Diskriminierung ist Filmalltag – Ergebnisse der Umfrage „Vielfalt im Film“

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Mehr als 6.000 Filmschaffende nahmen an der Online-Umfrage des Bündnis’ „Vielfalt im Film“ teil. Damit liegen erstmals umfassende Daten zu ihren Erfahrungen mit Vielfalt und Diskriminierung vor. | Grafik © Marcus Mazzoni

Diversität ist das große Thema – auch in der Film- und Fernsehbranche. Doch wie steht’s tatsächlich darum, auf dem Bildschirm und in der Produktion? Die Initiative„Vielfalt im Film“ befragte Filmschaffende vor und hinter der Kamera. Die Antworten erschrecken: Mehr als die Hälfte sah sich von Diskriminierung betroffen, 8 von 10 Frauen wurden sexuell belästigt.

Wer mitliest und zuhört, wird es schon wissen: Es liegt einiges schief in der Film-Fernsehbranche. Im Zuge der Me-Too-Bewegung kamen in den vergangenen drei Jahren immer neue Berichte von sexueller Belästigung bis hin zur Vergewaltigung in die Öffentlichkeit. Dass die Chancen zwischen den Geschlechtern ungerecht verteilt sind, melden Verbände und Initiativen schon seit Jahren, belegt durch regelmäßige Studien. Im Februar hatten 185 Schauspieler*innen ihr öffentliches Coming-out – und schilderten die Erfahrungen, die sie wegen ihrer sexuelle Identität, Orientierung, Geschlechtsidentität oder Gender machen mussten: dass sie nicht offen mit ihrem Privatleben umgehen konnten, ohne berufliche Nachteile befürchten zu müssen. Und immer häufiger wird die Frage diskutiert, ob vor allem das Massenmedium Fernsehen überhaupt noch die Welt abbildet, an die es sendet: Welche Rolle spielen Menschen mit Beeinträchtigung? Warum sind Türken meistens Gemüsehändler, aber selten Pharmaforscher? Wieso sind kaum lesbische Paare zu sehen, obwohl die doch auch einen Anteil der Bevölkerung stellen? 

So divers die Probleme scheinen, sie laufen aufs gleiche hinaus: Wer nicht der Norm entspricht, hat’s ungleich schwerer. Und diese Norm ist noch die alte: überwiegend männlich, weiß. Auch das ließ sich schon lange ahnen, erschreckend war dennoch, was Filmschaffende bei einer Umfrage vor vier Jahren berichteten. 

Jetzt gibt es die Zahlen zu den Einzelschicksalen. Und die besagen: „Diskriminierung im Arbeitskontext ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem der Filmbranche.“ Von Juli bis November hatte die gemeinnützige Organisation „Citizens For Europe“ Filmschaffende in 25 Filmdepartments und mehr als 440 Berufen vor und hinter der Kamera für die initiative „Vielfalt im Film“ zu ihren Erfahrungen befragt. 15 Verbände, Institutionen und Unternehmen sind die Initiatoren der Umfrage, die von vielen weiteren getragen und unterstützt wurde.

Die Ergebnisse stellten sie gestern vor. „Die Zeit“ berichtet: „Dass sie es hier ernst meinen mit der Vielfalt im Film und mit Barrierefreiheit, war bei der virtuellen Pressekonferenz zu spüren: die internationale Namenvielfalt wurde selbstverständlich flüssig und korrekt ausgesprochen und es gab eine simultane Gebärdenübersetzung. Sehr umsichtig erfolgte auch die Auswertung der Daten. Unter anderem wiesen die Veranstalterinnen und Veranstalter darauf hin, dass die Erhebungen nicht repräsentativ für alle Filmschaffenden in Deutschland seien, da die Umfrage auf Mitglieder von Crew United beschränkt war. Das größte Netzwerk freier deutscher Filmschaffender umfasst 30.000 Mitglieder, an die die Fragen per E-Mail geschickt wurden. Rund 6.000 von ihnen antworteten, 5.455 der Fragebogen gingen schließlich in die Auswertung ein. Mit 18,3 Prozent ist das zwar eine relativ geringe Rücklaufquote, und es ist wohl auch davon auszugehen, dass sich ein proportional größerer Prozentsatz Betroffener zu Wort gemeldet hat. Die Ergebnisse liefern gleichwohl ein Bild, das auf ein ernstzunehmendes systemisches Problem hinweist.“ 

Das Bild ist wahrscheinlich doch schärfer, als hier dargestellt wird: „Im Hinblick auf das Lebensalter, den Wohnsitz, die Zugehörigkeit zu Filmdepartments sowie im Hinblick auf die Geschlechtsidentität von Filmschaffenden, die an der Umfrage teilgenommen haben, ist Vielfalt im Film weitestgehend repräsentativ für die Grundgesamtheit von Crew United“, wurde in der Pressekonferenz erklärt.  

