Außergewöhnlich

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Eine Mission hat das Abenteuer hinter den Kulissen schon erfüllt: Selten haben sich die Kritiken so mit den Filmkünsten beschäftigt, wie bei „The Ordinaries“. | Foto © Bandenfilm

Das Kino feiert sich ja immer wieder gerne selbst. Aber auf die Idee ist in mehr als 100 Jahren auch noch keiner gekommen.* Sophie Linnenbaum traut sich was in ihrem Debüt- und Abschlussfilm „The Ordinaries“.

„Alles andere als ein gewöhnlicher Abschlussfilm“, fand die Jury beim „First Steps Award“: Mit „The Ordinaries“ beendete Sophie Linnenbaum Masterstudium an der Filmuniversität Babelsberg. Das Drehbuch, das sie mit Michael Fetter Nathansky geschrieben hat, führt tief in die Welt des Films: In ein Metaversum, das streng in Haupt- und Nebenfiguren, Komparsen und Outtakes unterteilt ist. Der Film selbst kennt keine Grenzen und zieht munter durch die Genres – in der Dystopie wird gesungen und getanzt, in Farbe und Schwarzweiß.

Dafür gab’s nach der Uraufführung beim Filmfest München im vorigen Sommer den „Förderpreis Neues Deutsches Kino“ gleich zweimal: für Regie und Produktion. Viele weitere Auszeichnungen folgten. Beim „Deutschen Filmpreis“ ist der Film für Szenenbild und VFX nominiert. Heute startet „The Ordinaries“ in den deutschen Kinos (in Österreich zwei Wochen später). In den kommenden Tagen sind Cast und Crew auf Kinotour.

Die Frage nach dem Genre stellt sich Christoph Becker bei „Artechock“ gar nicht erst, denn „thema­tisch schließt ,The Ordi­na­ries’ an die vielen Science-Fiction-Dystopien wie ,Die Tribute von Panem’ oder ,Die Bestim­mung – Divergent’ der 2010er-Jahre an: Eine junge Frau sucht ihren Platz und ihre Aufgabe in einer dikta­to­risch gesteu­erten und streng hier­ar­chisch geglie­derten Gesell­schaft. Da hier aller­dings kein Riesen­budget mit inter­na­tio­nalen Stars und entspre­chender Vermark­tung zur Verfügung stand, ist das Filmset eher unspek­ta­kulär, die Drehorte aber sehr geschickt gewählt, und der Film erinnert im Look teilweise an die grau-trostlose Welt aus Orwells ,1984’. Man sieht, dass ein Science-Fiction-Film – wie der fantas­ti­sche ,Hell’ von 2011 – durch das Spiel mit Licht, Farben und Räum­lich­keiten (Kamera Valentin Selmke) keine spek­ta­ku­lären CGI-Effekte braucht, um atmo­s­phä­risch zu über­zeugen. […] Man könnte jetzt tatsäch­lich in Versu­chung kommen, den gesamten Film nach­zu­er­zählen, weil er gespickt ist mit film­re­fe­ren­ti­ellen Details […]  und lustigen Einfällen […], zusam­men­ge­halten von der drama­ti­schen Selbst­fin­dung und Eman­zi­pa­tion der Prot­ago­nistin, die dann auch gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Impli­ka­tionen entwi­ckelt und die strenge Film­fi­guren-Hier­ar­chie in Frage stellt. Das ist natürlich vor allem ein Kompli­ment an das außer­ge­wöhn­liche Drehbuch von Sophie Linnen­baum und Michael Fetter Nathansky. Aber auch der gesamte Cast (Karl Schirn­hofer) ist toll zusam­men­ge­stellt und überzeugt, wie man so schön sagt, bis in die kleinste Neben­rolle.“ 

