Gedanken in der Pandemie 111: Der Hase und der Igel

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„No Covid“ heißt die Strategie, zu der nicht nur eine Handvoll Virologen aufrufen, sondern Wissenschaftler*innen der unterschiedlichsten Disziplinen. Etliche Länder seien damit gut durch die Pandemie gekommen. | Screenshot

Merkel gegen Virus, Söder gegen Laschet: Symbolische, kontraproduktive Maßnahmen und autoritäre Tendenzen. Rüdiger Suchslands Gedanken in der Pandemie auf „Out-takes“, Folge 111.

„April is the cruellest month, breeding
Lilacs out of the dead land, mixing
Memory and desire, stirring
Dull roots with spring rain.

Madame Sosostris, famous clairvoyante,
Had a bad cold, nevertheless
Is known to be the wisest woman in Europe,
With a wicked pack of cards. Here, said she,
Is your card, the drowned Phoenician Sailor,
(Those are pearls that were his eyes. Look!)
Here is Belladonna, the Lady of the Rocks,
The lady of situations.

Tell her I bring the horoscope myself:
One must be so careful these days.“
T. S. Eliot, „The Waste Land; I.The Burial of the Dead“

Was wir alle, was jeder aufmerksame Zeitungsleser und Talkshow-Zuschauer schon seit Monaten wusste, das wird jetzt, an diesem für die zukünftige Pandemie-Bekämpfung nicht unbedeutenden Montag, endlich gesagt – zu spät, aber immerhin: Nur eine von tausend Ansteckungen mit Covid-19 findet in nicht geschlossenen Räumen, also draußen statt. Und innerhalb der geschlossenen Räume finden die allermeisten Ansteckungen an der Arbeitsstelle statt. Selbst Einzelhandelsgeschäfte und Supermärkte, und die Innenräume des öffentlichen Personennahverkehrs sind keine Pandemie-Treiber. Noch ein Grund weniger also, um die Außengastronomie zu schließen, um den pandemieeingeschränkten Besuch von Fußballstadien zu verbieten, um Ausgangssperren zu erlassen.

Das Gegenteil ist richtig: Wer Infektionsraten einschränken und Ansteckungsgefahren reduzieren will, muss den Ausgang fördern, muss Bewegung im Freien ermutigen. 

Man muss die Menschen verteilen, anstatt sie zusammenzuballen.

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„Wenn wir die Pandemie in den Griff bekommen wollen, müssen wir die Menschen sensibilisieren, dass drinnen die Gefahr lauert“, heißt es in einem Brief der Gesellschaft für Aerosolforschung, an die Bundesregierung und an die Landesregierungen, den die Deutschen Presse-Agentur heute veröffentlichte. 

Ansteckungen finden drinnen statt, Abstand garantiert keine Sicherheit – und Kaffeekränzchen im Wohnzimmer sind gefährlicher als Restaurantterrassen: „Leider werden bis heute wesentliche Erkenntnisse unserer Forschungsarbeit nicht in praktisches Handeln übersetzt“, kritisieren die Verfasser, die Fixierung der Corona-Bekämpfung auf Außenräume, Parks, Sportstadien und Gastronomie. Debatten über das Flanieren auf Flusspromenaden, den Aufenthalt in Biergärten, das Joggen oder Radfahren seien sogar kontraproduktiv.

Maßnahmen wie die Maskenpflicht beim Joggen an Alster und Elbe in Hamburg etwa seien eher symbolischer Natur und ließen „keinen nennenswerten Einfluss auf das Infektionsgeschehen erwarten“, schreiben die Experten. Sars-CoV-2-Viren würden fast ausnahmslos in Innenräumen übertragen. Im Freien sei das äußerst selten, im Promille-Bereich. Hierauf sollten die begrenzten Ressourcen nicht verschwendet werden, heißt es in dem Brief. Auch würden im Freien nie größere Gruppen – sogenannte Cluster – infiziert, wie das in Innenräumen etwa in Heimen, Schulen, Veranstaltungen, Chorproben oder Busfahrten zu beobachten sei.

Auch die nun geplanten Ausgangssperren versprechen aus Sicht der Wissenschaftler mehr als sie halten können. „Die heimlichen Treffen in Innenräumen werden damit nicht verhindert, sondern lediglich die Motivation erhöht, sich den staatlichen Anordnungen noch mehr zu entziehen“, schreiben die Luftbewegungsforscher. „In der Fußgängerzone eine Maske zu tragen, um anschließend im eigenen Wohnzimmer eine Kaffeetafel ohne Maske zu veranstalten, ist nicht das, was wir als Experten unter Infektionsvermeidung verstehen.“ 

Eine deutliche Kritik an der Corona-Politik der Regierung. 

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Sprachlos lässt mich der der autoritäre Ruck in der deutschen Innenpolitik. Der Drang nach Entscheidung, nach Zentralisierung, Merkels scheinbar erfolgreicher Coup, die Bundesländer zu entmachten. Kommt es wirklich zu einer raschen Verschärfung des Infektionsschutzgesetzes?

