Gedanken in der Pandemie 128: Nachtgedanken in der Wohlfühlzeit

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Auch eine Idee: ein Corona-Mat. Wer seine Meinung von „Alles Aufsperren“ bis „Harter Lockdown“ eingibt, erhält das Land angezeigt, dessen Maßnahmen am besten dazu passen. | Montage © cinearte

Wahlomaten, Postkolonialismus, Leningrad – Gedanken in der Pandemie, Folge 128.

„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“
Jean-Jacques Rousseau

Mich wundert, dass es noch keinen Corona-Mat gibt. Ein Tool, bei dem man über die verschiedenen Optionen der Corona-Politik von „Impfzwang“ bis „Alles Aufsperren“, vom „Tübinger Modell“ bis „Harter Lockdown“, von Streeck bis Drosten seine Vorlieben benennen kann, und dann bei „Neuseeland“ oder „Schweden“ landet. 

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Zu den letzte Woche hier vorgestellten Wahlomaten zur Bundestagswahl sind inzwischen noch weitere hinzugekommen. 

Zum einen der Wahl-O-Mat für die Bundestagswahl, sowie die Wahlomaten für die Wahlen in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern. 

Und dann die „Progressomaschine“ von „DeutschPlus“. Dabei handelt es sich nach eigenen Angaben um eine Hilfe, um im Wahlchaos den Durchblick zu bewahren. „Gemeinsam mit einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis haben wir zur Bundestagswahl 2021 eine Online-Wahlentscheidungshilfe entwickelt: Die. Sie ist das erste Wahltool, das die Parteien an den Themen soziale Gerechtigkeit, faire Arbeit und Wirtschaft, konsequenter Klimaschutz, humane Migrationspolitik, Inklusion und Chancengerechtigkeit und ihrer Arbeit gegen Rassismus und Diskriminierung misst.“

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Es gibt auch den Wahlkompass. Und Wahltraut. Und für Spezialisten den Agraromat. 

Krass, wie verschieden die Ergebnisse sind, zumindest für mich: Beim einen sind die GRÜNEN bei mir weit vorn, beim anderen weit hinten. Immer gut abschneiden tut VOLT, die PIRATEN, immer schlecht die CDU. Sie wird es überleben. 

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Die alte Tante „Zeit“ schickt mir immer wieder sogenannte Umfragen, bei denen ich dann aber nie erfahre, wie andere abstimmen, weil es eigentlich nur darum geht, meine Adresse herauszutricksen und mich dann noch besser mit Werbebotschaften zu belästigen.

Trotzdem hätte mich die heutige Umfrage wieder um ein Haar getriggert, zu antworten: „Welche Koalition wünschen Sie sich?“ Das beantworte ich dann ungefragt einfach hier: Eine Ampelkoalition! Jede Regierung ohne die Union ist mir erstmal grundsätzlich lieber als jede Regierung mit ihr. Alleine schon, weil es ein demokratisches Unding ist, das eine Partei zwei Jahrzehnte lang am Stück regiert, und sich den Staat zunehmend als Parteibesitz zu eigen macht. Und es nutzt keinem Land, auch unserem nicht, wenn eine Partei quasi als Staatspartei funktioniert.

Das wichtigste Ziel bei der kommenden Wahl muss also aus meiner Sicht lauten, die Union abzuwählen.  Allerdings: wenn ich ganz ehrlich bin, ist mir eine bestimmte Koalitionsoption noch unsympathischer, als eine weitere mit Unionsbeteiligung. Rot-Rot-Grün. Ich gehöre zu jener „Mehrheit der Deutschen“, die laut aktuellen Umfragen „Die Linke“ im Bundestag „nicht vermissen würden“.

Eine Ampel wäre auch aus einem zweiten Grund die meiner Meinung nach beste, also am meisten wünschenswerte Option: Die stupiden politischen Lagerbildungen müssen endlich überwunden werden! Diese Lagerbildungen sind politische Altlasten, die die Bundesrepublik noch aus den frühen Jahren unter Helmut Kohl mit sich herum schleppt, nach denen es einerseits das sogenannte „bürgerliche Lager“ aus Union und FDP, und andererseits das „Reformlager“ aus SPD und Grünen gibt, und beide nichts miteinander zu tun haben. Als ob die SPD eine Reformpartei wäre, und die Union so wahnsinnig neoliberal. 

Dass Union und Grüne gut miteinander regieren können, beweisen sie in zwei Bundesländern und in vielen Großstädten. Jetzt ist es auch endlich fällig, die sozialliberale Option wiederzubeleben. Und damit die FDP auch stärker aus der babylonischen Gefangenschaft des Neoliberalismus wieder herauszuführen und an ihre  bürgerrechtlich-liberalen Wurzeln und überhaupt an die Tradition des Liberalismus zu erinnern, die vom „Neoliberalismus“, der eigentlich ein Neokonservatismus ist, nur pervertiert wurde.