Die Atmosphäre beeindruckte auch Marius Nobach beim „Filmdienst“: „Dieses dystopische Motiv in Anlehnung an Orwell, Huxley oder Bradbury findet im Szenenbild mit brutalistischen Bauten, grauen Mietskasernen und düsteren Ghettos eine Entsprechung, denen aber nicht nur die farbenfrohe Oberschicht entgegensteht, sondern auch der optimistische Grundton der Fabel und vor allem die verspielte Inszenierung. Linnenbaum jongliert mit Filmeffekten und Zitaten, dass es staunen macht, deutet ,Filmfehler’ wie verzerrten Ton, Jump-Cuts und Zensur kurzerhand zu Figuren um und hält den Überraschungseffekt ihrer Hommage ans Kino über zwei Stunden mühelos aufrecht.“

Zuerst mal sei das eine ziemlich geniale Idee, findet Nicolas Freund in der „Süddeutschen Zeitung“. „Und eigentlich so naheliegend, dass man sich fragt, warum in mehr als 100 Jahren Filmgeschichte nicht öfter jemand in diese Richtung gegangen ist – spontan fallen einem da nur die Figuren in Woody Allens ,Purple Rose of Kairo’ ein, die genervt schimpfen, als einer von ihnen von der Leinwand springt und die anderen mehr nicht weiterspielen können. ,The Ordinaries‘ ist jedenfalls voller kluger und witziger Einfälle, in denen das Kino von sich selbst erzählt – und in den besten Momenten auch etwas über unsere eigenen, auch nicht gerade fairen, hierarchisch durchgetakteten Leben.“ 

Mehr noch: „Das lässt sich als politischer Kommentar auf alles Mögliche lesen, nicht zuletzt auf die Konventionen des Hollywood-Kinos, das den Zuschauer mit seiner hierarchischen Erzählweise und einem limitierten Repertoire an Emotionen inzwischen so vertraut ist, dass andere Arten des Films für viele gar nicht mehr vorstellbar sind. Man merkt die eigene Irritation, wenn Linnenbaums Film zum Beispiel die Schnitte richtig sichtbar macht. Die Polizei in ihrer Filmwelt schießt nämlich nicht mit Kugeln, sondern mit Filmschnitten, die das Geschehen kurz unterbrechen. Für den Zuschauer ist das sehr nervig, hat aber einen interessanten Effekt. Denn plötzlich achtet man wieder darauf, was da eigentlich passiert, wenn in Filmen geschnitten wird.“ 

Ganz konsequent findet er es aber nicht, denn die Heldin Paula (Fine Sendel) sei „ständig im Bild, immer toll ausgeleuchtet, ganz viele Großaufnahmen – sie müsste doch merken, dass etwas mit ihr geschieht, das mit dem Status einer Nebenfigur gar nicht vereinbar ist.“

Auch Daniel Kothenschulte hat in der „Frankfurter Rundschau“ etwas auszusetzen und legt die Latte ziemlich hoch für den Abschlussfilm: „Es könnte ein faszinierender Nachtrag zur großen Zeit des deutschen Fantasy-Films sein, als das Weimarer Kino weltweit Maßstäbe setzte. Doch trotz der imposanten Ausstattung (Josefine Lindner, Max-Josef Schönborn), Valentin Selmkes eleganten Breitwand-Kompositionen und Fabian Zeidlers sinfonischer Filmmusik fehlt eine Kleinigkeit: die Cinephilie.“ 

Ausgerechnet die Cinephilie? Das Urteil verblüfft, aber der Kritiker will eh nur auf eine völlig andere Sache hinaus, die ihn immer noch ärgert: „Fast glaubt man hier eine andere Klassengesellschaft wiederzuerkennen, die standesdünkelhafte Welt der deutschen Filmakademie: Hier gilt die technische, kommerziell gedachte Modernität des Netflix-Films ,Im Westen nichts Neues’ derzeit als das Allergrößte. Das durchaus populäre ,andere Kino’ eines Christian Petzold wird nicht mal zur Nominierung zugelassen. Auch das wäre vielleicht ein Stoff für ein opernhaftes Filmdrama – vielleicht mag sich ein späterer Abschlussjahrgang einer Filmhochschule daran abarbeiten.“

