Grenzüberschreitungen

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Vor sieben Jahren erfuhren junge Schauspieler*innen ein Casting als Alptraum. In „The Case You“ erinnern fünf von ihnen das Erlebte. | Foto © Lenn Lamster/Mindjazz Pictures

Im Film „The Case You“ erinnern sich fünf junge Schauspielerinnen an ein Casting, bei dem sie gedemütigt, bedroht und sexuell belästigt wurden. Und vor Gericht klagen sie gegen die Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte.

Seit vor fünf Jahren die „MeToo-Bewegung“ loslegte, ist klar: Machtmissbrauch und sexuelle Übergriffe sind auch in der Filmbranche kein Einzelfall. In dem Dokumentarfilm „The Case You“, der zurzeit im Kino läuft, erinnert sich eine Gruppe junger Schauspielerinnen an ein Casting, bei dem sie gedemütigt, bedroht und sexuell belästigt wurden. Der Film war voriges Jahr mit dem „Deutschen Dokumentarfilmpreis“ (in der Kategorie Kultur) und beim Dokfest München mit dem „Student Award“ ausgezeichnet worden. 

Was damals geschah, beschreibt Gabi Sikorski im „Filmdienst“: „Am Anfang stand eine seriös wirkende Casting-Einladung, das Drehbuch war beigefügt. Für die jungen Schauspielerinnen bot sich 2015 die Chance auf eine kleine oder größere Rolle. Mehr als 300 Mädchen und junge Frauen stellten sich vor; viele von ihnen waren noch keine 18 Jahre alt, manche unter 16. Die meisten waren naiv; der Traum von der Filmkarriere wischte alle Bedenken weg. Was dann allerdings auf die Frauen zukam, war ebenso überraschend wie schrecklich. Im Rahmen des Vorsprechens mussten sie sich entkleiden oder wurden dazu genötigt. Männer und Frauen aus dem Team begrapschten sie am ganzen Körper. Sie wurden angebrüllt, bedroht und geschlagen, alles ohne Vorbereitung oder Begründung. Viele weinten, doch niemand kam ihnen zu Hilfe. Ihre offenkundige Hilflosigkeit war Teil des Kalküls.“ 

Auch die Regisseurin Alison Kuhn, 1995 geboren, hatte teilgenommen. „Wie viele meiner Kolleginnen wollte ich diesen Tag so schnell wie nur möglich verdrängen“, schreibt sie auf der Website der Filmuniversität Babelsberg.   Stattdessen verarbeitete sie ihn zu einem „emotional äußert aufwühlenden Dokumentarfilmdebüt“, schreibt Anna Steinbauer in der „Süddeutschen Zeitung“ und sieht darin einen Akt der Selbstermächtigung: Sie lässt „fünf junge Schauspielerinnen aufeinandertreffen, die alle an dem besagten Casting teilgenommen hatten. […] Im geschützten Raum des Theatersaals der Filmuniversität Babelsberg und vor Kuhns Kamera lassen die Frauen ihre traumatischen Erfahrungen Revue passieren, gleichen sie miteinander ab und versuchen einen Weg zu finden, mit dem Erlebten umzugehen. […] Die Erzählungen der jungen Frauen ergeben schockierende Einblicke in perfide Missbrauchs-Strategien in der Film- und Kulturbranche, in der Machtpositionen im Namen der Kunst schamlos ausgenutzt werden. Kuhn seziert diesen strukturellen Machtmissbrauch sehr eindringlich und stets auf Augenhöhe mit den Schauspielerinnen. […] Mit minimalistischen Mitteln rückt die Regisseurin die Schauspielerinnen in dem schwarzen Probenraum in den Fokus und macht sich selbst zur Komplizin. Weder Musik noch Schnitt werden manipulativ eingesetzt, was dem Film eine ungeheure Präzision und den Protagonistinnen eine klare Stimme verleiht.“  

In ihrem Podcast „Spielplatz (v)ermittelt“ auf „Casting Network“ sprechen Cedric Sprick und Johann Christof Laubisch mit Alison Kuhn über den Ursprung der Idee für ihren Film bis hin zur Premiere in den deutschen Kinos. Im Dezember war die Regisseurin zu Gast beim Indiefilmtalk 

Um welches Casting es geht, bleibt ungenannt. Der Film solle keinen an den Pranger stellen, sondern sei ein Fallbeispiel für viele andere, erklärte Alison Kuhn voriges Jahr im Gespräch mit Carl Roshoven beim SR: „Es ging nie um die Personen, die die Taten durchgeführt haben, sondern um die fünf Frauen hier und ihre Sicht auf die Dinge.“ 

Nochmal der „Filmdienst“: „Für die Frauen spielt es kaum eine Rolle, welcher Art die erlittenen Verletzungen sind und ob Kunst tatsächlich Grenzüberschreitungen rechtfertigt. Letztlich geht es ihnen um Selbstbestimmung. Darum, dass sie sich für ihre Arbeit ein professionelles Umfeld wünschen, in dem sie gute Arbeit leisten können. Es wäre zu hoffen, dass das in Zukunft selbstverständlich ist. ,The Case You’ könnte einen wichtigen Beitrag dazu leisten.“ 

Das ist allerdings zu erwarten, denn das übergriffige Casting beschäftigt auch die Justiz: Der Film, zu dem eingeladen wurde, befindet sich laut Website auch sieben Jahre danach noch „in Produktion“. Das Vorsprechen aber hatte der Schweizer Regisseur zu einer Dokumentation montiert, der einen „magischen Moment“ einfangen soll – seine Castings seien eh „berühmt und berüchtigt“.  Bloß: Von einer Dokumentation wussten die Schauspieler*innen nichts. Nur eine sogenannte superprovisorische Verfügung verhinderte 2018 die Premiere, berichtet Pascal Blum im „Tagesanzeiger“: 13 der Schauspielerinnen haben Klage auf Verletzung der Persönlichkeitsrechte eingereicht, darunter auch die Protagonistinnen von „The Case You“,  Isabelle Bertges, Gabriela Burkhardt, Aileen Lakatos, Lisa Marie Stoj?ev und Milena Straube. „Bis heute ist diese an einem Schweizer Bezirksgericht hängig. Bei Lakatos meldeten sich auch Schweizer Schauspielerinnen, die die Klage nicht unterstützen mochten. Angst um die Karriere. Auch bekanntere Namen waren darunter, die fanden, Lakatos solle nicht so blöd tun, so etwas gehöre halt dazu. […] Die unglaublichste Szene ist jene, in der die fünf Protagonistinnen den Mitschnitt einer Podiumsdiskussion verfolgen. Ein Festivalchef ärgert sich darüber, dass es ihm nach einem Shitstorm nicht mehr möglich ist, den Film mit den Casting-Aufnahmen zu zeigen, den der Schweizer Regisseur eingereicht hatte. Für den Festivaldirektor besteht der Machtmissbrauch nicht im Umgang mit den Frauen, sondern in der Dynamik des Internets. ,Achtung, MeToo’, sagt er am Schluss, wie als Warnung.“ 

Zur Unterstützung der Klage läuft eine Crowdfunding-Kampagne.

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