Das „M-Wort“

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Das Metaverse – für viele „das nächste heiße Ding“. John Canning hat vor 30 Jahren das Buch gelesen, für ihn ist das Konzept ein alter Hut. Aber deshalb nicht weniger interessant – denn die Technik sei inzwischen weiter und die Zukunft längst im Gange. | Foto © MTH Conference

John Canning ist Metaverse-Enthusiast. Der Elektroingenieur und Filmproduzent arbeitet seit über 30 Jahren mit interaktiven und immersiven Medien. Canning ist überzeugt: Filmschaffende sollten dringend die Möglichkeiten des Metaverse erkunden. Warum, erklärt er nächste Woche in seiner Keynote auf der MediaTech Hub Conference 22. Konferenzleiter Peter Effenberg hat vorab mit ihm gesprochen. 

John Canning, wir sprechen heute darüber, warum Filmschaffende das Metaverse erforschen sollten. Vom Metaverse wird zurzeit ja viel geredet, aber es ist auch schwer greifbar. Wie würden Sie das Metaversum definieren?
Ich habe tatsächlich angefangen, es als das „M-Wort“ zu bezeichnen, weil es von so vielen schlechtgeredet wird. Ich persönlich gehöre zu den Menschen, die alt genug sind, um „Snow Crash“ von Neal Stephenson gelesen zu haben, als es veröffentlicht wurde. Deshalb bin ich schon lange mit dem Konzept des Metaverse vertraut, das der Autor Stephenson damals begründet hat. Doch erst jetzt wird es plötzlich populär als „das nächste große Ding“.
Ich finde, es ist wichtig, darüber nachzudenken, wofür die Menschen das Metaverse nutzen wollen: Wohin gehen wir als nächstes? Es ist wichtig zu verstehen, dass wir nicht nächste Woche oder nächstes Jahr etwas auf den Markt bringen werden, das „das Metaverse“ heißt. Sondern es ist die Weiterentwicklung, die Evolution dessen, was wir bisher gemacht haben.

Können Sie das näher beschreiben?
Wir können zurück zu Neal Stephenson gehen oder zu der Zeit, als ich mit meinen Freunden MUD, also Multi User Dungeon Games, auf einem Linux-Terminal im College gespielt habe. Es ist die Kombination von Dingen, die wir in der Web-Evolution entwickelt haben, um Menschen zusammenzubringen – von Web 1.0 über Web 2.0 und jetzt hin zu Web 3.0.
Wir haben die Evolution der Standards und die Entwicklung der Infrastruktur miterlebt. Mitte der 90er wurde VRML eingeführt. Da war die Virtual Reality Markup Language, die damals eine 3D-Erweiterung der Hypertext Markup Language war. Waren wir damals schon bereit, mehr in 3D in dieser Umgebung zu machen? Nein, die Maschinen waren noch nicht so weit. Die Distribution, die Internetgeschwindigkeiten waren noch nicht so weit. Aber seitdem haben wir eine ständige Weiterentwicklung von Technologien gesehen, die dieses Konzept einer dreidimensionalen Welt, des räumlichen Computings, immer mehr in sich aufnehmen. Vorläufer der heutigen Zeit waren zum Beispiel Spiele wie „Minecraft“ oder „World of Warcraft“, bei denen richtige Communities entstanden sind.
Und die Pandemie der letzten Jahre hat die Anzahl der Technologien noch beschleunigt, die uns entlang dieses Kontinuums vorantreiben. Wir fühlen uns wohl, wenn wir online und vor der Kamera sind und mit unseren Freunden virtuell interagieren. Plötzlich ist das in der Alltagskultur viel weiter verbreitet, als wir vor wenigen Jahren gedacht hätten.
Und so geht die Evolution weiter. Als Nächstes versuchen wir, uns virtuell gut abzubilden. Vielleicht mache ich meinen Hintergrund unscharf, nutze einen weichen Filter oder setze einen digitalen Hut auf. Wir haben heute schon so viele virtuelle Möglichkeiten und finden immer neue Wege, um diese Dinge noch weiterzuführen. Dieses Kontinuum beschreibt für mich „das Metaverse“ oder das kleine „m“. Und das wird sich mit der nächsten Welle, mit dem Web 3.0 oder auch einem Web 4.0. immer weiterentwickeln.

