingedeckt. Man kann die Filme also auch demnächst im Kino sehen. Die Sektionsanforderung beschränkt die Filmauswahl auf Erst- und Zweitfilme. Neun der zehn Titel waren Weltpremieren. Nur ein mittellanger Titel wurde bereits in Sundance gezeigt. Alle Langefilme waren Erstlingsfilme. Sechs der Werke kommen aus den Hochschulen.

Die Perspektive Deutscher Film präsentierte zwar deutsche Produktionen, aber die Gewerke waren durchaus in ihrer Besetzung international. Zum Beispiel der mittellange Spielfilm „Ash Wednesday“. Das Regieduo Bárbara Santos und João Pedro Prado stammt aus Brasilien. Sie ist bereits als Autorin, Theaterregisseurin, Schauspielerin und Aktivistin tätig, er studierte zuerst Audiovisuelle Medien an der Universität von São Paulo, ging dann an die FU Berlin und wird nach „Ash Wednesday“ seinen Abschlußfilm an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf drehen. „Ash Wednesday“ wurde auf einer nachgebauten Bühne gedreht, die Handlung spielt aber in einer Favela von Rio de Janeiro. Zeitlich parallel zum Karneval von Rio wird der Alltag hier von Drogen und Polizeigewalt bestimmt. Hauptaugenmerk liegt hier auf die Musik. „Ash Wednesday“ erzählt seine Handlung über die Musical-Texte.

Die Regisseurin von „Die Brautentführung“ („El secuestro de la novia“), Sophia Mocorrea, ist Deutsch-Argentinierin. Ihr Abschlußfilm an der Filmuniversität Babelsberg wurde von Sundance in den Wettbewerb für den besten internationalen Kurzfilm platziert und gewann. Erfolg auf der internationalen Bühne? Check! „Die Brautentführung“ ist mit das Beste, was ich dieses Jahr auf der Berlinale gesehen habe und die Filmlänge ist kein Kriterium. Es gehört schon, besonders bei Festivaleinreichungen, ein Selbstbewußtsein dazu, zu wissen, wann ein Stoff rund und auserzählt ist. „Die Brautentführung“ erzählt seinen Clash zweier Familien, zweier Kulturen und damit auch von überkommenen Rollenbildern und Sitten auf den Punkt. Für sich hat das Hochzeitspaar, das hier im Fokus steht, keine Berührungsängste. Selbst Gendertausch begreifen sie als ein Spiel, um sich auszuprobieren. Doch zur Hochzeit kommen sowohl ihre als auch seine Eltern. Sie, Luisa (Rai Todoroff) stammt aus Argentinien und er, Fred (David Bruning), aus Brandenburg. Da sie aber in Brandenburg leben, mischen sich seine Eltern entsprechend mehr ein. Während er zunehmend dem Druck seines Umfeldes widerstehen muss, ein scheinbar zum Scheitern verurteiltes Gebahren, wird sie mit urgestrigen Traditionen wie die „Brautentführung“ konfrontiert. Mitten in ihrer Hochzeitsfeier wird sie von der Polizei verhaftet, aufs Revier gebracht und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhört. Da sitzt jede Dialogszene und entlarvt den xenophoben Provinzialismus, der auch zutiefst frauenfeindlich daherkommt. Die Braut spielt zuerst mit und denkt sich ihren Teil. Dem Publikum bleibt die Spucke weg. Aus ihrer anfänglichen Irritation wird zunehmend Fassungslosigkeit.

Den Clash zwischen der Deutschen und der alten, türkische Heimat thematisiert Engin Kunda?s Debütfilm „Ararat“. Die Hauptfigur, Zeynep (Merve Aksoy), verursacht in Berlin einen Autounfall. Was es mit diesem Unfall auf sich hat, bleibt im Dunkeln. So wie gefühlt der ganze Film im bedrückenden Dunklen spielt. Zeynep reist oder flüchtet in die Türkei, wo sie auf ihre Familie trifft, deren Mitglieder ebenso verschlossen wie mysteriös wirken. Engin Kunda? wurde in Deutschland geboren. Sein Studium an der IFS schloß er mit dem gleichnamigen Kurzfilm 2012 ab. Er setzt bei „Ararat“ auf eine beklemmende Atmosphäre mit teils autoaggressiven Figuren, die alle ihre Gemeinnisse hüten. Verstehen kann man den Film vielleicht nur mit dem Bauch. Einfach macht der Regisseur es dem Publikum nicht, auch weil er sich einfachen Antworten oder überhaupt Antworten nach der Beziehung zwischen den Figuren und der Art ihrer Verweigerungen entzieht.

