Gedanken in der Pandemie 102: Die Normalität des Panikmodus

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Systemsprenger im Wilden Westen: Helena Zengel spielt in „Neues aus der Welt“ an der Seite von Tom Hanks – und ist prompt für einen „Golden Globe“ nominiert. | Foto © Bruce W. Talamon/Universal

Fehlende Opposition und die Pandemie der Politik: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 102.

 

„Eine Pandemie bekämpft man mit Ehrlichkeit.“
Albert Camus

„Für immer nur drin in der Bude/
Forever alone/ forever at home/
Die Flasche Wein steht unterm Tisch/
Vorm Ofen hockt das Huhn/
Gardine zu und Musik an/
Um neun Uhr Augen zu.“
Helge Schneider

„Stichhaltig? – Wir bewegen uns ja in einem Bereich, wo Stichhaltigkeit gleich wissenschaftliche Erkenntnis nicht auf dem Tisch liegt, sondern wir erleben immer wieder neue Spekulationen, die auch mit Angst zu tun haben, mit Chancen zu tun haben, mit Sicherheit zu tun haben. Das ist so eine bunte Mischung, wo es anscheinend dazu gehört, den Politiker gegenüber am Tisch zu überraschen, um eigene Ziele zu erreichen. Dass wir in der Politik wie in der Bevölkerung Personengruppen haben, die sich mehr auf die Sicherheit konzentrieren, und andere Personengruppen haben, die sich auch auf die Öffnung konzentrieren, das steht ja fest.“
Christof Rasche, FDP-Politiker

 

Gehorsam ist die Tugend der Diener. Ungehorsam ist die Tugend des freien Menschen. „Niemanden zum Gehorsam verpflichtet.“ – das machte den Unterschied aus? 

Und heute? Freiwillige Unterwerfung und Selbstversklavung allerorten. Angefangen mit den Algorithmen der Konzerne.

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Jetzt „noch ein bisschen nachschärfen“. Lieber „noch etwas länger“. „Nur ein bisschen durchhalten noch.“ Und plötzlich ist nicht mehr „50“ ist das Ziel, sondern ein Inzidenzwert von 25. Und wenn wir die erreicht haben, dann von 10. Aber 5 wäre eigentlich besser. 

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Diese Inzidenzwert ist angeblich deswegen wichtig, „weil dann die Gesundheitsämter wieder alles nachverfolgen können“ – bislang hat aber noch niemand schlüssig erklärt, was eigentlich passiert, wenn die Gesundheitsämter das können? Denn das haben sie im Sommer ja auch gekonnt und im Frühherbst. Es hat aber zu nichts geführt. 

Man fordert dann Leute auf, in Quarantäne zu gehen. Und manche tun das dann auch. Man informiert Menschen, dass sie Kontakte hatten. Und manche haben dann Angst. Andere aber sagen: „Ich spüre nichts“ und machen weiter wie vorher. Man kann dann bestenfalls bestimmte Hotspots abriegeln. Aber auch nur wenn es sich eine bestimmte Region handelt und die Menschen nicht mobil sind.

Grundsätzlich gilt: Das Virus lässt sich nicht mit Nachverfolgung bekämpfen. Grundsätzlich gilt auch: Die Regierenden reagieren immer nur, sie tun aber nichts von selber, wie sich an den Schulen ebenso gezeigt hat, wie im Fall der Impfstoffe, wie im Fall der Krankenhausbetten, wie im Fall der allgemeinen Vorbereitung auf die doch angeblich immer sichere zweite Welle.

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Die anhaltenden Einschränkungen zermürben viele von uns. Trotzdem zeigt sich die Regierung unwillens, oder unfähig, uns Wege aus der Pandemie und Wege zurück in eine zumindest teilweise Normalität aufzuzeigen. Sie zeigt uns keine Perspektive, es gibt kein Licht am Ende dieses schon überlange stockdunklen Tunnels. Dies brauchen aber Menschen, um den Weg zu gehen der noch vor ihnen liegt. Man kann nicht im Dunkeln alle zehn Schritte hören: „noch ein kleines bisschen weiter, noch etwas länger“. Suf Dauer macht vor allem dies, die Politik, nicht de Pandemie, die Menschen krank und mürbe und sie verlieren jede Überzeugung, dass die Regierung weiß, was sie tut. 

