Plagiatsvorwürfe: Ein ewiger Kreis

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Die Sache mit dem Dreieck zeigt, wie die Kunst sich immer wieder selbst befruchtet. Die Brasilianerin Mary Cagnin erzählt in ihrem Comic „Black Silence“ von einer mysteriösen schwarzen Pyramide und behauptet, die neue Netfix-Serie „1899“ habe ihre Ideen geklaut. Eine mächtige Pyramide gab’s aber auch schon im vorigen Jahrtausend in „Stargate“ zu sehen. Und jetzt soll auch die erste von allen verfilmt werden: Die Comic-Reihe um den „Incal“ startete bereits 1980 und ist selbst ein Stück Filmgeschichte. | Fotos © Mary Cagnin | Netflix | Studiocanal | Humanoids

Kaum war die teuerste deutsche Serie aller Zeiten in See gestochen, brach auch schon ein Shitstorm los. Eine Comicautorin will in „1899“ ihr eigenes Werk wiedererkennen. Das wiederum selbst bekannte Motive wiederholt. 

Auf Netflix startete vorige Woche „1899“. Das Mystery-Spiel auf einem Auswandererschiff ist die bislang teuerste deutsche Serie überhaupt – und dampfte sogleich in einen Shitstorm, berichtet unter anderem die „Süddeutsche Zeitung“: Die brasilianische Comic-Autorin Mary Cagnin meint, ihre eigene Arbeit wiederzuerkennen. Mehrere Teile der Serie seien aus ihrem Science-Fiction-Comic „Black Silence“ [auf Englisch] von 2016  abgekupfert worden, schrieb sie am Wochenende auf Twitter. „Es ist alles da: Die Schwarze Pyramide. Die Todesfälle im Schiff. Die multinationale Crew. Die scheinbar seltsamen und unerklärlichen Dinge. Die Symbole in den Augen und wann sie erscheinen.“ Cagnin beschreibt ihren rund 80 Seiten starken Comic als „fast eine Kurzgeschichte“: „Es ist sehr einfach, in zwölf Stunden Projektion der Serie all diese ,Referenzen’ zu verwässern, aber die Essenz dessen, was ich geschaffen habe, ist da“, behauptet sie.  

Die Macher der Serie weisen die Plagiatsvorwürfe zurück. „Leider kennen wir die Künstlerin nicht. Auch nicht ihr Werk oder ihren Comic“, postete der Regisseur Baran bo Odar am Montag auf Instagram [auf Englisch]. „Wir würden nie von anderen Künstlern stehlen, da wir uns selbst als Künstler sehen. Wir haben Kontakt zu ihr aufgenommen und hoffen, dass sie diese Anschuldigungen zurücknimmt. Das Internet ist ein eigenartiger Ort geworden.“ 

Jantje Friese, die Chefautorin von „1899“, hat ihr Instagram-Profil mittlerweile deaktiviert, berichtet Claudia Reinhard in der „Berliner Zeitung“. Zuletzt schrieb sie noch auf Instagram: „Eine brasilianische Künstlerin hat behauptet, dass wir ihre Graphic Novel gestohlen haben. Um eines klarzustellen: Das haben wir nicht. Bis gestern wussten wir nicht einmal von der Existenz der Graphic Novel. Über zwei Jahre lang haben wir Blut, Schweiß und Tränen in die Schöpfung von 1899 gesteckt. Das ist eine originäre Idee und sie basiert nicht auf irgendeinem Quellenmaterial. Trotzdem wurden wir mit Nachrichten bombardiert – einige davon hässlich und verletzend. Jemand malt den Teufel an die Wand und alle machen mit und prüfen nicht einmal, ob die Vorwürfe stichhaltig sind.“ 

Nicht alle wollten den Vorwürfen Cagnins folgen, schreibt Jennifer Ullrich bei „Watson“. „Auf Reddit kommen die meisten Personen zu einer nüchternen Einschätzung und sprechen Netflix von den Klau-Vorwürfen weitgehend frei.“ 

Zur gleichen Einschätzung kommt auch Jenny Jecke auf „Moviepilot“ (Vorsicht: Spoiler!): „Die Storys von Comic und Serie sind alles andere als deckungsgleich. Weder das Transatlantik-Schiff noch die Idee der Simulationen sind Teil der Handlung von ,Black Silence’. Einige der Elemente, etwa die multinationale Crew, mysteriöse Tode oder vergangene Traumata, finden sich in zahlreichen Science-Fiction-Filmen […]. Auffällig sind trotzdem die visuellen Parallelen, insbesondere die Pyramiden-Symbolik, die in Serie wie Comic eine wichtige Rolle spielt. Auch hier gibt es aber andere Beispiele aus dem Sci-Fi-Genre, die damit arbeiten […]. Der eindeutige Diebstahl einer originären Idee aus dem Comic ist deshalb schwer zu beweisen.“ 

