Gedanken in der Pandemie 121: „Delta 121 greift an!!!“

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Die Viren heißen jetzt anders. „Delta“ heißt die zurzeit schlimmste Mutation – und der Name war auch schon für zahlreiche Action-Filme gut. Szenenfoto aus „Delta Force“ (1986). | Foto © Scotia

Deutschland in Sorge, zwischen Trash-Science-Fiction und Nanny-Staat Flanieren an der Seine – Gedanken in der Pandemie, Folge 121.

Inzwischen liegt die Corona-Tagesinzidenzrate nur noch bei 9. Am höchsten ist sie in Flächenstaaten wie Baden-Württemberg, Bayern, Saarland und Hessen. 

Was bei diesen guten Nachrichten gerade vollkommen in Vergessenheit gerät: Monatelang wurde uns öffentlich in regierungsamtlichen Verlautbarungen wie im Talkshow-Gerede der jeweiligen Gäste, ob Politiker oder Virologen, fortwährend eingeredet, dass das Senken der Inzidenzrate das Allerwichtigste sei. Und warum das? Weil man dann wenn die Rate „erstmal unter 35″ sei, „und besser noch unter 10″, weil man dann „endlich wieder alle Einzelfälle nachverfolgen könne.“ Jetzt liegt die Rate schon seit Wochen unter 35 und seit ein paar Tagen unter 10, und ich bin mir ganz sicher, dass jetzt die Gesundheitsämter munter nachverfolgen, und jeden einzelnen Corona-Fall mit seinem Dutzenden Kontakten mit Bleistift auf ihren Notizblöcken eintragen, und das dann irgendwelche armen Praktikanten in Spahns Ministerium oder beim RKI digitalisieren müssen. Das schafft bestimmt Arbeitsplätze und macht sicher Laune, und ist ganz sicher ungemein effektiv und sinnvoll in der Pandemie-Eindämmung. Denn mit diesen Daten können die Forscher jetzt endlich forschen, und die Gesundheitsämter jetzt endlich – wonach sie sich schon so lange sehnen – alle Kontakte abtelefonieren. 

Nur leider merkt man nichts davon. Und ehrlich gesagt habe ich nicht nur meine Zweifel, dass diese sogenannte „Kontaktverfolgung“ tatsächlich besonders viel bringt. Ich zweifle auch daran, dass sie jetzt überhaupt stattfindet. So wenig wie sie auch im letzten Sommer stattgefunden hat, als die Raten noch niedriger waren. 

Ich finde das auch gar nicht schlimm, mich stört nur, wie mit solch sichtlich unzureichenden Begründungen hantiert wird. Aber vielleicht gibt es ja auch jemanden, der mich hier vom Gegenteil überzeugen kann.

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Die im Prinzip ausgezeichneten Inzidenz-Nachrichten bereiten auch den lieben Politikern zunehmend Sorge. Denn mit ihnen wachsen die Schwierigkeiten, uns undisziplinierte Bürger an der Kandarre zu halten. Fast täglich häufen sich daher auch die mahnenden Nachrichten, wir sollten uns ja nicht zu sicher fühlen, wir sollten weiterhin vorsichtig sein, Abstand halten, Masken tragen …

Das ist ja auch alles nicht falsch. Trotzdem: Warum muss der Staat bei uns immer gleich wie eine strenge Gouvernante auftreten – als klassischer „Nanny-Staat“? Warum kann der Staat, können die Politiker sich nicht mal wie die beste Freundin mit einem über gute Nachrichten einfach freuen, ohne gleich als Spaßbremse aufzutreten? Warum kann man nicht einmal, wenigsten ein Wochenende lang zusammen Party machen? Nicht, dass ich unbedingt mit Angela Merkel und Jens Spahn Party machen möchte. Obwohl … aber es ist schon klar, was gemeint ist.

Für all die mahnenden Worte, und dafür die allzugute Stimmung wieder ein bisschen schlechter werden zu lassen,  kommt da Delta wie gerufen.

