Gedanken in der Pandemie 125: Die gefährdete Fantasie und das Ethos der Mainzelmännchen

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Die Erfahrungen der Deutschen mit ihrer ersten Demokratie sind bis heute nicht ganz ausgelotet. Dominik Graf nähert sich ihnen aber an. Seine Adaption von Erich Kästners Roman „Fabian“ läuft jetzt im Kino. | Foto © DCM

Journalistische Trauerspiele, Surrealismus und Terror, Streichholz und Benzinkanister, und die lädierte Utopie – Gedanken in der Pandemie, Folge 125.

„Es geht gar nicht um die Grünen in diesem Wahlkampf. Es geht darum, dass die Gesellschaft entlang der Analysen der Wirklichkeit handlungsfähig wird. Und das sind wir nicht.“
Robert Habeck im „ZDF-Sommerinterview“

„Die Abkehr vom Politischen schlägt sich inzwischen, wenn auch unschuldig, auch dort in einer verräterischen Semantik nieder, wo Verdacht sich eigentlich nicht einstellen sollte: Beim weltläufigsten unserer Politiker.“
Karl Heinz Bohrer

Karl-Heinz Bohrer ist gestorben, leider, ein gutes Jahr vor Vollendung seines 90. Lebensjahres. Bohrer gehört für mich zusammen mit Alexander Kluge und Jürgen Habermas zu den drei spannendsten lebenden Intellektuellen deutscher Sprache. Wie Kluge war er neugierig, vor allem neugierig, mit Habermas verband ihn die Lust an Streit und an Debatte. Zugleich bewies er, zum Beispiel in seiner Freundschaft mit Habermas: Auch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten in politischen Fragen, müssen einen nicht daran hindern, sich gut zu verstehen. Davon könnten heute fast alle etwas lernen. 

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Schade, dass Bohrer zu Lebzeiten nicht von allen so gerühmt wurde wie jetzt zu seinem Tod: Nahezu alle Medien begriffen, dass Bohrer einer der wichtigsten Denker unseres Zeitalters war, dass neben ihm solche mediokren Gestalten, wie sie in den meisten Medien als Intellektuelle verkauft werden, die Prechts und Sloterdijks, sich am besten ins nächste Loch verkriechen. 

Karl Heinz Bohrer versuchte ein Unterfangen, das eigentlich aussichtslos war. So wie Wolfram Siebeck sein Leben damit verbrachte, den Deutschen das Essen, das Kochen und die Esskultur beizubringen, versuchte der extrem fleißige Bohrer – der Jahr pro Jahr ein Buch schrieb, so viele, dass er zwei Verlage parallel brauchte, um sie alle unters Volk zu bringen – in zahlreichen Büchern den Deutschen Schönheit und Stil zu vermitteln, und dabei ein Gefühl dafür entstehen zu lassen, warum das nichts mit Moral zu tun hat. 

Bohrer war dabei voller Streitlust. Buchtitel wie „Die gefährdete Phantasie“ (sein Erstling) und „Der Lauf des Freitag. Die lädierte Utopie und die Dichter“, „Die Ästhetik des Schreckens“, „Imaginationen des Bösen“, „Mit Dolchen sprechen“ geben die Richtung seiner Interessen vor: Das Extrem. Die Ränder des Verständlichen, Kommunizierbaren, Zulässigen. Und die Attacken auf die laue Mitte, aufs Durchschnittliche, das Juste-Milieu, auf die kirchernden Mainzelmännchen in allen Lagern.

Wir können viel von Bohrer lernen. 

Und in „Provinzialismus“ geht es um das „Ethos der Mainzelmännchen“, ums politische Hinterwäldlertum der Deutschen, das von deren ästhetischen Defiziten nicht zu trennen ist. 

Wer jetzt auf den Deutschen Wahlkampf blickt, wird fortwährend an Bohrers Diagnosen denken müssen. Bei Laschet wie bei Baerbock. Nur Olaf Scholz wäre, glaube ich, Karl Heinz Bohrer einfach zu blöd gewesen. 