Ein ganz anderes Problem hat die Titel gebende Figur in „Elaha“ von Milena Aboyan. Aboyan, geboren als Kurdin in Armenien, durchlief zuerst eine Schauspielausbildung bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. „Elaha“ entstand als reifer Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg. Elaha, gespielt von Bayan Layla, steht kurz vor ihrer Heirat. Ihr Verlobter ist der Bruder ihrer Arbeitgeberin und hat Ambitionen. Seiner Herkunft ist er soweit verbunden, dass er in der Aufforderung seiner Eltern, Elaha möge ihre Jungfräulichkeit doch mit einem ärztlichen Attest bestätigen lassen, kein Problem sieht. Elaha hat jedoch ein Problem. Dabei wird der medizinische Wissensstand um das Jungfrauenhäutlein außen vor gelassen. Es geht ausschließlich um die Auswirkung, die diese archaische Tradition auf Elaha hat. Sie hatte schon einmal Sex. Sie will diese Ehe. Also bemüht sie sich darum, dieses Attest dennoch zu bekommen. Wo ein Bedarf ist, ist auch ein Markt. Es fehlen ihr jedoch die finanziellen Mittel. Milena Aboyan stellt ihre Titelfigur zwischen ihr nach Außen zur Schau getragenes Selbstbewußtsein und der patriarchaisch frauenfeindlichem Selbstverständnis ihres Umfeldes. Sie läuft von hier nach da, um einem Konstrukt zu gehorchen, dessen Selbstzweck ihr sicherlich mehr und mehr bewußt wird, und von dem sie sich doch nicht so einfach lösen kann. Auch in der Bildsprache zieht Aboyan (Kamera: Christopher Behrmann) auf Enge und eine begrenzte Farbpalette. Elaha stellt die ihr auferlegten Regeln zunehmend in Frage, ist aber von den Erwartungen ihres nicht kurdischen Freundeskreises gleichsam überfordert. Bis zur Selbstbestimmung ist es ein schwerer Weg.

Eher zufällig kamen das Regieduo Kilian Armando Friedrich und Tizian Stromp Zargari von der Hochschule für Fernsehen und Film München auf ihr Thema. Campingwagen direkt vor einem Atomkraftwerk? Urlaubsidylle sieht anders aus und mit Urlaub hat das Leben dieser Campingbewohner wahrlich nichts zu tun. Deren Bewohner sind sogenannte „Atomnomaden“ (im Original heißt der Film „Nomades du nucléaire“). So der deutsche Titel des Dokumentarfilmes, der Vertreter dieses prekären Berufstandes durch Frankreich von AKW zu AKW folgt. Kilian Armando Friedrich, Tizian Stromp Zargari und ihr Kameramann Jacob Maria Kohl mietete sich für drei Monate einen Camper und teilten in der Zeit die Lebensweise er Arbeitenden, die für Subsubsub-Unternehmer hautpsächlich nachts die Atommeiler putzen. Nicht nur die Konkurrenz um den Job treibt die Gig-Economy-Worker um, gut bezahlt wird das auch nicht. Aber wenn sie von Standort zu Standort wechseln, können sie sich eine Reisepauschale dazuverdienen. Um Geld für die Unterbringung zu sparen, leben sie praktisch vor der Tür im Wohnwagen. Fern ihrer Familien. Das Filmtrio, die beiden Regisseure waren auch für den Ton zuständig, konzentrieren sich auf die Erschöpfung der Mitwirkenden, auf ihre Isolation, die Einsamkeit fern der Familie. Die Atomwerke ragen im Hintergrund mächtig über sie hoch. Dank moderner Kameras konnte das Team viel nachts drehen und so bauen sie eine Atomsphäre auf, in der die Anlagen im Dunkel förmlich glühen. Die Tonspur vermittelt zusätzlich Beklemmung. Hell wird es in diesem Film praktisch gar nicht. Es bleibt zu hoffen, dass „Nomades du nucléaire“ nach einer Festivaltour nicht nur als eine auf 52-Minuten heruntergekürzte Fernsehfassung überlebt. Auch wenn die drei Filmemacher Beobachtende bleiben, ist ihr Blick auf dieen Aspekt unserer Energieversorgung präzise und visuell durchaus atemberaubend.