Und ich begegne immer wieder Menschen, die nicht glauben wollen, dass es reiner Zufall ist, dass die bösen Mutanten immer gerade dann auftauchen, wenn am Ende des Corona-Tunnels tatsächlich etwas Licht erscheint. 

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Was die Pandemie alles mit sich bringt. Wir lernen jetzt griechische Buchstaben. Alpha, beta, gamma – klar. Alpha war die britische Mutante, die früher B.1.1.7 hieß, Beta ist die südafrikanische. Von Delta haben wir in der letzte Woche an jedem Stammtisch gehört. 

Die griechische Buchstabensuppe kommt daher, dass die Weltgesundheitsorganisation, natürlich „um mehr Klarheit zu schaffen“, die Viren umbenannt hat. Die „Apothekenrundschau“ schafft Ordnung in dem Durcheinander. 

Aber Delta ist gar nicht mehr up to date. In Lateinamerika breitet sich inzwischen die „Lambda“-Variante – nein: nicht Lambada! – aus. Wie üblich gibt es noch keine „gesicherten Erkennnisse“. 

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Es klingt wie der Titel aus einem Trash-Science-Fiction aus den 50er- oder 60er-Jahren: „Delta 21 greift an!!!“ Oder so ähnlich. 

Tatsächlich gibt es gar nicht so wenige Filme, die Delta im Titel tragen. „Delta of Venus“ (USA 1994) nach Anais Nin lasse ich jetzt nal beiseite, da geht’s um anderes. Der ungarische „Delta“ von 2008 von Kornél Mundruczo ist ein Hardcore-Kunstfilm, der im Donaudelta spielt. „Mississippi Delta“ mit Alec Baldwin (USA 1996) heißt nur bei uns so. Im Original „Heaven’s Prisoners“. 

Aber „Delta Heat“ (USA 1991), einen Serienkiller-Thriller kommt dem Sommer ’21 schon näher. Und „Delta Force“ (USA 1986) ein US-Actionfilm in typischer 80er-Grobheit vom Israeli Menahem Golan ist im Trash-Himmel angekommen. Lee Marvin (1924-1987) leitet in seinem letzten Auftritt eine US-Spezialeinheit, die die Geiseln  arabische Flugzeug-Entführer heraushaut. Darunter immerhin Hanna Schygulla, Shelley Winters, Susan Strasberg, Robert Forster,  George Kennedy, Robert Vaughn und Chuck Norris. 

1990 folgte ein zweiter Film: „Delta Force 2: The Colombian Connection“. Hier sind Lationo-Drogengangs die Schurken. Ein Frühwerk von Meister Mel Gibson heißt schließlich: „Delta Mission – Kommando Grüne Teufel“ (Australien 1980)

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Warum sich auf die vorhersehbare erneute Zuspitzung nach dem Sommer „niemand“ vorbereitet, fragt sorgenvoll Harald Neuber auf „Telepolis“. Die Fragen sind berechtigt, aber auch in diesem Text vermisse ich etwas Freude über die wiedergewonnene alte Normalität – oder meinetwegen über den Tanz auf dem Vulkan. 

Wenn sich Menschen für Lockerungen aussprechen, dann ist es nämlich keineswegs Verantwortungslosigkeit. Sondern es ist das Wissen darum, dass wie es in der Bibel heißt, der Mensch „nicht vom Brot allein“ lebt. In die Gegenwart übersetzt: Der Mensch lebt nicht vom Gesundheitsschutz allein. Oder von der Gesundheit. Oder von der Virusabwehr. 