Wenn es nämlich etwas werden soll mit einer tatsächlich wirksamen und nicht nur rhetorischen Klimapolitik, und einer tatsächlich wirksamen Digitalisierung der Republik, Dann braucht jede Regierung auch Mitglieder, die von der Industrie und „ dem Kapital“  nicht als Feinde gesehen werden. Ich  Ich kann nicht erkennen, wie dies ohne die FDP für ein rot-grünes oder gar rot-rot-grünes Bündnis möglich wäre. Von allem anderen, was dagegen spricht, einmal abgesehen.

Jede zukünftige „Lagerregierung“ wäre zwangsläufig auch einer recht kompromisslosen „Lageropposition“  ausgesetzt. Die gegenwärtige Rote-Socken-Kampagne der Union, so muffig und unwirksam sie auch daher kommt, gibt darauf einen Vorgeschmack. Wollen wir vier solche Jahre? 

Letztes Argument für eine Ampel – und als zweitbeste Alternative für „Jamaika“ und als drittbeste für Schwarz-Grün – ist, dass diese Modelle einer auch bürgerlich-elitären Regierung am ehesten die AFD austrocknen und ihr langfristig Wähler abspenstig machen können.

Denn die wahre Herausforderung, die der Einzug der AFD in den Bundestag vor vier Jahren bedeutet, ist noch nicht sichtbar geworden Punkt sie liegt darin dass die AFD auf lange Sicht ein Bestandteil des Parlaments ist, und früher oder später sich wieder eine Chance ergeben wird die diese Partei dann nutzt um Ressentiment und Menschenverachtung an die Macht zu bringen, oder zumindest im politischen Diskurs zu etablieren.

Die Hoffnung, dass sich die AfD selbst erledigen könnte ist zwar immer noch nicht völlig unbegründet, aber nicht die wahrscheinlichste Option. Es braucht schon einen politischen Gegner, der den Kampf aufnimmt, und ihn klug führt

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Leben wir wirklich in der besten aller möglichen Welten? Findet Fortschritt statt? Oder vielleicht doch eher Rückschritt?  Wenn man ein nicht mehr junger Mann ist, und solche Fragen hin schreibt, dann läuft man schnell in Gefahr,  als „alter weißer Mann“ auf den Schrotthaufen der Geschichte geworfen zu werden – wo man sich allenfalls als als alter weiser Mann fühlt; und selbst das eigentlich nicht.

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Anlass zu derartigen Nachtgedanken: Ein Gespräch mit einem sehr geschätzten Radioredakteur. Er berichtet von seinen Studienzeiten und dem Alltag als Vater in der „Volksrepublik NRW“. Im Studium (Ende 80er Jahre, Uni Frankfurt, Komparatistik bei Christa und Peter Bürger) „da war man noch elitär. Da war es gar nicht die Frage, ob man ein Referat macht, sondern wie viele. Und wenn man bis zur nächsten Woche nicht drei Bücher gelesen hatte, brauchte man nicht wiederzukommen.“

Man habe dafür immerhin noch viel gelernt, wovon er bis heute zehre. 

Dann berichtet er von seinem Gespräch mit seiner 16-jährigen Tochter. Frage: „Was hattet ihr in der Schule?“ Antwort: „Heute hatten wir Wohlfühlzeit.“

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Wie wir alle. Der Sommer vor der vierten Welle, der jetzt zuende geht, ist Wohlfühlzeit. Dann kommt die Wahl. Was kommt danach?

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Könnte es sein, dass uns tatsächlich heute etwas unwiederbringlich verloren geht? Dass nicht jede Reform eine gute Reform ist? Und dass die sogenannten Bologna-Reformen nicht eine alte, überholte Universitätsidee zerstört haben, sondern die Idee der Universität an sich, die ausgerechnet in der Stadt Bologna im Mittelalter einmal angefangen hatte?

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Heute vor genau 80 Jahren begann eine der fürchterlichsten Episoden des Zweiten Weltkriegs: Die Blockade von Leningrad. 900 Tage dauerte das Leben in der Hölle, bis zum Januar 1944. 1,2 Millionen Zivilisten starben. Neben Auschwitz ist Leningrad damit der Ort mit den meisten Toten der ganzen Kriegszeit.

Es war keine Belagerung, denn weil ausreichende Belagerungsartillerie und Flugzeuge den Deutschen nicht verfügbar waren, gebrauchte man die älteste Blockade-Waffe überhaupt: Aushungerung. Bereits am 22 September 1941 verzeichnet das Kriegstagebuch der 18. Armee: „Alle Vorbereitungen zum Besetzen und Ausnutzen der Stadt können eingestellt werden.“ Das Prinzip bestand also nicht darin, anzugreifen, sondern vor allem darin, zu warten. Abzuwarten, bis der Gegner in der Stadt erschöpft und ausgehungert ist, und sich dann ergibt. 