Von politischer Brisanz ist auch der Dokumentarfilm mit dem prägnanten Titel „Vergiss Meyn nicht“. Gerade erst hat der Konzern RWE das Dorf Lützerath für den Tagebau „erschlossen“. Aktueller könnte ein Film über die Aktion „Hambi bleibt!“, über den Hambacher Forst, das liegt nur wenige Jahre zurück, also gar nicht sein. Ein politischer Film ist „Vergiss Meyn nicht“ dennoch nur bedingt, auch wenn seine dringlichste Frage ist, wie weit Aktionismus gehen darf beziehungsweise wie weit er gehen muss. Der Titel weist jedoch auf die Intention der Filmemachenden hin. Fabiana Fragale, Kilian Kuhlendahl und Jens Mühlhoff haben gemeinsam an der Kunsthochschule für Medien Köln studiert. Zusammen mit Steffen Meyn. Ihre Arbeit ist ein Gedenken an ihren Kommilitonen. Gleichzeitig ein Aufarbeiten der Trauer, dass einer der ihren nicht mehr unter ihnen ist. Darüber hinaus die Frage, wie man das einordnen kann, was passiert ist. Steffen Meyn wollte die Waldbesetzung des Hambacher Forstes gegen die anstehende Erschließung für die Braunkohle durch den Konzern RWE dokumentieren und starb, obwohl er ein erfahrener Kletterer war, durch einen Sturz von einer sich lösenden Hängebrücke zwischen zwei der bis zu 30 Meter hohen Bäume, als der Wald geräumt werden sollte. Mit einer 360-Grad-Helmkamera ging der Student damals in den Wald und filmte erst einmal alles, was möglich war. Steffen Meyn freute sich über die Möglichkeiten der Kamera. Er ruft voraus, wenn er kommt und fragt, ob es in Ordnung sei, wenn er filmt. Mehr und mehr ist er mittendrin. Er befragte die Baumhausbesetzer und dokumentierte auch deren Bestreben eine alternative Ordnung in dem Baumhausdorf zu etablieren. Das KHM-Köln-Projekt wurde damals von Ute Hörner, Mathias Antlfinger, Thomas Hawranke und Ingo Haeb betreut. Die Leerstelle, die sein Tod bei den Kommilitonen heute noch hinterlässt, ist der Ausgangspunkt. Das Material, das nun auf der Leinwand zu sehen ist, ist darum zu einem gewichtigen Teil das Material, dass Meyn damals aufgenommen hatte und die Kamera lief bis zum Schluß. Seine Kommilitonen befragten seine Weggefährten und Freunde nach der Verantwortung und nach den höheren Zielen. Was dabei untergeht ist allerdings: was hat sich wirklich zugetragen und wer trägt dafür unmittelbar und mittelbar die Verantwortung?

Eine ganz andere Baustelle vermittelt der mittellange Studentenfilm „Langer langer Kuss“. Ein Kuss, der nicht enden soll. Ein Kuss, der sich für die Hauptfigur, Aaron, gespielt von Nils Thalmann, verfestigt und zur Obession wird. Sein Regisseur, Lukas Röder, studiert seit 2017 Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Bei seinem Psychogram handelt es sich noch um einen Übungsfilm. Gedreht auf die begrenzte Dauer von fünf Drehtagen. Mit dem Hofer Goldpreis für sein „Gehirntattoo“, das war 2021, verdient er für den aktuellen Film die Aufmerksamkeit der Sektion. Die Kämpfe, die Aaron ausfechten muss, richten sich gegen die Psychosen, die er erst gar nicht wahrhaben will. Um den Geschmack dieses letzten Kusses vor einer Trennung von seinem Ex nicht zu verlieren, beschließt Aaron, sich nicht mehr die Zähne zu putzen. Röder spricht, im Presseheft, seine eigene Erkrankung offen an. Wichtig sei es, Hilfe annehmen zu können, und jemanden zu haben, der an der geduldig an der Seite bleibt und nach Kräften hilft. An Aarons Seite steht seine Schwester Lina (Luisa Bocksnick), die kaum zu ihm durchdringt und auch nicht weiß, wie sie helfen kann. Psychische Erkrankungen sind in unserer Gesellschaft immer noch eine große Unbekannte, obwohl viele sie direkt durchlebt haben und durchleben. Ein Tabu. „Langer langer Kuss“ ist kein Wohlfühlfilm, das will er auch wirklich nicht sein. Vielmehr zeigt Röder, was ist, was sein kann, zeigt das Innere und das Äußere. Und vermittelt.