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Und wem das trotz meiner Begeisterung zu intellektuell klingt, und wer mir hier einfach nicht vertraut, dem lege ich zumindest mal Bohrer zwei Autobiografien ans Herz: „Granatsplitter“ über die Jugend des 1932 Geborenen im „Dritten Reich“, aus dem unter anderem hervorgeht, warum man eben seinerzeit wenn man wollte sehr wohl vermeiden konnte, als Junge zur HJ zu gehen – schon als Kind bewies Bohrer (und seine Eltern) Zuvilcourage. Auch erzählt er wunderbaren Klatsch über Kinder aus allzugutem Hause auf dem Edelinternat Birklehof in den 1940er-Jahren.

Und dann „Jetzt“, die Fortsetzung über seine Studienzeit, seine Jahre bei der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ , wo er Literaturredakteur und Vorgänger von Marcel Reich-Ranicki war. Über seine Sympathien für die RAF (als „FAZ“-Redakteur) und seine Skepsis gegen alle Utopismen und die revoltierenden, aber eben stillosen Studenten. Beide Bpücher bilden eine Kulturgeschichte deruntergegangenen Bundesrepublik. 

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Ich hoffe, am Donnerstag in der Zeit noch einen Nachruf auf Bohrer von Thomas Assheuer lesen zu dürfen – vielleicht dem einzigen Journalisten der philosophisch auf der Höhe von Bohrer ist und in diesem Sinn satisfaktionsfähig. Eine altmodisches, aber für Bohrer gebräuchliches Wort, auf das jetzt alle, die möchten, einmal mit der Stirn runzeln dürfen. 

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Warum macht unsereiner eigentlich, was er macht? Diese Frage könnte man auch bei Bohrer stellen. Die Antwort ist letztendlich die, die Thomas Assheuer einmal in ähnlichem Zusammen hang gegeben hat: Nur für uns. 

Auch Bohrer hat vor allem für sich selbst geschrieben. Darum profitieren wir alle davon. So funktioniert Kunst.

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Deutschland bereitet sich mental wie emotional auf die vierte Welle vor. Mit den steigenden Inzidenzraten kehrt auch die latente Hysterie zurück. 

Das merkt man zum Beispiel daran, dass es dpa allen Ernstes eine Nachricht wert ist, zu melden: „Nena hat bei einem Konzert auf der Insel Rügen erneut die Corona-Maßnahmen thematisiert.“ Was ist geschehen? Laut der Pressemitteilung hat die Pop-Sängerin bei einem Konzert auf Rügen ihre Fans, folgendermaßen angesprochen: „Sagt mal Leute, hab ich irgendwie gesagt, dass ihr hier alle ganz nah und eng beieinander stehen sollt? Ich hab’s nicht gesagt, aber ich freu mich, dass ihr es tut“. Und dann sagte sie noch: „Ja, jeder macht, was er will.“ Sie sprach dabei zu den zuvor negativ auf Corona getesteten, genesenen oder geimpften Konzertgästen, die nur die durften direkt vor der Bühne tanzen. Solange die Gäste nicht direkt vor der Bühne tanzen wollten, mussten sie weder negativ auf Corona getestet, noch geimpft oder genesen sein. Eine Maskenpflicht bestand nur auf den Toiletten. 

Ja und? Es war keine illegale Corona-Party, sondern eine behördlich genehmigte Veranstaltung. Man nennt so etwas auch Bürgerfreiheit. Trotzdem hält es dpa für wichtig weiter zu melden: „Nena drückte immer wieder ihre Freude über die weitgehenden Freiheiten vor Ort aus. Während eines Liedes tanzte sie einen Gang zwischen den Sitzreihen der Waldbühne hinauf, umringt von Konzertgästen.“ Und weiter: „Nena hat in der Pandemie mehrfach für Diskussionen gesorgt. Im März veröffentlichte sie bei Instagram ein Video mit dem Titel „Danke Kassel“, nachdem in der Stadt Tausende Menschen gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen auf die Straße gegangen waren. Im Oktober löste Nena mit einem Post auf Instagram Diskussionen über mögliche Verschwörungstheorien aus, betonte aber, dass sie nicht als Corona-Leugnerin verstanden werden wolle.“

Nichts Subtanzielles also, aber viel Geraune und latenter Verdacht. 