Wo ist der klare Öffnungsplan der Regierung? Haben wir den für den kommenden Mittwoch zu erwarten? Doch wohl eher nicht! Wer glaubt daran, dass die Kanzlerin, oder die Ministerpräsidenten uns zum kommenden Mittwoch irgendeine Form der hier beschriebenen Perspektive geben werden?

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Es gibt inzwischen keinen Glauben mehr an richtige Politik, immer weniger Vertrauen und kaum noch Kredit für die Entscheider.

Dieser grundsätzliche Zynismus ist gefährlich, das – von den Politkern erzeugte – Wissen aller Bürger: Auf mich kommt es nicht an. Die machen eh was sie wollen. 

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Warum gibt es immer diese in der Verfassung nicht existierenden Konferenzen mit der Kanzlerin, wenn man die Ergebnisse schon am Tag davor i den Zeitungen liest? Antwort: Beschäftigung von Medien und Bürgern, Ablenkung von Wesentlicherem, Handlungssimulation. 

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„Bekämpfen wir den Mensch oder das Virus?“ fragt der Rostocker Bürgermeister Claus Ruhe Madsen bei „Markus Lanz“ und sagt: „Wir sind super unehrlich.“

Ein großer Auftritt, bitte nachhören!

In Rostock gibt es wie man in wenigen Minuten erfährt eine eigene Rostocker Corona-App, die mehr Informationen speichert und weiter gibt als die bundesweite App – selbstverständlich freiwillig. In Rostock gab es schon im März Tests – die selbstverständlich von den Behörden versucht wurden, zu verhindern, weil Deutschland so ist und weil sie den damaligen, heute längst überholten und in Richtung Rostock korrigierten Richtlinien des Robert-Koch-Instituts nicht entsprachen.

„Wenn Gefahr ist, dann guckst du nicht nach rechts und links sondern du machst einfach.“ sagt er. Der Rostocker Bürgermeister sagt und macht eigentlich nur Sachen, die jedem klar sind, der ein bisschen nachdenkt. 

Warum gibt es bei uns kaum jemand ein bisschen nachdenkt? Warum müssen einzelne Bürgermeister ob von Tübingen von Magdeburg oder von Rostock kommen, damit Können und Maß waltet, statt Unvernunft und Unmaß?

Da geht es einfach nur um Verstand: Da denkt einer selber, und lässt sich nicht von den ganzen Vollidioten sagen, was er zu tun und zu lassen hat – und von Frau Merkel, wann er sich die Hände waschen soll.

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Wir müssen alle Rostock werden – auf dem Weg nach Schweden. 

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In Österreich gibt es Lockerungen des Lockdown, in Italien auch. Nicht in Deutschland. Geht doch! Dort nach sechs Wochen; bei uns geht es auch nach 14 Wochen nicht. Und auch ach 16 wird es nicht anders sein. 

Gibt es nur bei uns die Virus-Mutationen?

In Latium sind Cafés und Restaurants auf. In Österreich gibt es kostenlose Tests. Dort sind die Schulen auf, Geschäfte auf, alles mit Auflagen zwar, aber auch Friseure und ähnliches auf. 

Felix Austria!

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Wie viel Öffentlichkeit braucht eigentlich die Opposition? Und oppositionelle Positionen? Das fragt Valerie Höhne in ihren letzten Artikeln im Spiegel. Und folgert: Die Grünen finden als Oppositionspartei nicht statt. 

Diese grinsende Bräsigkeit, mit der ein Robert Habeck in den Talk-Shows sitzt und sich um die Probleme und Fragen herum schmunzelt, vor allem darauf bedacht, sich nicht auf aus der Reserve locken zu lassen – sie wird er hoffentlich nicht mehr lange durchhalten können. 

Bei „Markus Lanz“ verteidigt er am 2. Februar allen Ernstes die Tatsache, dass die Opposition gar nichts tut in Sachen Corona, und in der größten Krise seit Jahrzehnten mit ihren Einwäden nicht an die Öffentlichkeit geht. Ebenso ernstgemeint lehnt Habeck dort die substantielle Kernaufgabe der Opposition ab, eben Opposition zu betreiben und die Regierung zu kritisieren. Damit kommt er wahrscheinlich sogar dem Neobiedermeier-Lebensgefühl vieler seiner Wähler entgegen. Traurig ist es trotzdem. Traurig für Deutschland. Und die Frage wird quälender: Hat Robert Habeck das Zeug zum Kanzler?