Das Kinodebüt „strotzt nur so vor Originalität, Eloquenz und Witz“, findet Gunda Bartels im „Tagesspiegel“. „Erstaunlich auch deshalb, weil die vom ,Kleinen Fernsehspiel’ des ZDF koproduzierte Tragikomödie über ein so formbewusstes cinephiles Szenenbild verfügt, dass sie richtig schick und teuer aussieht – und den Szenenbildnern Josefine Lindner und Max-Josef Schönborn prompt eine Nominierung zum Deutschen Filmpreis bescherte.“

Die Bilder und andere Filmkünste lassen sie bis zum Schluss des Texts nicht mehr los (was auch etwas über den Film sagt). Trotzdem bleibt auch sie unzufrieden: „Sehr erstaunlich, wie stringent und fantasievoll Linnenbaum ihr abgedrehtes Metaversum baut und bevölkert. Inklusive nerdiger Links für Filmfreaks. Aber genau das macht es auch schwer, ,The Ordinaries’ als Statement gegen Ausgrenzung und Klassismus ernst zu nehmen. Das Leid der Nebenrollen und Outtakes, das sich in der Aula der Hauptfigurenschule in einer klassischen Hollywood-Klimax entlädt, als Paula einen sentimentalen Monolog hält, geht in den Manierismen der überwältigenden Verpackung unter. Auch der manchmal zu insiderische Abstraktionsgrad der Filmwelt erschwert die Identifikation.“

Das findet Peter Zander in der „Berliner Morgenpost“ überhaupt nicht und ist völlig von der Rolle: „Wow, was für ein Film. Endlich mal was anderes als die immergleichen Beziehungskomödien und Befindlichkeitsdramen. Ein deutscher Film, der eine ganz eigene, ganz andere Welt erschafft und vor absurden Einfällen nur so strotzt. Und dann ist es auch noch ein Debüt! Da könnte sich manch Regie-Routinier einige Scheiben abschneiden. […] Die Debütantin Linnenbaum zitiert munter Klassiker wie ,Fahrenheit 451’ und erschafft sich doch eine ganz eigene Welt, mit einer Stilsicherheit und Konsequenz, die verblüfft. Virtuos spielt sie mit filmischen Mitteln. Eine einzige Liebeserklärung ans Kino. Und dann ist die Botschaft ihres Films so einfach wie hinreißend: Jeder ist eine Hauptfigur!“

Auch Lena Schneider hatte das neulich,  ebenfalls im „Tagesspiegel“ anders gesehen: „Trotz aller Metaebenen und insiderischer Lust an Referenzen ist dies ein Film, der das Potenzial hat, ein breites Publikum anzusprechen. Keiner, der nur Hollywoodsche Mechanismen (die Musik!) bloßstellt, sondern auch den Mut hat, sich ein massentaugliches Element zu eigen zu machen: das Happy End. ,Mit der Angst des Arthouse vor dem Happy End haben wir uns lange beschäftigt’, sagt Linnenbaum. ,Die Frage ist doch: Warum machen wir Filme und für wen?’ Sie hat keine Lust, das Happy End dem Trash TV und den Soaps zu überlassen. ,Ich finde es wichtig, die Möglichkeiten auszuloten, die im Happy End stecken.’“

 

 

*In einer anderen Kunst kam freilich schon einer auf den Gedanken, und dies sei erwähnt, weil er vom Film kommt: Jasper Fforde war eigentlich Kameramann, bis er 2001 mit seiner skurrilen Fantasy-Reihe um seine Heldin Thursday Next startete. Ihr Beruf als Literaturagentin ist hier etwas anders gemeint. Der Nachname Des Autors klingt vertraut? Ganz recht: Die Frau seines Cousins schreibt fürs ZDF.
Und natürlich sei auch Walter Moers drei Jahre später nicht vergessen. 

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