Aber sehr berechtigt ist es, wie der neue Chefredakteur des Internetmagazins „Mängelanzeigen“ formuliert: „Vor diesem Hintergrund sucht man in Deutschland vergeblich ein kohärentes Konzept der politischen Entscheidungsträger in Bund und Ländern gegen eine entsprechende Entwicklung auch hierzulande.  […] Konkret ist bei den vergangenen Konferenzen der Bundesländer sowie von Bund und Ländern  […] wenig geschehen.  […] Verbessert hat sich auch die Situation in der Pflege nicht.  […] Denn es geht auf den Intensivstationen nicht primär um die Anzahl der Betten, wie in Medien und Politik immer wieder bar jedes Fachwissens behauptet wird, sondern um das Fachpersonal, dass die Intensivpatienten betreuen kann.  […] Aber gerade diese Kapazitäten wurden im profitorientierten Krankenhauswesen nicht aufgestockt.  […] Schlechte Voraussetzungen also für die Zeit nach dem Sommer. Aber dann ist auch Bundestagswahl. Und danach, so scheinen die Verantwortlich zu glauben, mag die Sintflut kommen. Oder eben die nächste Corona-Welle.“

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Eine ganz andere Frage ist die, welche Folgen Delta wohl für den kommenden Wahlkampf haben wird? Sollte Delta wirklich so schlimm werden, wie jetzt manche behaupten, das ist noch gar nicht abzusehen.

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Die Regierung der CDU lügt. Das zeigt am besten die Corona-Politik unter Angela Merkel. Es ist keine böse Lüge. Im Gegenteil: Es ist eine fromme Lüge. Die Kanzlerin hat ihr Volk konsequent belogen, ungefähr so ähnlich wie die Eltern im Auto, wenn die Kinder hinten auf dem Rücksitz quengeln und fragen: „Wie lange noch?“ Und die Eltern sagen: „Noch eine Stunde“ – dabei wissen sie: Es wird drei Stunden dauern und eine Stunde später sagen sie dann: „Noch eine Dreiviertelstunde“ dabei wissen sie: Es wird zwei Stunden dauern. Und so weiter.

Dies ist nur ein Beispiel für den Nanny-Staat, der „uns“, also unsere Generation, Menschen die wie ich über 50 sind, aber auch alle, die jetzt über 30 sind, noch eine ganze Weile und wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens begleitet. Erst dann kommt die harte Wahrheit und sie wird unangenehm sein. 

Nanny-Staat heißt Infantilisierung. Also zum Beispiel, wenn der Krieg nicht Krieg heißen darf – wie der Krieg in Afghanistan. Wenn Abzug nicht Niederlage halten darf, wie etwa der Truppenabzug in Afghanistan. Wenn Gesetze  kindisch anmutenden Namen tragen wie „Gute-Kita-Gesetz“ oder „Starke-Familien-Gesetz“. Und weil die Kanzlerin und die sie tragenden Parteien Angst vor der Öffentlichkeit haben und Angst vor der Wahrheit, gibt es keine Entscheidungen, keine Debatten und schon erst recht keine Debatten im Parlament, sondern es gibt eine in der Verfassung nicht vorkommende Runde der Ministerpräsidenten, die nicht öffentlich tagt. Wir fordern allen möglichen Bereichen Transparenz, in der Politik aber fordert es niemand.

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Zu den erfreulichen Folgen der Lockerungen gehört eine Fußball-EM mit Publikum. Auch hier wieder tritt in Deutschland gleich der Nanny-Staat auf. Die Rede ist davon, dass „wir“ in den Stadien die Zuschauer und die Sportler unnötigen Risiken aussetzen. Aber was ist das eigentlich für ein Gesellschaftsbild? Sind Sportler unmündig und können nicht selbst darüber entscheiden, was für ein Risiko sie eingehen? Sind Zuschauer unmündig und wissen nicht selber, ob sie geimpft sind, ob sie Masken tragen wollen, und welches Risiko sie eingehen möchten? 

Warum müssen bei uns Institutionen uns ihre Repräsentanten für die freien Bürger denken? 

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Wer hier im Fußballzusammenhang gerne von „unnötigem Luxus“ redet, sollte sich zumindest klar machen, was er sagt. Entweder sagt er: „Jeder Luxus ist unnötig“, dann kann man das Adjektiv auch weglassen. Oder er meint: „Es gibt auch Luxus, der nötig ist.“ 

Das finde ich in der Tat auch und Fußball gehört dazu.