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Sollte Habeck es tatsächlich ins Kanzleramt schaffen, bleibt jedenfalls alles in der Familie. Nach Mutti wird man dann vom älteren Bruder regiert. Und wollen wir wirklich von unseren älteren Bruder regiert werden? Von einem Menschen, der nicht unangenehm ist, ähnlich wie Mutti, der alles gut meint, aber auch alles ein bisschen besser weiß, und der immer so wahnsinnig vernünftig ist, selbst wo er total unvernünftig ist. 

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Die „Grünen“ versagen als Oppositionspartei gerade komplett – und damit auch als zukünftige Regierungspartei. Politische Opposition ist nämlich kein Hauptseminar mit differenzierten Argumentationsstrukturen und Abwägungsformen, sondern tatsächlich eine kritische Antithese zum Regierungshandeln, die einen Gegensatz aufbauen muss, die Unterschiede eindeutig sichtbar macht. Deshalb entwickelt sich in anderen Fällen dann mitunter eine Art Oppositionshabitus, eben weil Opposition sich weniger um die Umsetzbarkeit von Forderungen oder die Komplexität des Problems kümmern muss. Das kann dann selbstgerechte Züge annehmen. Aber es wäre umgekehrt eben auch selbstgerecht, der Opposition dies vorzuwerfen – weil die Funktion von Opposition genau darin besteht, Themen zu platzieren, Parlamente und Öffentlichkeiten zu zwingen, sich dazu zu verhalten. Die Funktion ist explizit nicht, zufriedenzustellen, sondern Themen zu platzieren.

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Wie man Oppositionspolitik betreibt, zeigt im Augenblick innerhalb des demokratischen Spektrums allein die FDP. 

Der Fraktionsvorsitzende der FDP im Landtag von Nordrhein-Westfalen, Christof Rasche bietet dafür an diesem Montag im Deutschlandfunk ein Beispiel. Im Interview kritisiert er deutlich, aber nicht unflätig, und zugleich bietet er Politik-Alternativen und eine klare Perspektive an. 

„Natürlich haben wir großen Respekt vor der Mutation. Da sind viele Fragen offen. Wissenschaftliche Untersuchungen fehlen, zumindest liegen die Ergebnisse nicht vor, oder sie werden nicht bekannt gegeben. Womöglich wissen wir erst in einigen Wochen oder Monaten richtig Entscheidendes über die Mutationen und so lange – meine Überzeugung – können wir nicht mit der Öffnung warten. […] Es gibt viele Untersuchungen, aber die sind noch oberflächlich. Und vor allem gibt es viele verschiedene Meinungen. Wir haben die Mutation jetzt auch in Kindergärten in Köln erlebt. Dort war sie überraschenderweise schon über 14 Tage vorhanden und hat sich definitiv nicht so ausgebreitet, wie es Herr Drosten im Vorfeld vermutet hat. 

Insofern gibt es unterschiedliche Informationen. Da müssen wir vernünftig und verantwortungsvoll mit umgehen, aber nicht nur verbieten. Das ist nicht die Lösung. […] Wir sprechen als Politiker mit vielen, vielen Beratern, und das ist gut so. Ich habe den Eindruck, dass einige Virologen sehr einseitig denken und andere Aspekte, soziale und auch wirtschaftliche außen vor lassen. Ich möchte einen verantwortungsvollen Gesundheitsschutz. Das Gesundheitssystem darf nie überlastet werden. Das haben wir in Deutschland gut hinbekommen. Aber jetzt erwarten die Menschen Lockerungen und wenn wir diesen Wünschen der Menschen nicht folgen, sondern sie einfach fast ohne Begründung oder nachvollziehbare Begründung ablehnen, dann wird uns die Akzeptanz abhandenkommen, und da sehe ich eine riesengroße Gefahr. Deswegen müssen wir etwas tun.“

Laut FDP-Stufenplan ist mehr Präsenzunterricht jetzt sofort in Schulen und eingeschränkter Regelbetrieb in Kitas erlaubt, Außenbetrieb von Gastronomie, Hallensport und Außensport. Deutliche Lockerungen.