Wir sollten nicht vergessen, dass Zeiten, in denen Deutschland oder eines seiner Teile zentralistisch regiert wurden, immer außerordentlich schlechte Zeiten für unser Land waren. 

Und das zentralistischste demokratische Land Europas, Frankreich, ist eines der Länder, die am Schlechtesten durch die Pandemie kommen. 

Auch deswegen sollten wir alle den autoritären Versuchungen mancher Politiker Widerstand entgegensetzen – im Rahmen demokratischer Grenzen, aber heftig und laut. 

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Zentralismus als Heilsbringer? Gerade Corona zeigt, dass man nicht jede regionale Situation über einen Kamm scheren kann. 

Natürlich gibt es ein paar gute Argumente für eine Zentralisierung. Wenn ganz Deutschland das Richtige tut, ist es vermutlich effizienter, als wenn nur die Hälfte der Bundesländer dazu bereit ist. Nur: Wer entscheidet, was „das Richtige“ ist? Und wenn die Bundesregierung eine falsche Strategie verfolgt, dann wird dieser nicht mehr durch die Länder entgegengesteuert. Der Ruf nach „Durchgreifen“ ist nur das Pfeifen im Keller, das Furcht und Unsicherheit überspielen soll. 

Deutschland braucht eine wissenschaftlich fundierte, praktikable und stringent durchgesetzte Strategie gegen die Corona-Pandemie, aber keine Föderalismusdebatte. Statt solche akademischen Debatten zu führen, sollten die Regierenden ihre Zeit darauf verwenden, die Beschaffung und Verwendung von Impfstoffen und Testmitteln zu beschleunigen und geeignete Infektionsschutzmaßnahmen treffen, statt ungeeignete wie bisher. 

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Und warum muss man von Berlin aus ein Land wie das Saarland für seinen Öffnungskurs an die Kandarre nehmen? Immerhin hat das Saarland den Mut, das umzusetzen, worüber viele Bundes- und Landespolitiker seit Monaten sprechen. Das Saarland zeigt wie Tübingen, Rostiock und andere, Ansätze zu einem Ausweg aus der Pandemie. 

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Wir machen es uns viel zu leicht. Das Coronavirus-Regime und das Arbeiten mit Vorsicht und mit Risikovermeidung ist auch eine Form, es sich zu leicht zu machen. Weil wir immer noch nicht anerkannt haben, dass wir mit Corona leben werden. Corona ist da. Es geht nicht wieder weg. Wir müssen es anerkennen; wir müssen realistisch werden.

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Wir müssen lernen, Ambivalenzen auszuhalten. Die Regierungspolitik ist das Gegenteil: Sie will Ambivalenzen vermeiden, sie will Eindeutigkeit. Und sie nährt damit Illusionen.

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Für etwas Abwechslung führt derweil der sogenannte „Machtkampf um die Kanzlerkandidatur“. Auffallend und für mich unverständlich ist, wie viele Medien sich dabei gegen Armin Laschet positionieren, ihn systematisch herrunter schreiben, und Söder stark machen. Warum? Es gibt zwei Gründe. Zum einen den typisch deutschen Hand zum Autoritären den der Maulheld aus Nürnberg viel mehr befriedigt, als der moderate Laschet. Manche nennen ihn Södolf, was auch für Söder zuviel der Ehre ist, aber die Tendenz zeigt. Denn hinter jeder Angst steckt auch die Identifikation mit dem Aggressor. Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache, dass Söder für die Grünen der viel leichtere, weil besser angreifbare Gegner wäre. Und man muss nicht drumherum reden – sehr viele Journalisten in den Redaktionen, insbesondere den Hauptstadtbüros neigen den Grünen zu, auch in konservativen Medien wie der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ oder der „Welt“.

Ein paar Belege fürs „runterschreiben“: „Im Moment läuft alles auf Söder hinaus“, behauptet die  „Heilbronner Stimme“, „der sich geschickt in Stellung bringt, aber wartet, bis die CDU ihn ruft. Tut sie das, steht Laschet als Parteichef ohne Autorität und Gefolgschaft da. Hält die Partei zu ihrem Chef, riskiert sie die Macht im Bund und viele Abgeordnete ihre Mandate. Eine gesichtswahrende Lösung scheint nur möglich, wenn sich einer der beiden Parteichefs freiwillig zurückzieht.“

„Das war’s für Armin Laschet“, irrt die Magdeburger „Volksstimme“: „Für einen CDU-Vorsitzenden war es beschämend, wie die eigene Partei auf seine überraschende Forderung nach dem ‚Brücken-Lockdown‘ reagiert hat. Der Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Brinkhaus, fordert mitten in der Schwächephase seines Vorsitzenden eine schnelle Entscheidung, während sich immer mehr Fraktionskollegen zu Markus Söder bekennen. Die schlecht vorbereitete Attacke hat Laschet vermutlich endgültig die Kandidatur gekostet. Söder wird am Sonntag sehr selbstbewusst mit dem geschwächten Kollegen vor die Unions-Fraktion treten.“

Trotzdem wird Armin Laschet, nicht der Winterkönig Söder, der nächste Kanzlerkandidat der Union und damit wahrscheinlich der nächste Bundeskanzler. Warum das entgegen allen Unkenrufen so ist, das habe ich heute auf „Telepolis“ erklärt. 