Bis jetzt wurden die meisten Geschichten stark eurozentrisch geprägten Perspektive erzählt, in Wir/Ihr aufgeteilt war, erklärt der Schauspieler und Produzent, Tyron Ricketts, der mit seiner Firma Panthertainment Mitglied der Initiativgruppe ist: „Oft ist in dieser Perspektive der weiße Mann das Subjekt, und alle anderen sind das Objekt.“ Doch nicht nur die Demografie in Deutschland habe sich gewandelt – Streamingdienste und Internet haben die Kommunikation grundlegend verändert. Darum, so Ricketts, „brauchen wir für diese Welt, die sich im Wandel befindet, auch neue Erzählungen. Erzählungen, die auf eine inklusive und  demokratische Weise dafür sorgen, dass sich alle Menschen, die unser Land ausmachen in den Geschichten repräsentiert fühlen, die wir erzählen. Dies kann nur gelingen,  wenn an allen relevanten Positionen der Wertschöpfungskette Menschen sitzen, die selbst Diversitätserfahrung haben.“ Die Umfrage soll helfen, die strukturellen Schwachstellen zu entdecken, „um diese dann mit guten Strategien ausgleichen zu können.“ 

Vier „Leitfragen“ bestimmten die Umfrage: Wie divers ist die Branche vor und hinter der Kamera? Wie ist die Arbeitssituation von Filmschaffenden? Welche Ausschlüsse und Diskriminierungserfahrungen werden erlebt? Und: Welche Maßnahmen können die Filmbranche gerechter gestalten? Und dabei ging es nicht allein um Geschlecht, Sexualität oder „Migrationshintergrund“, sondern auch um Gewicht, Alter, sozialen Status oder ob eine*r „aus dem Osten“ stammt.

Die Ergebnisse sind hier zu finden.

Die traurige Quote für die Branche muss am Anfang stehen: 81 Prozent. 8 von 10 Cis-Frauen, die auf die Frage antworteten, gaben an: Sie wurden in den jüngsten zwei Jahren im Arbeitskontext sexuell belästigt, und zwar mehrfach. Also in der Zeit, als Me-Too längst Thema war. Und diese Erfahrung gelte über die verschiedenen Berufe hinweg: „Sehr viele Frauen erfahren ,unangemessene sexualisierte Kommentare oder vermeintliche Witze’, über 850 Frauen wurden bedrängt, über 170 Frauen wurden zu sexuellen Handlungen aufgefordert, 56 Frauen sogar dazu genötigt.“

Über die Hälfte der Betroffenen behielten die Vorfälle für sich, nur jede dritte sprach sie im eigenen sozialem Umfeld an – zur Anzeige wurde eine Belästigung nur in jedem 200. Fall gebracht. Gründe dafür gebe es viele: man „wolle keinen Ärger machen“ (21 Prozent), „es würde sich ja doch nichts ändern“ (19 Prozent), oder es werden gar „negative Konsequenzen befürchtet“ (23 Prozent). Und offenbar waren die Zweifel angebracht: Fast die Hälfte der betroffenen Befragten gab an, dass eine Meldung der Belästigung keine Konsequenzen hatte; bei mehr als einem Drittel, hatte sich die Belästigung sogar wiederholt.

Es geht aber nicht nur um Sex. Angaben zu Diskriminierungserfahrungen hatten mehr als zwei Drittel der Filmschaffenden gemacht: Die Hälfte davon hatte in den jüngsten zwei Jahren Diskriminierung im Arbeitskontext erfahren, jede 20. Person sogar ,oft’ bis ,fast immer’. Hier melden das sogar noch mehr nicht weiter. Die Gründe sind die gleichen, die Konsequenzen auch. Es wundert nicht, dass Dreiviertel der Befragten „eher bis sehr unzufrieden“ mit dem Umgang ihrer Meldung sind.

Unterschiede zeigen sich auch in der Bezahlung. Quer durch die Departements bietet sich das gleiche Gender-Pay-Gap: Männer verdienen besser als Frauen, Weiße mehr als Rassistisch benachteiligte und BPoC (Schwarze Menschen und People of Colour), Nichtbeeinträchtigte mehr als Beeinträchtigte. Nur bei Schauspiel und Synchronisation (wo das geschätzte mittlere Einkommen deutlich unter dem der anderen Gewerke liegt) sind fast alle gleich – es sei denn, man achtet aufs Geschlecht: dann sind wiederum die Männer vorn. 

Auf dem Bildschirm sieht’s nicht besser aus. Klischeehaft sehen sich die meisten Gruppen dargestellt. Am meisten arabische und muslimische Menschen, zu 87,5 beziehungsweise 83 Prozent. Türkische Menschen sind schon bei 75 Prozent, was heißen dürfte, dass wenigstens jedes vierte Abbild im Fernsehen einigermaßen der Wirklichkeit entspricht. Am wenigsten sehen sich in dieser Rangliste jüdische Menschen als Abziehbilder einer ahnungslosen Mehrheitsgesellschaft dargestellt. Doch auch hier sehen immer noch mehr als die Hälfte Klischees. Und bei Menschen mit niedrigem sozialen Status sind es sogar fast 79 Prozent. 

An Vorschlägen zur Besserung mangelt es nicht. „Klare Konsequenzen für Täter*innen“ ist das Erste, dass 97 Prozent der Befragten für wirksam halten. Gefolgt von schnelleren Handlungsoptionen, verbindlichen Verabredungen und Regeln für intime Szenen, Diskriminierungsprävention früh in der Ausbildung, Ansprechpersonen und Beschwerdemöglichkeiten, einer Antidiskriminierungsstelle für die Branche, Verhaltenskodizes, Workshops und mehr. Eine Geschlechterquote rangiert mit 70 Prozent Zustimmung ganz am Ende – für eine Diversitätsquote plädieren 83 Prozent. 

 

 

 

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