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Und er benennt Dinge, die unter den Bürgern sehr oft Erwähnung finden, im medialen Diskurs des Politischen aber vollkommen außen vor bleiben: 

„Armin Laschet muss natürlich mit den anderen Ministerpräsidenten, mit der Kanzlerin verhandeln, was am Ende machbar ist. Dort kommen immer neue Informationen auf den Tisch, die uns bisher noch nicht bekannt sind. So war es bisher immer. […] Kurz vor Schluss, kurz vor der entscheidenden Debatte kamen plötzlich (wahrscheinlich nicht zufällig) neue Argumente auf den Tisch und die müssen wir dann bewerten.

Frage: Sehen Sie darin Methode?

Rasche: Ja.

Frege: Das heißt? Können Sie das ausführen? Das heißt, das wird extra so gesteuert, glauben Sie, oder wie?

Rasche: Na ja. Es ist zu oft passiert, dass hier kurzfristig mit Argumenten gespielt wurde, die die Grundlage verändert haben, die kurzfristig auf den Tisch kamen. Oft kamen sie auch schon ein, zwei, drei Tage vorher, aber in der Regel immer über die Medien und nicht über Informationen an die Parlamente.

Oh weh, ist Herr Rasche jetzt etwa ein Verschwörungstheoretiker?

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Politiker und Medien verwenden gern die Floskel vom „Fakten schaffen“. Sie ist verräterisch, oder irreführend. Wenn man Fakten schafft, dann gibt es sie vorher nicht. Man kreiert etwas – eigentlich ist genau diese Formel so etwas wie der Geburtsort der fake-news. Medien sollen nicht Fakten schaffen, sie sollen Fakten berichten. Wir sollen Fakten daraufhin überprüfen, ob es sich vielleicht nur um vermeintliche Fakten handelt.

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Über Brasilien wird berichtet, als sei Corona dort eine einzige Katastrophe. Ich möchte einen Typ wie Bolsoaro nicht verteidigen, aber kann man diese Aussage so stehen lassen? 

Es gibt dort – Stand Wochenende – 8.326.798 Corona-Genesene, 926.607 aktive Fälle, und 230.034 Todesfälle. Ihr Prozentanteil an der Gesamtzahl der 9.483.439 Fälle liegt also bei 2,43 Prozent. 

Die Zahl der Toten auf die Bevölkerung gerechnet ist also zwar ein Drittel höher als in Deutschland, aber deutlich niedriger (um über 50 Prozent) als in Großbritannien oder Italien. Sie ist auch niedriger als in Spanien oder Frankreich. Im Fall von Brasilien muss man in Rechnung stellen, was für soziale, und ökonomische und hygienische Verhältnisse dort in den Krankenhäusern und überhaupt im Alltag herrschen. Daran gemessen kommt Brasilien gut weg. Denn auch die Zahlen in Mexiko, Argentinien oder Kolumbien liegen höher als jene in Brasilien. Meine Quelle ist das Worldometer.

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Melanie Brinkmann (Prof. Brinkmann, haha) war lange Zeit meine Lieblings-Virologin und das natürlich nicht nur, weil sie gut aussieht und gut angezogen ist (Alleinstellungsmerkmal!), sondern weil sie im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen die Fähigkeit hat, klar, prägnant und für alle verständlich zu argumentieren und auf den Punkt zu kommen, ohne ellenlange Ausführungen. In den letzten paar Wochen vergreift sie sich allerdings zunehmend im Ton. Was ist passiert? Schon kürzlich kritisierte sie „die Politiker“ und schürte Panik: „Mit diesem Kurs haben wir keine Chance“.

Geht’s noch? Kann man das nicht etwas weniger im Panikkmodus, etwas konstruktiver formulieren? So als ob nicht alle anderen Vollidioten sind? 