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Aber wieso ist es eigentlich so schlimm, wenn Nena auf ihren Konzerten Corona-Maßnahmen kritisiert? Es gibt Meinungsfreiheit in Deutschland, und die gilt natürlich auch für Künstler. Meinungsfreiheit bedeutet auch sogar die Freiheit, Unsinn zu reden oder etwas zu sagen, was vielleicht manchen politisch nicht in den Kram passt. Warum muss man daran in Deutschland immer wieder erinnern? Warum hält es in Deutschland der Mainstream des Denkens, der Mainstream der Politik und auch der Mainstream der Medien, warum hält es also die große breite Mehrheit in unserer Gesellschaft offenbar so schlecht aus, dass es Minderheiten gibt, die andere Ansichten haben; jedenfalls nicht ohne diese Minderheiten dann zu kritisieren und mehr oder weniger öffentlich in den Senkel zu stellen? Natürlich kann man jetzt das entgegnen, was gern in solchen Fällen entgegnet wird: Meinungsfreiheit bedeutet auch die Freiheit, dass jemand kritisiert wird. Vollkommen richtig! Darum kritisiere ich jetzt die Nena-Kritiker, ohne dass ich deswegen alles, was Nena macht unterschreibe. Aber wenn umgekehrt irgendein Künstler auf seinem Konzert Corona-Maßnahmen lobt, dann ist dies auch keine Nachricht wert. Und dann wird auch nicht gesagt: Dieser Künstler soll doch besser seine persönliche Meinung für sich behalten, das hat ja schließlich nichts mit dem Konzert zu tun. Mich stört es, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird, statt einfach zu respektieren das Nena Dinge sagt, die einer breiten Mehrheit in Deutschland nicht gefallen. 

Davon abgesehen haben wir in der Vergangenheit Nena weder als politische Ratgeberin noch als Expertin für Gesundheitsmaßnahmen konsultiert. Warum fangen wir jetzt damit an?

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Sehr treffend kritisiert Christian Vock auf Web.de das sogenannte „ZDF-Sommerinterview“ mit Grünen-Chef Robert Habeck. „Im Sommerinterview mit Robert Habeck verschenkt Journalistin Shakuntala Banerjee wertvolle Gelegenheiten.“ schreibt Vock, „Lieber hängt sie sich an Querelen im Wahlkampf auf, als nach den politischen Plänen der Partei zu fragen. Als es um die Frage geht, wie dringende Investitionen finanziert werden sollen, ist bereits wieder Schluss.“

An Robert Habeck lag das nicht, Mehrfach versuchte er, über Inhalte zu reden und scheute sich auch nicht, die bescheidene Interviewführung der ZDF-Frau direkt zu kritisieren: „Wir müssen jetzt sehen, dass wir deutlich machen – und das scheint, wenn ich an Interviews denke, die ich diese Woche gegeben habe, noch nicht einmal bei informiertem Journalismus angekommen zu sein, was die Dringlichkeit ist –, wie sich das Wetter immer extremer gebiert, wie Leben und Freiheit von Menschen in Gefahr sind und dass wir jetzt handeln müssen.“

Die Fragen von Banerjee sind prototypisch für aktuelle Tendenzen im Mainstream-Journalismus, der sich gern selbst als „Qualitätsjournmalismus“ bezeichnet, aber damit immer weniger zu tun hat: Es geht los mit einer Themenwahl die mit angemessener Schwerpunktsetzung nichts zu tun hat. So wie nicht wenige deutschen Medien bei Filmfestivalberichten, nur über die Dichte angebliche „Stars“ auf dem Roten Teppich berichten, oder neuerdings gern über die Pandemieverstöße auf Filmfestivals, so geht es in der Politikberichterstattung ungern um Inhalte und Programme und deren Umsetzung, sondern dafür um Personalien, interne Streitigkeiten und Wahlkampfstategien.