Wenn ich es richtig verstehe, umfasst das Ganze zwei Ebenen. Zum einen die Entwicklung der Technologie selbst und die Kombination verschiedener Technologien, die zuvor nicht kombiniert wurden. Auf der anderen Seite geht es beim Metaverse um eine neue Art der Vernetzung und das Aufbrechen von Silos. Wenn wir diesen Gedanken auf die Film- und Medienbranche übertragen, was bedeutet das? Zum Beispiel in Bezug auf die verschiedenen Streaming-Plattformen?
Weder Disney Plus noch Netflix noch Paramount Plus sind Silos. Das sind Inhalte. Unterscheidet sich die Navigation in der Inhaltsbibliothek, die für diese Dienste verwendet wird, wesentlich? Nein. Und unterscheidet sich der Inhalt dieser Dienste wesentlich? Nein. Ich will die Art der Inhalte nicht beleidigen. Aber wenn man darüber nachdenkt, gibt es lange Formate, kurze Formate, Non-Fiction, Fiction, Comedy. Aber es ist letztlich alles das Gleiche, nur anders verpackt, zum Beispiel in verschiedenen Themen.
Dafür lässt sich aber auch beim Film ein Kontinuum beobachten. Der Übergang von Stummfilm zum Tonfilm, von Schwarz-Weiß zu Farbe, der Übergang von der analogen zur digitalen Aufzeichnung. Und was wir auch sehen, ist eine Explosion der Möglichkeiten, Geschichten zu erzählen. Filmschaffende sind heute frei, der Welt ihre Geschichten zu erzählen. Sie werden nur daran gehindert, wenn sie meinen, sich an einen bestimmten Distributor halten zu müssen.

Ja, aber das ist jetzt schon seit Jahren klar. Ich bin seit über 25 Jahren als Produzent tätig und habe viele Dokumentarfilme gemacht. Ich weiß, wie schwierig es war, diese Dokumentarfilme an einen bestimmten Vertriebsmarkt zu richten. Jetzt kann man sogar seine eigene Plattform betreiben, wenn man möchte. Aber die Frage, die sich mir stellt: Was ist das Neue am Metaverse für den Filmbereich? Was ist die neue Welt, die auf dieser Grundlage entsteht?
Leider geht es hier vor allem um die Technologie und die etwas komplizierte Seite des Ganzen. Sehen wir uns an, was in der digitalen Filmdistribution zur Herausforderung wird: Eigentumsverhältnisse, Rechte, Verhandlungen. Das sind die Dinge, die auch in Zukunft eine Herausforderung darstellen werden. Diese Dinge haben nichts mit dem Geschichtenerzählen zu tun. Sie haben nichts mit dem Handwerk zu tun. Hier geht es um das Geschäftliche. Die Infrastruktur, die Möglichkeit, Geld zu verdienen. Das sind die Dinge, die nicht sexy sind. Oder nehmen wir Metadaten. Es ist das langweiligste Thema, über das niemand sprechen will, aber es ist der Klebstoff, der unsere Systeme zusammenhält. Wie kann ich die Metadaten so halten, dass sie den Film – egal über welchen Vertriebsweg, egal wo er ausgespielt wird – digital einheitlich beschreiben?
Hier schließen sich viele Fragen an: Gibt es eine Möglichkeit, das digitale Objekt zu definieren? Gibt es eine Möglichkeit, eine Reihe von Attributen für dieses digitale Objekt festzulegen? Gibt es eine Möglichkeit, das digitale Objekt zu schützen, wenn man es verkaufen möchte? Gibt es ein monetäres System?
Bis jetzt habe ich es geschafft, dieses Gespräch zu führen, ohne das Wort Blockchain zu erwähnen. Was Blockchain repräsentiert, ist der Ansatz, wie wir ein System schaffen, das für dieses neue Zeitalter der digitalen Objekte und Gegenstände funktioniert. Wenn man an NFT denkt, an Nonfungible Tokens, dann sollte man sich von diesem neuen Begriff nicht zu sehr verwirren lassen. Denken Sie einfach als Analogie an einen wertvollen Gegenstand, einen physischen Gegenstand, den Sie zu Hause haben. Woher weiß ich, dass er von Ihnen ist? Dass er Ihnen rechtmäßig gehört? Sie sagen mir vielleicht, dass das Bild von Ihrer Mutter stammt und sie es Ihnen geschenkt hat. Ich hoffe, dass das nachprüfbar ist. Bei digitalen Objekten sollten wir auch in der Lage sein, das zu beweisen. Und das können wir auch, so zum Beispiel bei NFT. Denken Sie daran, wie solche Entwicklungen die digitale Rechteverwaltung im Filmbereich erleichtern können. 

Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es darum, dass Informationen nun auf eine andere digitale Weise verknüpft und validiert werden. Liegt das zentrale Potenzial des Metaverse für Filmschaffende also darin, dass wir die Informationen zu den Inhalten, die wir produzieren, neu organisieren und so transparent, sicher und überprüfbar machen? Sodass ich zum Beispiel von jedem Zuschauenden die Info bekomme, dass die Person meinen Film gesehen hat, wie lange und wo und was dafür bezahlt wurde. Ist das der Kern der Sache?
Ja, ich glaube, das ist der Kern der Sache. Und zugleich ist das auch eine Herausforderung. Bei den Punkten die Sie gerade genannt haben, muss man auch über den Datenschutz und die entsprechenden Maßnahmen sprechen. Ich war beruflich selbst an der Entwicklung von Technologien für Ad Targeting und Personalisierung beteiligt. All diese Dinge setzen voraus, dass Sie als Verbraucher etwas bekommen. Und je mehr Sie geben, desto mehr kann ich Ihnen zurückgeben. Zum Beispiel eine erstklassige personalisierte Inhaltslieferung, bei der Sie die Dinge sehen, die Sie sehen wollen. Aber ich kann mit Ihren Daten auch etwas anfangen. Und hier stoßen wir auf die Herausforderung: Manche Personen möchten, dass die Daten frei verfügbar sind und geteilt werden können. Andere wollen ihre Privatsphäre schützen, wissen, wie sicher ihre Daten sind und entscheiden, wie viel sie von sich preisgeben.
Es entsteht oft das Missverständnis, dass Menschen denken, „oh, das Metaverse wird so viel anders sein“. Aber nein, so ist das nicht. Wenn Sie heute eine Website besuchen, müssen Sie sich anmelden? Werden Sie um Zustimmung von Cookies gebeten? Werden Sie um Erlaubnis gefragt, dass man Sie benachrichtigen oder kontaktieren kann? All das wird nicht verschwinden. Und es kommen sogar weitere Probleme hinzu. Denn Sie loggen sich nicht nur einfach irgendwo ein, sondern bringen möglicherweise auch eine sichtbare Identität mit. Und dann ist die Frage, wie Sie Ihre Identität beim Betreten eines Ortes überprüfen und welche Authentifizierungsebenen es gibt.
Nehmen wir an, Sie kommen in eine digitale Welt, so wie ich Sie heute sehe, als weißen Mann mittleren Alters. Aber was wäre, wenn Sie als 16-jähriges schwarzes Mädchen kämen? Ist das in Ordnung? Was sind die Regeln des Universums, in das Sie kommen und in dem Sie jemand anderes sein können? Männlich, weiblich oder irgendeine Kreatur? Und wenn wir in dieser Welt miteinander sprechen oder wie heute ein Interview führen würden, wie könnten wir uns der Identität der anderen Person sicher sein?
Schon jetzt wenden wir viel Zeit auf für die Anmeldung bei verschiedenen Websites. Wie schön wäre es, einfach auf einer Website aufzutauchen und einen universellen Berechtigungsnachweis zu haben, der für einen selbst gültig ist, ohne dass man seine Passwörter 27 Mal ändern muss. Identity Lockers sind hier ein Schritt in die richtige Richtung. 

Kehren wir zu den Filmschaffenden zurück. Was bedeuten all diese Entwicklungen für sie?
Um es kurz zu machen es sind vor allem zwei Dinge. Erstens: Es gibt eine Menge Menschen, die an den schwierigen Herausforderungen der digitalen Infrastruktur arbeiten. Zweitens: Es wird immer mehr Möglichkeiten geben, Geschichten zu erzählen, gute Geschichten zu entwickeln und mit dem Publikum zu interagieren.

Und wie denken Sie, ist die Medienbranche und sind die Menschen, die in der Medienbranche arbeiten, auf all das vorbereitet?

Es ist schwierig. Wenn man keine andere Welt kennt, kann es beängstigend sein, wenn man merkt, dass die eigene Welt mit anderen verschmilzt. Unsere Welten, die verschiedenen Silos und Branchen sind schon am Verschmelzen und sie werden noch weiter verschmelzen. Und das wird unübersichtlich und chaotisch. Alte Barrieren und Mauern werden niedergerissen, Grenzen verschwimmen.
Ein Kollege hat mich letztens gefragt, ob wir einen Kurzfilm in Unreal erstellen, ihn aber fotorealistisch machen. Ist das dann eine Animation oder ein Kurzfilm? Und die kurze Antwort ist, dass das keine Rolle spielen sollte.
Werden die Leute Angst haben? Auf jeden Fall. Sollten sie verstehen, dass es sich um einen Weg handelt, den man nicht aufhalten wird? Auf jeden Fall. 

 

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