Kollektives Filmerlebnis

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Analog, hybrid oder digital? Dahinter steckt auch die Frage, was eigentlich ein kollektives Filmerlebnis ausmacht: Wenn möglichst viele Menschen im Kino beieinander sitzen oder wenn sehr viel mehr Menschen den selben Film sehen können – überall auf der Welt? Szene aus dem Forum-Film „Nuclear Family“. | Foto © Creative Agitation

Am Donnerstag beginnt die Berlinale. Und zwar als reine Präsenzveranstaltung. Das hatte für kontroverse Reaktionen gesorgt. 

Die läuft Berlinale läuft wieder – als reine Präsenz-Veranstaltung. Ein Online-Angebot wird es nicht geben. Das ist Realitätsverweigerung, findet die Filmkritikerin Anna Wollner in ihrem Kommentar beim RBB und fordert: „Sagt die Berlinale ab!“ Man habe versäumt, auf ein Hybrid- oder Online-Festival umzusteigen. „Auf dem von Wissenschaftlern prognostizierten Peak der Welle wird der Potsdamer Platz zum Ort eines Präsenz-Filmfestivals. Ein Ort der Begegnung. Bei einem Filmfestival geht es nicht nur um das kollektive Erleben von Filmen auf der großen Leinwand, es geht um den Austausch miteinander. Ein Austausch, der in diesem Jahr nur einer sehr privilegierten Gruppe zustehen wird. […] Als Journalist*in auf die Berlinale zu gehen, ist wie Russisch Roulette spielen. Die Kolleg*innen, die am letzten Tag noch einen negativen Test vorweisen können, sollten mit einem Ehrenbären ausgezeichnet werden. Ja, das Kino und die Kultur brauchen starke Zeichen. Aber kein Film, vor allem kein Filmfestival der Welt ist es wert, die eigene Gesundheit und die der anderen leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Sollte die Berlinale zum Superspreader-Event werden, ist ihr Ruf – auch international – wohl endgültig ruiniert.“

Es brauche Formate für die Kultur, meinte hingegen die Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek zur Deutschen Presse-Agentur. „Gleichzeitig muss man sagen, dass die Kinos auf haben. Es haben auch Konzerthäuser auf. Es werden Fußballspiele ausgetragen. Es ist nicht so, dass das öffentliche Leben zum Stillstand gekommen ist, wie das vor einem Jahr der Fall war.“ Sie hätten sich alle bemüht, Kultur weiterhin möglich zu machen. „Und es wäre sehr schwierig gewesen, ausgerechnet für die Berlinale, die gleichzeitig eine Plattform für die Kinos ist, zu sagen: ‚Wir möchten lieber absagen‘“, sagte Rissenbeek. „Es wäre aus unserer Sicht nicht die richtige Lösung gewesen.“ 

Auch die Kulturstaatsministerin Claudia Roth verteidigt die Entscheidung. Die Filmfestspiele seien „ein wichtiges Zeichen des Optimismus, der Hoffnung und der Ermutigung“, zitiert die Deutschen Presse-Agentur aus einem Gespräch in Berlin. In der „Berliner Zeitung“ schreibt Cornelia Geißler: „Es klingt, als würde sie einen Streit mit konkreten Gegnern ausfechten, wenn Claudia Roth formuliert: ,Wir lassen sie uns nicht wegnehmen. Ganz im Gegenteil, wir setzen ein Zeichen für die Kultur, für das Kino, für den Film und für all diejenigen, die in diesem Bereich arbeiten, die Kreativen und all die Menschen hinter den Kulissen.‘ Mag es in früheren Jahren darum gegangen sein, wie viel Geld für Glanz und Glimmer zur Verfügung gestellt wird oder, mehr noch, wie politisch Filmkunst sein darf oder soll; diesmal sind die Probleme medizinischer Natur. Die Widerstände gegen das Festival lassen sich aus den Infektionszahlen mit dem Coronavirus ablesen, die eigentlich bedeuten, alle Veranstaltungen und Reisen in Frage zu stellen. Die Kulturstaatsministerin verweist in dem Gespräch auf ,größtmögliche‘ Sicherheitsvorkehrungen für Gäste, Mitarbeiter, Künstler und Zuschauer und sagt: ,Wir dürfen es nicht zulassen, dass diese Pandemie unsere vielfältige Kultur kaputtmacht, deshalb ist es wichtig, dass die Berlinale stattfindet.‘“  

Am Donnerstag werde „der Tanker der deutschen Festivallandschaft mit Ansage gegen die (Omikron-)Wand gesetzt“, fürchtet hingegen Sebastian Seidler in der „Taz“. Das Beharren auf einer reinen Präsenzveranstaltung sei „ein Wahnsinn, der […] als große, mutmachende Geste verkauft wird: Der Film braucht das Kino. […] Doch geht es nicht nur um die sich auftürmenden Fallzahlen, um Gesundheit und Moral. Die Absage jedweden Onlineangebots erweist dem Kino einen Bärendienst, der über die Pandemie hinausweist; es geht zurück. In der trotzigen Verweigerung von progressiven digitalen Lösungen geht es um alte Machtfragen und selbstgerechte Privilegien. […] Abgesehen von der Kinokunst war und ist die Berlinale eine elitäre Branchenveranstaltung, auf der die Macht der Mächtigen sich selbst feiert, allen voran die Förderer auf ihren pompösen Empfängen. Ein hybrides Festival hingegen bräche ein wenig mit Glanz und Gloria. Niemand hat das Kino angegriffen. Ein hybrides Festival bietet die Möglichkeit – Sundance hat es vorgemacht –, die Filme einem breiten Publikum zu präsentieren. Endlich geht es um das Wesentliche. Streaming bedeutet nicht Untergang, ist nicht mit der Marktmacht von Netflix gleichzusetzen. Es erlaubt auch Menschen abseits der Großstädte, Filme zu entdecken, durch die sie sich vielleicht überhaupt erst wieder in das Kino verlieben. Denn etwas zu retten, das niemand mehr liebt, ist ein ermüdender Verteidigungskampf, der am Ende nur unendlich wütend macht.“ 

„Ein Festival, das hybrid oder gar nur digital statt­findet, findet quasi nicht statt.“ In seinem Blog „Cinema Moralia“ auf „Artechock“ nimmt Rüdiger Suchsland die Berlinale in Schutz: „Wenn Filme fürs Kino gemacht sind, sollten sie auch im Kino gesehen werden.“ Alles andere seien nur Notlö­sungen. Deshalb „sollte das Bekenntnis der Berlinale zum Kulturort Kino als dem privi­le­gierten, besten und normalen Ort für das Ansehen eines für eben diesen Ort eigens herge­stellten Werks von Film­kri­ti­kern gefeiert und nicht kriti­siert werden.“

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