Die Medien werden so ihrer Aufgabe immer weniger bis gar nicht gerecht, und das ist gerade in Zeiten gefährlich, in denen die Gebühren für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk von interessierter Seite angegriffen werden, und auch vor Verteidigern der Rundfunkordnung ein Umdenken gefordert wird. „Man muss es wirklich nicht mit den Grünen halten oder Mitleid mit Habeck haben, aber es ist ein journalistisches Trauerspiel, dass Banerjee erst nach zehn von zwanzig Minuten die erste inhaltliche Frage stellt und bis dahin lieber mit Umfrage- und Beliebtheitswerten hantiert.“ 

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Ein weiteres Beispiel von Banerjees komplett irrelevanten, hochproblematischen Fragen, die insinuierend und überdies latent frauenfeindlich sind: „Wie schwer ist es eigentlich für Sie, der Frau, der Sie unterlegen sind, jetzt beim Scheitern zuzuschauen?“ Vock kommentiert so präzis wie ätzend: „Genauso gut hätte Banerjee Habeck fragen können, was er von Baerbocks Kleiderwahl hält – für eine Entscheidungsfindung der Bürger, wen sie wählen sollen, hat jedenfalls beides keinerlei Bedeutung.“

Im Grunde ist es völlig egal, ob jemand im Wahlkampf irgendwo eine Zeile aus Wikipedia abgeschrieben hat, oder an unpassender Stelle gelacht. Hätten beide nicht tun sollen, ganz klar, und man wünscht sich von Bundeskanzlern eine Professionalität, die solche Fehler ausschließt. Aber die Fragen, die bei der nächsten Bundestagswahl auch mit der Kanzlerentscheidung entschieden werden, sind andere. Und die Entscheidungen wiegen schwerer. Das meint Habeck, wenn er feststellt, dass die deutsche Gesellschaft zur Zeit nicht entscheidungsfähig ist. Ihr fehlt die Fähigkeit zum Ernst. Das Ethos kichernd-schmunzelnder Mainzelmännchen überwiegt. Egal ob Corona, ob Klima, ob Außenpolitik, ob Flüchtlinge, ob Weltwirtschaft, ob Iran oder China. Wir machen unser Ding, egal wie die Welt sich dreht. Macht ja nix. Merkt ja keiner. 

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Auch zum Impfthema hatte Habeck Wichtiges zu sagen, das zu wenig Platz in den Interview findet: „Es geht nicht darum, Ungeimpfte auszuschließen. Es geht darum, Geimpften ihre Grundrechte und freies Leben zurückzugeben.“

Noch einmal der gute Kommentator von Web.de: „Es ist bezeichnend für die gesamte Art dieses Sommer-Interviews, dass Banerjee genau in dem Moment, in dem das Gespräch inhaltlich Fahrt aufnimmt und Habeck erklären will, was in den vergangenen 16 Jahren von der Regierung alles an wichtigen Themen liegen gelassen wurde, das Interview beendet: ,Den Ausflug können wir jetzt leider nicht mehr machen aus Zeitgründen.‘ Für den Zuschauer ist das ein Schlag ins Gesicht. Armin Laschet wurde und wird immer wieder auch von Medien vorgeworfen, sich auf nichts festlegen zu wollen. Nun hat man in den Sommerinterviews eine gute Gelegenheit, die Gäste auf genau diese Inhalte festnageln zu können – auch, damit der Zuschauer sich vor der Wahl ein besseres Bild von der Auswahl machen kann. Wenn diese Gelegenheit dann bei einem Gast, der von sich aus über Inhalte reden möchte – egal, ob man sie teilt oder nicht –, derart mit Nebensächlichkeiten vertan wird, dann hat der Zuschauer rein gar nichts von solchen Interviews.“