Heute dann im DLF: „50 ist eine von der Politik festgelegte Zahl, für die es wissenschaftlich keine Evidenz gibt, dass es bei dieser Zahl gut funktionieren kann.“ 

Frage von Dirk Müller (DLF): „Jetzt müssen Sie uns noch mal helfen, Frau Brinkmann. Wenn wir jetzt bei dem Regime bleiben, was wir jetzt im Moment haben und vorfinden, und blicken auf den Mittwoch und wir gehen jetzt einmal potenziell davon aus, dass sich die Ministerpräsidenten samt Kanzlerin dagegen entscheiden, irgendetwas zu verändern, gehen Sie davon aus, dass es weiter nach unten geht, oder doch nach oben?“

Brinkmann: „Ja. Ich fürchte genau das, was Sie sagen, dass es dann wieder weiter nach oben geht. Ich glaube, wir sind jetzt eh schon in einem Lockdown. Wenn wir jetzt aber zu frühzeitig wieder lockern – es ist ein bisschen so wie den Stein, den man den Berg jetzt mühsam hochgeschoben hat über die letzten Wochen und Monate. Wenn man jetzt wieder lockert, wird es so passieren, dass dieser Stein einem wieder entgleitet und dass man wieder von vorne anfangen muss. Das ist zermürbend und ich bin total bei den Menschen. Mir geht es selber so. Man ist zermürbt, man hat irgendwie keine Perspektive im Moment. So darf es nicht weitergehen, weil wir, glaube ich, die Bevölkerung wirklich verlieren. Es ist auch ganz interessant, dass Studien das mittlerweile auch klar sagen. Die Menschen, die eigentlich mit der Politik mitgehen und sagen, ja, wir wollen tatsächlich, dass wir die Zahlen unter Kontrolle bekommen, die verlieren langsam ein bisschen das Vertrauen in die Politik, und die dürfen wir jetzt nicht verlieren.“

Und weiter?

„Ich glaube, gerade dieser Abfall der Kurve wird bei manchen Menschen bewirken, dass ja jetzt alles gut ist und dass man sich jetzt entspannen kann. Das ist im Hinblick auf die Varianten jetzt die große Gefahr. Wenn diese Variante sich jetzt hier durchsetzt – und das wird sie tun, denn sie ist in ihrem Verhalten infektiöser und wird mehr Menschen zur gleichen Zeit anstecken wie die alte Variante –, dann werden wir tatsächlich sehen, wenn wir jetzt weiter so machen, wenn die Menschen langsam nachlassen mit ihrem Verhalten, mit ihrem strengen Verhalten, dass wir wieder mehr Infektionen bekommen, und ich habe tatsächlich die Sorge, dass wir in eine dritte Welle hineinlaufen werden und dann wieder mit noch viel schärferen Maßnahmen nachsteuern müssen.“

Nimmt man so die Menschen mit? Und um die geht’s doch, oder?

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Systemsprenger im Wilden Westen – den furiosen Auftritt der Deutschen Helena Zengel an der Seite von Tom Hanks in „News of the World“ dem Film des Briten Paul Greengrass, der jetzt auf Netflix läuft, sollte man sich nicht entgehen lassen. Darin begegnet ein Bürgerkriegs-Veteran, im Texas um 1870 einem „Wolfskind“, einem weißen Mädchen, das von Indianern geraubt wurde, und nun durch gefährliches Terrain zu ihre Verwandten gebracht werden muss. 

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Heute verbreiten sich Nachrichten sofort. In der Welt von „News of the World“, die viele viele Meilen von dem entfernt ist, was den Ausdruck Zivilisation verdient, kommen Neuigkeiten nur alle paar Wochen bei den Menschen an. Captain Jefferson Kidd (Tom Hanks), ein Bürgerkriegs-Veteran, ist ein „Nachrichten-Erzähler“. Er verdient seinen Lebensunterhalt damit, von Stadt zu Stadt zu reisen, und die Nachrichten und Meldungen aus einem Dutzend Zeitungen zusammenzufassen, vorzulesen, auszuschmücken und mit komischen oder dramatischen Geschichten über die Welt außerhalb dieser kleinen Gemeinden zu erzählen – ein „Anchor-Man“ des Wilden Westens. 

Regisseur Paul Greengrass gelingt es von Anfang an, bei den Zuschauern einen Sinn für die latente Bedrohung zu schaffen, die alles hier durchzieht. Nichts ist gesichert, der Alltag lebensgefährlich. Das Gefühl idyllischer Verhältnisse kommt hier nie auf – zumal auch der Captain seine eigenen Dämonen in sich trägt. 