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„Was bleibt, wenn Corona geht? Homeoffice, Video Konferenz, das Streaming-Dienst Abo? Der Stapel selbstgenähter Stoffmasken? Die vier Kilo Übergewicht? Wie werden wir leben, wenn die Seuche besiegt ist?“ So fragte „Der Spiegel“.

Mir scheint, jetzt beginnt erstmal der Konsumrausch, mit dem man schon von Anfang an, als die Pandemie begann, rechnen musste. Nur Naive konnten glauben, dass wir uns in irgendeiner Weise läutern würden. Nur Ignoranten. Dass wir achtsamer und demütiger würden, das Corona eine Wende der Menschheitsgeschichte sein würde. Und in gewissem Sinn muss ich zugeben: Gott sei Dank ist Corona das nicht. 

Warum sollen Menschen, die geimpft sind, noch Hemmungen haben? Maßvoll, still und vorsichtig waren wir lange genug. Das findet offenbar auch der „Spiegel“-Autor: „Ich weiß nicht, ob die Pandemie einen Wendepunkt der Menschheit markiert. Mir würde es vorerst reichen, wenn wir genau dahin zurückkehrten, wo wir vor Corona waren. Meine wichtigste Lehre aus der Krise lautet: unser altes Leben war nicht so schlecht.“

Stimmt leider gottseidank.

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Eine tolle Idee hatte das Kulturmagazin des „Spiegel“, das „Bestseller“ heißt. Sie haben nämlich die drei Kanzlerkandidaten Annalena Baerbock, Armin Laschet und Olaf Scholz  (nur der Ordnung halber: das war jetzt nicht die wertende, sondern die alphabetische Reihenfolge)  darum gebeten, ein Buch auszuwählen, dass man „im Sommer vor der Bundestagswahl lesen muss“. Was dabei herauskam, verrät, glaube ich, tatsächlich etwas über die unterschiedlichen Persönlichkeiten der drei, in jedem Fall ist es ein Lesevergnügen. Denn für alle drei gilt: Kein Satz, der hier nur vom gewählten Buch handelt. Es ist Performance. Alle drei machen Wahlkampf und präsentieren sich. 

Zugleich ist die Auswahl nicht platt. Wer jetzt also geglaubt hätte, dass Annalena Baerbock uns das neue Buch von Robert Habeck ans Herz legen würde, oder Olaf Scholz Sahra Wagenknechts Bestseller „Die Selbstgerechten“, oder Wolfgang Koeppens Politikroman „Das Treibhaus“, oder Armin Laschet die Geschichte seines Lieblings Fußballvereins Alemannia Aachen, der täuscht sich gewaltig

„Die perfekte Lektüre für diesen Sommer – nicht zuletzt nach den langen Monaten der Corona-Pandemie und angesichts der vielen Fragen, die sich uns politisch umso lauter stellen.“ Baerbocks Wahl fiel auf „Tschick“, das Buch von Wolfgang Herrndorf, dass Fatih Akin verfilmt hat: „,Tschick’ gibt uns Erwachsenen eine Vorstellung davon, was gerade fehlt. Was wir Kindern und Jugendlichen in der Pandemie zugemutet haben. Was wir Ihnen jetzt schulden. ,Tschick‘ ist ein Juwel von einem Roman, der für mich die ganze Leichtigkeit und Melancholie des Sommer-Gefühls in der Jugend feiert. Und dabei das Erwachsenwerden dokumentiert.“ 

Womit uns die Kandidatin darauf einstimmt, was mit uns geschehen soll: Genießt den Sommer, gewürzt mit einem Hauch von Melancholie, weil es der letzte Merkel-Sommer ist, dann kommen Delta und die Grünen, und wir müssen erwachsen werden. 

Wobei das Erwachsenwerden zwar in Büchern zwar oft mit dem Wort „müssen“ verbunden ist, aber ja auch etwas Schönes, Befreiendes sein kann. 