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Ein fließender Übergang zieht uns hinein, nicht allein in den Film, sondern in eine ganze Epoche. Als zu Beginn die Kamera in eine Berliner U-Bahn-Station steigt, und sich durch das Passantengedränge schiebt, sieht man Menschen, Kleidung, Gesten und Gesichter unserer Gegenwart. Wir selbst könnten da gerade stehen, und auf einen der Wagen warten, die immer noch in dem gleichen Gelbton lackiert sind, wie in den Zwanziger Jahren. Doch dann macht das Bild eine schnelle Drehung, unmerklich tragen mehr und mehr der Menschen Stehkrägen und Schiebermützen, die Männer Schnurrbärte und Hüte, die Frauen Pagenkopf und Jacketts. Das Bild schiebt hinein in die Zwanziger die zwar keineswegs für allen „golden“ waren, vielen aber so vorkamen, im Rückblick und wissend um die braunen Dreißiger. Oben, als die Kamera und mit ihr unser Blick aus dem U-Bahn-Ausgang heraustritt, steht dort Fabian (Tom Schilling), eine Zigarette im Mundwinkel und wird dort von einem Bettler angesprochen, dessen Gesicht fürchterlich versehrt ist. Aus dem Loch, das mal ein Mund war, stammelt es: „Dieser Krieg, dieser verdammte Krieg.“

Die Kriegskrüppel und Kriegszitterer, sie gehören zu den vielen Motiven, die im Kontrast zur „Cabaret“-Welt mit Federboa und Blauem-Engel-Flair ebenso die „Weimarer Erfahrung“ ausmachen. Diese Weimarer Erfahrung und die der Zwanziger Jahre, der „Roaring Twenties“ ist bis heute nicht ganz ausgelotet. Wahrscheinlich sogar weniger, denn je. Auch Dominik Graf gibt in seiner großartigen „Fabian“-Verfilmung, die seit letztem Donnerstag im Kino läuft, nicht vor, das tun zu können. Er nähert sich ihr aber an. 

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Diese Weimarer Erfahrung ist vor allem eine sinnliche, differenzierte, komplexe. Weimar war Drama und Tragödie, es war aber auch Komödie und Farce, es war insgesamt ein faszinierendes Laboratorium des Menschenmöglichen. 

Weimar war optimistisch in dem Sinn, dass alles möglich, nichts festgefügt war, das man experimentierte: Mit sich, mit anderen, mit der Welt. Weimar war das Gegenteil zu allem Heute. 

Wir Heutigen leben in einem unglaublich fantasielosen, mutlosen, uninspirierten, feigen Zeitalter, das sich zwar sehr viel auf seine Erfahrungen zugute hält, aber doch vor allem saturiert ist, sich in Sicherheit wiegen möchte, obwohl Angst und Unsicherheit inzwischen mit Händen zu greifen sind. Nur dass den Menschen heute die Rezepte dafür fehlen, mit ihrer Angst umzugehen. Durchzogen von einem Historismus, einer Vergangenheitsseligkeit, die nur mühsam die Abwesenheit jeder Zukunft tarnt. 

Die Vergangenheitsbesessenheit unserer eigenen Epoche verweist auf ihre Zukunftslosigkeit, darauf, dass wir uns die Zukunft nur als Katastrophe vorstellen können, als Untergang, mindestens „Untergang des Abendlandes“. Und damit sind wir paradoxerweise nicht mehr ganz so weit weg von „Weimar“. Nur dass seinerzeit dieser Untergang gerade stattgefunden hatte. 

Was kann man lernen von Weimar? Vielleicht, dass intellektuelle und moralische Überlegenheit noch nicht vor der politischen Niederlage schützt. 