Ausführlich beschäftigt sich auch Dhruv Sharma auf „Screenrant“ [auf Englisch] mit den Vorwürfen (Vorsicht: Spoiler!). „Trotz aller Ähnlichkeiten wäre es unfair, ,1899’ als eine Kopie von ,Black Silence’ zu bezeichnen, da die übergreifende Handlung der Serie nur wenige Gemeinsamkeiten mit ,Black Silence’ aufweist. Die kosmische Horrorgeschichte von Black Silence scheint eher mit Christopher Nolans ,Interstellar’ und John Carpenters ,Das Ding aus einer anderen Welt’ übereinzustimmen, da sie sich auf eine Weltraummission konzentriert, die furchtbar schief läuft, nachdem die Passagiere des zentralen Raumschiffs auf einem mysteriösen Planeten gelandet sind. Staffel 1 der Netflix-Science-Fiction-Horror-Serie hingegen spielt sich hauptsächlich auf einem Schiff ab, nur um schließlich zu enthüllen, dass alles – von den Identitäten der Charaktere bis hin zum düsteren Schauplatz mitten auf dem Ozean – nur ein Konstrukt in einer Simulation ist.“ 

Ungewöhnlich sind solche heimlichen Anleihen allerdings auch nicht: Für seine „Krieg-der-Sterne“-Saga hatte sich George Lucas eifrig bei der französischen Comic-Reihe „Valerian“ bedient (hier auf „Outtakes“). Und auch James Cameron wurden nach „Avatar“ Plagiate vorgehalten (cinearte 212): Die fantastischen Welten waren unübersehbar von dem britischen Plattencover-Künstler Roger Dean inspiriert. Die Handlung, hier vom Meer in einen Urwald verlegt, entspricht weitgehend dem französischen Comic „Aquablue“ (das wiederum einen Vorgänger in der „Valerian“-Reihe hat).

Zwei Wochen vor den Vorwürfen sorgte eine andere Meldung für wesentlich weniger Aufsehen. Dabei hat der neuseeländische Regisseur Taika Waititi, der schon das Marvel-Universum fröhlich aufgemischt hat, wieder ziemlich Großes vor, meldete „Deadline“ [auf Englisch]: „Der Incal“ soll sein nächster Film sein! 

Das große Raunen blieb aus. Dabei ist die Vorlage der meistverkaufte Science-Fiction-Titel der Comic-Geschichte, ein Klassiker des Genres – und zudem auch Filmgeschichte. Der chilenische Regisseur Alejandro Jodorowsky war 1975 mit seiner Adaption von „Dune“ gescheitert. Aus ihren Filmideen schufen er und der französische Zeichner Jean Girard alias Mœbius ab 1980 in Comicform ein eigenes Multiversum um den mysteriösen „Incal“. Und der ist gewissermaßen die Mutter aller mysteriösen schwarzen Dreiecke in der Science-Fiction. Die gegenwärtige Diskussion um Original und Plagiat rückt damit in entspanntere Sphären: Wenn schon irgendwo abgekupfert wurde, dann wohl hier.  

Gut, die Allmacht im Dreieck zeigt das Gottesauge schon seit wenigstens einem halben Jahrtausend. Der Incal aber besteht sogar aus zwei solcher Pyramiden – die eine schwarz, die andere weiß, und erst vereinigt entfaltet sich ihre Kraft … kurzum: selbst der Incal ist keine originäre Idee, sondern die spitze Version von Yin und Yang.  

Wie die Kunst sich immer wieder selbst befruchtet, kopiert oder inspiriert (und insbesondere offenbar die beiden Bildererzähler Comic und Film), zeigt denn auch „Black Silence“  selbst: Eine mysteriöse Pyramide gab’s auch schon in „Stargate“ 1994, und die Heldin auf dem Cover ähnelt Halle Berry als Superheldin „Storm“ in „X-Men: The Last Stand“ – auch die nach einer Comic-Vorlage. Ihr Bodysuit, inzwischen längst Standard, lässt sich gar bis in die Swinging Sixties nach Großbritannien zurückverfolgen: zu Emma Peel in der Fernsehserie „Mit Schirm, Charme und Melone“ oder gleich zur Comic-Heldin „Modesty Blaise“. 

Deshalb geht auch Rich Johnston bei „Bleeding Cool“ [auf Englisch] die Sache gelassen an. In seiner Kolumne „Separated At Birth“ macht er nochmal den Bildvergleich zwischen Netflix-Serie und angeblichem Comic-Original. Und merkt dazu generell an: „Separated At Birth urteilt nicht. Es interessiert sich mehr für den Prozess der Entstehung, dafür, wie Werke andere Werke beeinflussen, wie aus alten Arbeiten neue entstehen und wie manchmal dieselben Ideen gleichzeitig auftauchen, als wäre ihre Zeit gerade erst gekommen.“   

 

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