Um die Betrachtung von komplexen Gefühlen im Konflikt zwischen den Generationen geht es in dem Abschlußfilm an der DFFB von Tanja Egen. Ihr Langspielfilmdebüt „Geranien“ heißt international „On Mothers and Daughters“, was die Sache ganz gut trifft. Nina, gespielt von Friederike Becht, reist zur Beerdigung ihrer geliebten Großmutter in die heimische Provinz. Ihre Verbindung mit der Großmutter ist wohl so eng, wie die Beziehung zu ihrer Mutter Konnie (Marion Ottschick) es nicht ist. Tanja Egen behandelt Sprachlosigkeit, und scheinbar unüberbrückbare familiäre Gräben. Erst folgen wir Nina, die als Schauspielerin zwar gerade erfolglos ist, aber sich trotzdem der Vorurteile erwehren muss, dass sie sich wohl für etwas Besseres hält. Ihre Ambitionen sind das Theater. Ihre Mutter kann höchsten was mit dem „Traumschiff“ anfangen. Doch auch die Mutter ist Tochter. Die Tochter, die gerade ihre Mutter verloren hat, mit der sie ein ähnlich problematisches Verhältnis hatte, wie ihre Tochter zu ihr. Es ist vielleicht ungerecht, dass „Geranien“, übrigens eine Co-Produktion mit dem ZDF „Das kleine Fernsehspiel“, mit Filmen konkurriert, die auf den ersten Blick relevanter und kämpferischer daher kommen. Das gehobene Mittelschicht-Drama kann im Vergleich mit Themen wie Aktivismus, kultureller und gesellschaftlicher Unterdrückung nicht gleichwertig punkten. 

Eine Crux, die sich Festivalteilnehmerfilme wohl teilen. Man sieht nichts nur für sich, sondern immer unter dem Eindruck von mehreren Filmssichtungen am Tag. Jetzt aber zum Heiner-Carow-Preis der Defa-Stiftung. Den gewann dieses Jahr das Langspielfilm-Erstlingswerk des Schauspielers Fabian Stumm, der für „Knochen und Namen“ nicht nur Regie und Drehbuch stemmte, sondern auch eine der Hauptrollen spielte. Boris heißt diese Figur und ist Schauspieler. Er lebt mit dem Schriftsteller Jonathan (Knut Berger) zusammen. Oder vielleicht auch eher nur nebeneinander her. Ihre Beziehung ist auch nicht mehr das Gelbe vom Ei. Inspiriert wurde Stumm von dem Ende seiner letzten Beziehung in seinem realen Leben. Jonathan geht ganz im Schreiben auf und Boris lernt am Set seiner aktuellen Schauspieltätigkeit jemanden kennen. Fabian Stumm seziert nicht nur die immer weiter auseinander driftenden Brüche einer Beziehung, sondern verwischt auch gleich das Fiktive, mit dem die Rollen in ihrer Arbeit umgehen, mit dem Realen. Man könnte auch sagen, jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Zwischendrin und damit sich nicht alles nur um diese zwei dreht, steht die kleine Nichte (Alma Meyer-Prescott) von Boris. Sie möchte etwas an Aufmerksamkeit abbekommen und findet dafür Wege, wenn auch nicht gerade einfache. Fabian Stumm, der sein Schauspielstudium am Lee Strasberg Theatre & Film Institute in New York absolvieren konnte, verzichtete auf das monatelange Klinkenputzen und Warten, ob irgendwelche Anträge auch fruchten, sprich er verzichtete auf die Filmförderung und stemmte den Film höchstselbst. Dass er damit nicht falsch lag, davon zeugt übrigens der Offene Brief, den Björn Koll, ehemalig jahrzehntelanger geschäftsführender Gesellschafter des Verleihs Salzgeber, der „Knochen und Namen“ in die Kinos bringen wird, Anfang März veröffentlicht hat. Koll bemängelt, dass queere Filme in Deutschland gemeinhin nicht gefördert werden. Ohne Förderung zu arbeiten, muss man sich aber erst einmal leisten können. Auch wenn Cast & Crew sich aus guten Bekannte rekrutieren und auf Rückstellung arbeiten. In der Begründung der Auszeichnung heißt es: „…nicht zuletzt lebt der Film durch seine Theatralität, die sich im spielerischen Umgang der Wechselwirkungen zwischen Kunst und Realität spiegelt, aber auch im Konzept der Bildgestaltung und -komposition. Theaterbühne wie weiße Wände werden zur Projektionsfläche einer nicht ganz so unerträglichen Leichtigkeit des Seins.“ 