So in etwa ging es wohl Armin Laschet: „Man musste sich engagieren, mit Haut und Haaren, in der Gesellschaft, in der man lebt wird, und der sie umgebenden Welt.“ – nicht vom Eintritt in die Junge Union und seiner Jugend in den 70ern schreibt der CDU-Vorsitzende, sondern von Sartre, Camus, Beauvoir, Genet und anderen Marxisten, vom Paris unter deutscher Besatzung und den ersten Jahren nach der Befreiung. Die Deutschen schauten sehnsuchtsvoll und ein bisschen neidisch zu, während Frankreich die Kultur des Westens neu erfand, und als einziges europäisches Land der allgemeinen Amerikanisierung Europas etwas entgegensetzte. 

Laschets Wahl ist die für mich überraschendste der drei Bücher. Denn er empfiehlt das Buch „An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940 bis 1950“ von Agnès Catherine Poirier. „Poirier lässt uns mit ihren Geschichten buchstäblich am Ufer der Seine über 500 Seiten spazieren gehen. Wir ziehen mit den Protagonisten herum und bei ihnen ein, wir sind dabei, wenn sie fotografieren, komponieren und philosophieren, schreiben und zeichnen, dichten und denken, einander lieben und aneinander leiden.“ 

Laschet erinnert an die Zeit, als Europa noch am Abgrund stand und man sich Versöhnung nicht vorstellen konnte erinnert an Visionen und eine offene Zukunft, an die Trümmer der Geschichte hinter den Menschen – dies ist, wie er schreibt „genau das richtige für einen Sommer, der uns lange in Erinnerung bleiben wird.“ 

Und dann Olaf Scholz. Ja Olaf Scholz. Er empfiehlt das einzige Buch, das mir bis dahin noch nichts gesagt hat. Es stammt von Mariana Mazzucato und heißt „Mission – auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft“. Erster Satz der Empfehlung gleich schon ohne Verb in Scholzscher Beton-Diktion: „Ohne einen strategisch agierenden Staat keine wegweisenden Innovationen.“ 

Scholz gefällt, dass für die Ökonomin „große Missionen“ nötig sind um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit anzugehen. Er liest ein Buch, das kluge Investitionen will, und die Förderung der Übernahme von Risiken. Und folgert: „Politik muss sich etwas Großes vornehmen!“ Und schon ist er klarerweise bei der SPD, die offenbar genau das macht, was Mazzucato beschrieben hat. Sich Großes. Vornehmen.

Scholz erzählt uns auch ein bisschen etwas aus seinem Leben, und so klingt es, wie wenn der Pfarrer beim Wort zum Sonntag Überraschendes berichtet: „Neulich habe ich zufällig die Bibel aufgeschlagen …“ Bei Scholz: „Vor einigen Wochen habe ich den Industriestandort Leuna besucht. Das war beeindruckend und hat die Dimension der Aufgabe neu deutlich gemacht: Die fünffache Menge Strom brauchen sie dort um auf Erdöl, Erdgas, und Kohle komplett verzichten zu können. Da müssen wir jetzt dran. Aus dem gemütlichen Trott muss es in den Galopp gehen.“

Und Scholz ist auch der einzige, der nicht um den heißen Brei herumredet. Er ist Kanzlerkandidat. Und darum schreibt er diesen Text. In dem steht der Satz: „Deshalb bin ich jetzt Kanzlerkandidat“. Warum jetzt? „Wegen der Frage: Wie soll es eigentlich gehen?“ Achso, stimmt: Das will ich eigentlich auch wissen. Also sollte ich auch Kanzlerkandidat werden.

Man merkt schon: Mit Scholz geht es in den Galopp und auch mit Baerbock wird es nicht gerade gemütlich. Wem das zu anstrengend ist, der muss wohl mit Armin Laschet an der Seine flanieren.

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Die Corona-Pandemie hat uns gelehrt, Statistiken zu lesen. Hier mal eine recht neue: Bei einer repräsentativen Umfrage über den Zukunftsoptimismus nach der Pandemie im  Vergleich von acht westlichen Industriestaaten kam jetzt heraus, dass die Deutschen pessimistisch auf die Zeit nach der Pandemie blicken. 