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Immer wieder wird in privaten Gesprächen oder kleineren Debatten in sozialen Netzwerken die Idee des „No Covid“ wieder aufgewärmt. Zur Erinnerung: „No Covid“ (bitte nicht zu verwechseln mit dem ansatzweise stalinistischen „Zero Covid“) hieß die Initiative einer Handvoll Virologen, die sie Anfang Februar veröffentlicht hatten. Initiatoren des Papiers sind seriöse Wissenschaftler, keine Traumtänzer. Als leuchtende Beispiele gelten den Unterzeichnern Länder wie Taiwan, Neuseeland und Australien, aber auch, um nicht nur Insel-Beispiele zu nennen: Finnland, das am dünnsten besiedelte Land Europas und die Halbinsel Korea. 

Die Idee ist sympathisch: Es geht nicht um „Gesundheit“, sondern um das Wiederherstellen bürgerlicher Freiheiten. Die Bürger sollen so weit wie möglich miteinbezogen werden, es sollen klare Zielmarken gesetzt werden. Diese Zielmarken allerdings sind nicht nur klar, sondern auch extrem hart: Ein Inzidenzwert von 35, besser noch unter 10.

In der Theorie klingt das toll, taugt aber nicht für die Praxis. Es handelt sich vielmehr um eine reine Virologen-Allmachtsfantasie. Sie wird nie funktionieren, weil wir niemal so weit nach unten kommen. Die Verhältnisse sind nicht so. Die Idee ist einfach lebensfeindlich. Erst recht nachdem der Lockdown in Deutschland bereits ohne jede Unterbrechung fast sechs Monate andauert. 

Die Frage ist auch die, warum wir die Inzidenzraten eigentlich herunterbringen sollten?  Die Antwort die die  unterzeichnenden Virologen dann gerne geben, ist die, das ist darum gehe, „die Infektionen wieder im Einzelnen nachverfolgbar zu machen“. Schon diese Formulierung kommt mir einfach nur ideologisch vor. „Wieder nachvollziehbar machen“ suggeriert, dass sie je nachvollziehbar gewesen sind.  Sind sie aber nicht. Die Gesundheitsämter konnten schon letzten Sommer nichts nachverfolgen, als die Inzidenzen bei 20 oder darunter lagen. Wer kommt wann in Quarantäne? Die Ämter sind völlig unterbesetzt und es wurde bis heute keine Strategie und keine Technik gefunden, die das Ganze umsetzbar macht. 

Aber selbst wenn wir einmal kontrafaktisch annähmen, wir könnten alles nachverfolgen: Was macht man denn dann? Man verordnet den Infizerten Quarantäne, an die sich viele halten, aber nicht alle. Und die  etwa 80 Prozent, die sich daran halten (und das ist schon hoch gegriffen), von denen macht vielleicht ein Drittel oder ein Viertel irgendetwas falsch. Dagegen könnte man nur mit einer Corona-Polizei etwas tun. Und die will keiner. Glücklicherweise. Noch. 

Im Prinzip geht es also so weiter wie bisher. Die Vorstellung, alles nachzuverfolgen, und alle gleichzeitig zu behandeln, ist reine hybris. 

Aber selbst wenn wir irgendwann richtig zero sind, total coronafrei. Was machen wir, wenn dann eine Mutante aus irgendeinem anderen Teil der Welt kommt? Wieder einen neuen Lockdown bis das No-covid-Paradies erreicht ist? Und wieder? Und wieder? 

Es muss doch stattdessen endlich von uns verstanden werden, dass wir nicht in einer Welt leben, in der man Deutschland abschotten kann. Und dass das gut so ist, trotz des Virus.

Mit dem Virus leben zu lernen heißt auch, zu akzeptieren, dass man nicht alles in den Griff bekommt – und dass das Leben trotzdem ganz normal weitergehen muss. Das wissen natürlich auch die Entscheider längst; sie wollen nur die Verantwortung für die auch bitteren Folgen ihrer Entscheidung nicht übernehmen.

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Aber auch wenn man No-Covid als eine Strategie ansieht, mit der die Last auf mehreren Schulter hätte verteilt werden können – jetzt ist es zu spät. Man bekommt es nicht mehr hin. Jetzt stecken wir in der Sackgasse. 

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Wir haben zunehmend ein Freiheits-Problem. 

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Natürlich müssen wir uns unbedingt Rezo ansehen, und seine großartige Zerstörung der Corona-Politik. Aber schreiben kann ich heute aber beim besten Willen nicht mehr. In einem der nächsten Panidemie-Blogs. Es wird keine Woche dauern, versprochen!

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