Vielleicht auch, dass Demokratie nicht immer und notwendig die beste aller Staatsformen bedeutet, dass Zweifel an ihr gute Gründe haben können, dass sie legitim debattiert werden dürfen? Aber ebenso auch, dass jede Staatsform, auch die Demokratie wehrhaft bleiben muss, und sich selbst nicht zur demokratischen Disposition stellen darf. 

Zumindest scheint die theoretische Idee, dass in der Demokratie der Wandel zum politischen Programm wird, in der Praxis von 39 Jahren mit nur drei Kanzlern und zuletzt einer 16-jährigen, nur kurz unterbrochenen großen Koalition – nicht besonders plausibel. 

Aus „Weimar“ lässt sich demnach lernen, dass das Moment der ständigen Selbstverbesserung, so sehr es, wie ihre Verteidiger argumentieren, einer liberalen politischen Ordnung auch eingeschrieben sein mag, kein Naturgesetz ist. Mehr zu versprechen, als man zu halten imstande ist, hat in der Weimarer Republik viele Bürger am System frustriert. Nichts mehr zu versprechen, und keine Zukunftsvorstellungen für die eigene Gegenwart zu entwickeln, nur ihre unendliche Fortschreibung, frustriert aber auch ungemein. 

Es sind diese Erfahrungen und Überlegungen, vor deren Hintergrund Dominik Graf Erich Kästners Geschichte erzählt.

Ich möchte also jeder und jedem unbedingt zum Besuch von „Fabian“ raten. Bei „Artechock“ habe ich über den Film geschrieben.

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Ein zweiter, kaum weniger heißer und leidenschaftlich vertretener Filmtip: „Nuevo Orden“, ein Paranoia-Thriller vom Mexikaner Michel Franco. Dies ist ein Film, in dem man das Staunen wieder lernt. Und das Fürchten. 

Die Hauptfigur ist Marianne, ein Mädchen aus stinkreichem Haus, wohlerzogen und gutmütig, gar nicht so weltfremd, aber eben auch verdorben. Es beginnt mit ihrer Hochzeitsfeier, plötzlich läuft grünes Wasser aus der Leitung. Irgendetwas ist passiert. Weitere Merkwürdigkeiten bündeln sich zur einem phantastischen Vorschein des Kommenden. Was genau los ist, ahnt man lange nicht. Auch an unsere Pandemie kann man bald denken. Moral: Traue keinem. 

“Nuevo Orden“ heißt dann nicht nur die oberflächlich wiedergewonnene Stabilität, sondern eine neue Form des Arbeitens, eine neue Form der Überwachung. Das System zieht das eiserne Gehäuse über die Existenzen der Menschen noch enger zu. Und hinter der Rede von der „neuen Ordnung“ hört und sieht unser eins heute auch: „neue Normalität“. 

Ein universales Misstrauen macht sich Platz. Da muss man sich einfach nur verstecken vor den Institutionen und ihren Vertretern vor Polizei und Armee. Man darf ihnen nicht trauen, man kann ihnen nicht trauen. Das Mindeste, was sie tun, ist ihrer Willkür freien Lauf zu lassen – unnötig zu sagen, dass das mit unseren Verhältnissen in Europa natürlich ganz und gar nichts zu tun hat.

Die Dinge in diesem überreizten, aber auch präzisen Beobachtungskino sind großartig explizit – zwar nicht im Vergleich zu B-Movies und klassischem Horrorfilm, aber sehr wohl im Vergleich zum protestantischen Hollywood-Kino. Dieser Film ist nicht sauber, sondern schmutzig. Wunderbares Kino!

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Und noch etwas Drittes aus der Welt des Kinos: Früher oder später berichte ich auf „Artechock“ über das Filmfestival von Locarno, das sich gerade erfolgreich neu erfindet. Und über den einzigen deutschen Film des Festivals: „Niemand ist bei den Kälbern“ von Sabrina Sarabi. Der lohnt sich nicht nur wegen der immer wieder atemberaubend wandlungsfähigen und überraschenden Saskia Rosendahl. Aber wegen ihr alleine schon. 

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