Dies geht aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts „YouGov“ im Auftrag des Think Tanks „Global Progress“ hervor, der anlässlich des G7-Gipfels Mitte Mai 2021 knapp zwölftausend Menschen in acht westlichen Industriestaaten (G7 und Australien) hat befragen lassen.

Die Deutschen blicken im Vergleich zu anderen Ländern eher zurückhaltend in die Zukunft. Nur 30 Prozent der Befragten befanden, dass sich das Land ganz generell in die richtige Richtung entwickelt. Je 42 Prozent der US-Amerikaner und Briten und 43 Prozent der Kanadier befanden das gleiche über ihr Land, bei den Australiern sind es gar 54 Prozent. 

Bemerkenswert auch die Antworten zur Politik von US-Präsident Joe Biden, der in den nächsten Jahren zwei Billionen Dollar in große nationale Infrastrukturprojekte investieren und darüber die Wirtschaft ankurbeln will. Während sich nur 55 Prozent der Amerikaner für diese Art der Ausgabenpolitik erwärmen können, sind es 69 Prozent der Menschen in den anderen G7-Staaten. Deutschland steht mit 72 Prozent der Idee einer vorübergehenden expansiven Finanzpolitik also deutlich aufgeschlossener als die USA.

Besonders skeptisch sind die Deutschen ausgerechnet beim Thema Klimaschutz. Der Pessimismus der Deutschen zeigt sich vor allem mit Blick auf Klimaschutzpolitik. Nur 35 Prozent der Deutschen glauben, dass eine früh begonnene Politik für den Klimaschutz wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt – dies ist der niedrigste Wert aller G7-Staaten. In den USA sind immerhin 40 Prozent davon überzeugt, in Frankreich 46 Prozent, Großbritannien 43 Prozent und in Italien sogar 55 Prozent. In Deutschland erwarten zudem 29 Prozent der Befragten, dass Maßnahmen zum Klimaschutz langfristig Arbeitsplätze vernichten, in Frankreich sind es 24 Prozent, in Großbritannien 20 Prozent, Italien sogar nur 18 Prozent. 

Vergleichsweise gefestigt ist Deutschland an anderer Stelle: Nur 15 Prozent der Deutschen gaben zu Protokoll, Sympathien für einen autoritären Führungsstil zu hegen – dies ist der niedrigste Wert aller G7-Staaten. Immerhin 25 Prozent der Franzosen, 26 Prozent der US-Amerikaner und sogar 33 Prozent der Italiener können einem autoritären Führungsstil etwas abgewinnen.

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Alle denken, sie seien „Mittelschicht“ – schon weil man sich selbst nicht gern als „Unterschicht“ oder „Kleinbürgertum“ oder wenigstens „untere Mittelschicht“ bezeichnet, und der alte Stolz, „Arbeiter“ zu sein, oder „Proletarier“, längst der Vergangenheit angehört. 

Dies ist aber ein Trugschluß, der vor allem den Reichen und Mächtigen nutzt

Ein hochinteressantes Forschungspapier der Universität Konstanz klärt jetzt über „(Fehl-)Wahrnehmungen von Ungleichheit“ auf, „und warum sie für Sozialpolitik wichtig sind“. Die Forscher zeigen: „Ungleichheit wird in der deutschen Bevölkerung vielfach falsch wahrgenommen.“ Sie wird zwar als Problem betrachtet, aber systematisch unterschätzt. Der Druck hält sich in Grenzen und die politischen Reaktionen blieben bisher überschaubar. Dabei wollen große Teile der Bevölkerung eine egalitärere Gesellschaft – was immer das genau heißt. Daraus ergebe sich, heißt es, das Potenzial für eine politische Agenda, das ungenutzt bleibt. 