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Aus dem Leben eines Journalisten: Wenn man früher jemanden nicht auf einer Veranstaltung, einem Symposion oder einer Diskussionsrunde einladen wollte, musste man sagen: „Wir finden deine Positionen falsch.“ Oder „wir möchten diese Position nicht auf dem Podium haben“ oder „es gibt Leute, die wollen nicht mit dir auf einem Podium sitzen.“ Heute macht man das anders, zumindest wenn es sich um einen Mann handelt. Dann sagt man einfach: „Wir haben zu wenig Frauen auf dem Podium“ und damit ist man aller weiteren Debatten ledig. Manchmal macht man aber den Fehler, jemanden schon einzuladen und dann dummerweise wieder ausladen zu müssen. Dann bekommt man eine email, wie ich sie gerade erhalten habe.

Dort stand: „Lieber Rüdiger, ich muss Dich leider wieder ausladen. Wir haben im Augenblick zu viele männliche Teilnehmer*innen mit ähnlichen Kompetenzen. Ich würde mich natürlich freuen, wenn Du im Publikum mitdiskutierst.“ Dazu der glaubwürdige Zusatz: „Wenn das jetzt für Dich irgendwelche Nachteile mit sich bringt, sage mir bitte Bescheid. Es ist mir sehr unangenehm.“

Bescheid habe ich dann gesagt. Allein schon, weil besagtes Podium paritätisch besetzt war, der böse Männerüberschuß also woanders stattfindet. Und weil ich aufgrund einschlägiger Erfahrungen mit typisch deutschen Debatten dahinter auch die anderen genannten Gründe vermuten muss, weil ich weiß, dass ich manchen Leuten mit meinen recht kritischen Positionen unangenehm bin, und man immer wieder gern mal versucht, zu canceln … 

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Leider musste ich auch noch ein „PS“ dazu schreiben: „Verzeih mir, aber auch wenn man unbedingt ,politisch korrekt‘ schreiben möchte: Es gibt keine ,männliche Teilnehmer*innen‘. Sondern männliche Teilnehmer, weibliche Teilnehmerinnen, und meinethalben allgemein Teilnehmer*innen.

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Es ist relativ wohlfeil, wenn Filmschaffende auf Podien „postkolonialistische“ Positionen zu vertreten, aber dann in Rumänien, Bulgarien, Ungarn, oder noch weiter im Osten Filme zu machen. Denn tatsächlich ist das Produzieren unter Billiglohn- und Ausbeutungsbedingungen in diesen ehemaligen Ostblockstaaten nichts anderes als eine andere, neue Form von Kolonialismus. Die wie die alte Form des Kolonialismus natürlich manchen der „Eingeborenen“ durchaus zupass kommt, weil diese unter dem, was uns als Ausbreitungsbedingungen erscheint, trotzdem vergleichsweise sehr gut verdienen.

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Das ist eine Form der Macht-Vergessenheit und Inhalts-Vergessenheit. Es gibt andere. 

Alle die hier mitlesen, und Filme machen, vor allem in Produktion und Regie, aber auch diejenigen Drehbuchautoren die etwas von ihrer Arbeit verstehen, sollten sich fragen ob sie sich wirklich von „Kontrakt 18“ vertreten fühlen, und sich mit Forderungen gemein machen, in denen behauptet wird, dass Regisseure nur „technische Drehbücher“ erstellen, und das Drehbuchautoren besser entscheiden können, wer bei ihrem Drehbuch Regie führt, als Produzenten. Denn solche Forderungen sind nicht etwa eine „neue Politik“ oder „revolutionär“ oder wenigstens „gerecht“, sondern sie sind einfach nur dumm, und offenbaren, dass die, die sie aufstellen vom Handwerk der Filmproduktion nichts verstehen.

Schlimmer aber ist, dass solche Forderungen in der Praxis instrumentalisiert werden, um Regisseure und Produzenten und damit mittelbar natürlich auch wieder die Drehbuchautoren noch besser ausbeuten zu können. Und zwar von den Sendern und den Förderern die sich noch damit öffentlich spreizen, dass sie angeblich etwas für die Gerechtigkeit gegenüber Drehbuchautoren tun.

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Noch ein alter weiser Mann. Der Künstler Markus Lüpertz spricht bei „Titel Thesen Temperamente“ über den Stand der Dinge: „Die Kunst hat sich entwickelt. Aber das Publikum ist intellektuell nicht nachgezogen. Und das ist das Hauptproblem: dass wir eine Gesellschaft haben, die früher von der Kunst eine Emphase verlangte, eine Erhebung, eine Adelung des Menschseins überhaupt. Und heute wird von der Kunst Unterhaltung verlangt.“

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