Auf seiner Reise trifft der Captain eines Tages in den Wäldern auf ein verlorenes Mädchen (Helena Zengel). Es ist weiß, wuchs aber die letzten Jahre bei Kiowa-Indianern auf. Sie hat nicht nur ihren früheren Namen Johanna vergessen, sondern auch ihre alte Sprache. Nachdem die Kiowa vor Jahren ihre Familie brutal massakriert hatten, nahmen sie sie auf – doch nun soll sie zu einer Tante und einem Onkel zurückgebracht werden, die Hunderte von Meilen entfernt leben. Und Captain Kidd erklärt sich mehr notgedrungen bereit, mit Johanna durch die Wildnis zu reisen, um sie zu ihrem neuen Zuhause zu bringen.

Zunehmend wachsen die beiden zusammen, auch durch die Gefahren, die sie gemeinsam meistern. Und das anfangs scheue, ängstliche Mädchen fasst Vertrauen zu dem Captain, der sich zu einem Ersatzvater entwickelt. 

Das Amerika, das den beiden und damit uns begegnet, ähnelt der Gegenwart verblüffend: Staatsfeindschaft, Anarchie, Bigotterie, Rassismus, kleine autonome, von der übrigen Wirklichkeit weitgehend losgelöste Gemeinschaften und alltäglicher Irrsinn pflastern den Weg des ungleichen Paars, genauso wie Bürokratie und Selbstgerechtigkeit. 

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Paul Greengrass ist der Regisseur der drei „Bourne“-Thriller. Ein paar Szenen sind daher erwartbar hochspannend inszeniert, eine Schießerei souverän und auf eine Weise, dass man nie den Überblick verliert – überhaupt ist dies keine Streaming-Produktion, sondern ein Film, der immer immer erkennbar fürs Kino gemacht ist: Mit Aufwand, Sorgfalt und Leidenschaft; kein Massenprodukt. Greengrass versteht sich auf die Breite der Geschichte, während Hauptdarsteller Tom Hanks sich in diesem schönen Auftritt als Meister darin zeigt, kleine Augenblicke und Momentaufnahmen zu großem Leben zu erwecken. Zugleich ist dies, wenn wir ehrlich sind, eine Rolle, die Hanks auch im Schlaf noch spielen könnte. Man schaut einem Tom Hanks eben gerne beim Schlafwandeln zu.

Die Deutsche Helena Zengel ist auch in ihrer ersten internationalen Rolle wieder ein Fall für sich. Sie knüpft hier direkt an ihr furioses Debüt als „Systemsprenger“ an – eine ungefügte Naturkraft auf der Leinwand. Dabei hilft ihr, dass sie kaum sprechen muss und hier ja auch ein „bei Wilden“ aufgewachsenes, sozial verwahrlostes „Wolfskind“, zugleich eine kindlich unschuldige und verletzliche Figur spielt. Auf Dauer wird sie noch anderes zeigen und leisten müssen – aber dieser Auftritt, der einem großen Star wie Tom Hanks ebenbürtig ist, ist toll, und aller Ehren wert: großartig zeigt sie meist schweigend schmerzhafte, verletzliche und traumatisierte Seiten. 

Mag der Western als Genre auch nicht jedermans Sache sein, mögen bei manchen hier keine filmnostalgischen Gefühle aufkommen, so ist „News of the World“ aber von Anfang an mehr, als nur ein Trip durch bekannte Filmmotive: Eine archaische Heldenreise, ein Roadmovie durch Situationen und Verhältnisse, die oft überraschend vertraut sind. 

Greengrass und Hanks erzählen eine einfache, aber einnehmende Geschichte, die so intim ist, wie universal. Ein Lichtblick in der Wüste des Irrealen, zwischen Streaming-Epidemie und Lockdown-Vorruhestand. 

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„The chiefs have been grounded here in Tampa.“ sagt der US-Kommentator beim Super Bowl. Tom Bradys siebter Sieg ist tatsächlich eine Heldengeschichte, war schön anzusehen, eine willkommene Abwechslung. 

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