Zu den zentralen Erkenntnissen des Papers gehört, dass sich viele der Befragten bezüglich ihres relativen Einkommens näher an der Mitte einschätzen, als sie es tatsächlich sind. Zudem wird die Vermögensungleichheit stark unterschätzt. Ausgerechnet Befragte mit höherem Einkommen und Bildungsniveau glauben nicht an ihre Aufstiegschancen in der Gesellschaft. 

Die Forscher haben auch Handlungsanweisungen parat: „Politische Parteien, die sich dem Thema Ungleichheit annehmen wollen sollten Visionen und politische Agenden zu entwickeln, die Chancengleichheit und Perspektiven für einen sozialen Aufstieg erhöhen. Die öffentliche Debatte über Ungleichheit in der Gesellschaft sollte intensiviert und mit mehr Informationen über das tatsächliche Ausmaß der Ungleichheit in Deutschland versorgt werden. Die Menschen müssen befähigt werden, abstrakte Vorstellungen von Ungleichheit auf ihre konkrete Lebenssituation zu beziehen. Dazu können auch öffentliche Räume beitragen, in denen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Biografien in einen Austausch treten können. Solche Räume können das Bewusstsein für das Problem als solches schärfen und darüber den politischen Druck erhöhen.“

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Nun ist die medial von manchen gepushte, von den meisten aber zu Recht ignorierte sogenannte „Sommer-Berlinale“ zuende gegangen. 

Diese Veranstaltung ist vor allem darum in der Branche umstritten, weil hier ein öffentlich zu großen Teilen durchfinanziertes Filmfestival dem regulären Kinobetrieb grundlos Konkurrenz macht. Etwa zwei Drittel des Berlinale-Budgets – exakte Angaben liegen auch hier oft im Auge des Betrachters – stammen nämlich aus öffentlichen Geldern des Bundes und des Landes Berlin. Bis zu einem Drittel des Budgets aus Kartenverkäufen. 

Bei den allermeisten Filmfestivals ist ein erheblich höherer Anteil des Budgets nicht öffentlich finanziert. Zudem sind etwaige finanzielle Lücken bei einem öffentlichen Prestigeprojekt wie der Berlinale viel besser abgesichert (mit der Scholz-Bazooka), als bei anderen Institutionen. 

Noch wichtiger ist ein zweites ökonomisches Zusatzargument: Kulturstaatsministerin Grütters hat der Berlinale zusätzliche 10 Millionen Ausfalleuro aus ihrem Etat überwiesen. Nur für ein Jahr! Was genau wird damit eigentlich abgedeckt? Bei allen Belastungen durch die Pandemie wäre einmal zu prüfen, welche Kosten die Berlinale in diesem Jahr auf der anderen Seite gespart hat.

Für 10 Millionen könnte man jedenfalls 10 Jahre lang die Kurzfilmtage Oberhausen veranstalten. Und wieviele Kinos und Verleiher und Produzenten könnte man retten? Hier geraten die Proportionen aus den Fugen.

Denn ansonsten greifen finanzielle Rettungspakete und „Scholz-Fonds“ im Kulturbereich bislang kaum. 

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Und noch eine Erinnerung: Der 22 Juni 1941, Dienstag vor 80 Jahren, war ein Sonntag. Am Morgen begann der größte Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, bei dem von Anfang an alle Maßstäbe der Humanität und der üblichen Kriegsrechtsordnungen außer Kraft gesetzt wurden. Mehr als 30 Millionen Menschen wurden allein an dieser „Ostfront“ getötet. Von deutscher Seite wurde dieser Krieg von Beginn an als ein politisch weltanschaulicher und rassenideologisch motivierter und mit quasi religiösen Blendwerk („Kreuzzug“) versehener Vernichtungskrieg geführt. Sein machtpolitisches Ziel blieb bei alldem sehr konkret: Es ging um die Eroberung, Beherrschung und Ausbeutung des europäischen Teils der Sowjetunion für die Deutschen. 

Wenn man sich mit dieser Ereignisgeschichte beschäftigt, tritt vieles andere in seiner moralischen und politischen Bedeutung dahinter zurück. 

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