Am Ende komme ich zum Anfang. Und damit zu dem Gewinner des Kompass-Perspektive-Preises 2023. Der Eröffnungsfilm der Sektion war ein nicht minder politisch und gesellschaftlich relevanter Film mit dem Titel „Sieben Winter in Teheran“. In der Preisbegründung der Jury heißt es: „Gebannt verfolgen wir die Geschichte einer jungen Frau, die sich der institutionalisierten männlichen Gewalt widersetzt. Dabei entsteht das einfühlsame Porträt einer Familie, die im Kampf gegen ein Unrechtsregime zerrissen wird.“ Die Jury hebt auch hervor: „Dieser Film tut weh und verstört.“ Sieben Winter saß Reyhaneh Jabbari im Iran im Gefängnis, bis sie, verurteilt als Möderin, hingerichtet worden ist. Ihr Fall war damals (2007 bis 2014) in allen Medien. Reyhaneh Jabbari war eine junge Studentin, gerade mal 19 Jahre alt. Sie arbeitete nebenher als Inneneinrichterin und war für einen Auftrag auf einer Wohnungsbegehung, die sich als Falle herausstellte. Sie wehrte sich gegen ihren Vergewaltiger, und in Notwehr verursachte sie seinen Tod. Ihre Abwehr wurde als Mord gewertet, die Todesstrafe beziehungsweise die „Blutrache“ wurde verhängt. Die Familie des Täters gilt hier als Familie des Opfers. Hätte Reyhaneh Jabbari die Anschuldigung der Vergewaltigung zurückgenommen, hätten die Angehörigen des Toten ihr „verzeihen“ können. Doch Reyhaneh Jabbari bleibt bei der Wahrheit, die sie schließlich das Leben kostete. Steffi Niederzoll, Absolventin der Kunsthochschule für Medien Köln und der Escuela Internacional de Cine y Televisión in Kuba war bereits 2008 mit dem mittellangen Film „Lea“ in der Perspektive vertreten gewesen. In ihrem ersten langen Dokumentarfilm übt sie Zurückhaltung. Die Geschichte von Reyhaneh Jabbari und die Bemühungen ihrer Familie, ihre Freilassung zu bewirken, stehen auch in den filmischen Mitteln im Mittelpunkt. Steffi Niederzoll arbeitete eng mit der Familie zusammen. Mutter und Schwester von Reyhaneh Jabbari leben inzwischen in Deutschland. Der Vater lebt immer noch in Teheran, da er bisher keine Ausreisegenehmigung bekommen hat. Gespräche mit der Familie wurden also teils anonym gedreht. Steffi Niederzoll standen darüber hinaus geheime Aufnahmen der Familie aus dem Gefängnis, Telefongespräche und Briefe zur Verfügung. Briefe, die die Schauspielerin und ebenfalls Exiliranerin Zar Amir-Ebrahimi (“Holy Spider“) aus dem Off vorliest. Anhand des Materials zeichnet Steffi Niederzoll einen aussichtslosen Kampf gegen Traditionen, Institutionen und eine Gesellschaft, in der das Patriarchiat diktiert und eine Regierung, die sich für Wahrheiten gar nicht erst interessiert. Reyhaneh Jabbaris Vergewaltiger war ein religiöser Mann und so konnte er per se kein Vergewaltiger sein. Er war nicht nur der Geschäftsmann, für den er sich ausgab, sondern wohl im Geheimdienst tätig und gut vernetzt. „Sieben Jahre in Teheran“ zeigt aber nicht nur aussichtslose Verhandlungen, sondern zeigt den Lebensweg einer jungen unschuldigen Frau, die durch die Umstände wächst und sich mehr und mehr um die Belange ihrer Mithäftlingen kümmert, die sich zwar für ihre Sache einsetzt, aber in sich die Kraft findet, sich nicht brechen zu lassen. Gleichzeitig lernen wir ihre Familie kennen, die ebenso an der Situation wachsen muss. Die Himmel und Hölle zu bewegen versucht, die alle Kanäle zu nutzen lernt, die sich um Aussöhnung bemüht, die mit der Entscheidung der Tochter, bei der Wahrheit zu bleiben, Frieden schließen muss. „Sieben Jahre in Teheran“ gibt Reyhaneh Jabbari und denen, die vom iranischen Regime unterdrückt und vernichtet worden sind, eine Stimme weit über den Tod hinaus.

  

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