Production 3.0: Die Zukunft der Filmindustrie

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Das Kino der Zukunft kommt schnell. Das lassen jedenfalls die Preise vermuten, mit denen Annie Chang schon ausgezeichnet wurde. Das Kino sieht die studierte Ingenieurin dadurch aber nicht in Gefahr – aus einem einfachen Grund: „Kino bietet eine völlig andere Erfahrung als Zuhause. Und ich glaube, als Menschen wollen wir verschiedene Erfahrungen machen.“ | Foto © AMPAS

Annie Chang arbeitet an der Zukunft des Kinos. Als Vice President of Creative Technologies leitet sie bei Universal das Projekt „Production 3.0“. Der „Hollywood Reporter“ wählte sie dieses Jahr zu den „Top Innovators“ der US-Branche. Ihre Vision stellt sie nächste Woche in ihrer Keynote zur MediaTech Hub Conference vor. Ein Gespräch über ihren Werdegang, die Digitalisierung der Produktion, die Ziele von Universal und die Auswirkungen der Pandemie auf die Filmindustrie.

Frau Chang, vor 30 Jahren hatten Sie ein Aufnahmestudio für lokale Bands und heute sind Sie Vice President of Creative Technologies bei Universal Pictures. Können Sie uns ein wenig über Ihren Werdegang erzählen?

Es begann eigentlich schon bei meiner Erziehung. Mein Vater arbeitete bei IBM, und meine Mutter wollte Sängerin werden – ich hatte zuhause also sowohl einen technischen als auch kreativen Einfluss. Zugleich habe ich mich immer für Musik interessiert. Nachdem ich auf der Universität mehrfach mein Hauptfach wechselte, von Veterinärmedizin zu Genetik, studierte ich schließlich Ingenieurwesen. Während des Studiums arbeitet ich bei einem PBS-Fernsehsender (öffentlich-rechtlicher Rundfunk) und hatte erste Berührungspunkte mit dem Fernsehen. Als ich nach Los Angeles zog, um Recording Engineer zu werden, hatte ich dann bereits Kenntnisse im Videobereich. Das war vor etwa 25 Jahren, als wir noch Videotapes verwendeten. Und dann kam diese neue Technologie namens DVD auf den Markt, und ich durfte, gleich zu Beginn Teil dieser Industrie zu sein.
Während meiner gesamten Karriere hatte ich das Glück, bei der Einführung verschiedener Technologien vorn mit dabei zu sein. Als ich bei THX war, ging es nach der DVD um Digital Cinema und HD Telecine und Mastering. Bei Disney durfte ich die Einführung von Blu-ray und 3D-Blu-ray begleiten und 2010 kam dann File-based Mastering.

Wie kam es zum Schritt vom Vertrieb zur Produktion?

Ich kam zur Produktion, als Disney gegen 2011 damit begann, Filme mit Digitalkameras zu drehen. Die Workflows im Film waren eigentlich seit hundert Jahren die gleichen. Aber mit den Digitalkameras tauchten plötzlich all diese Fragen auf: Was ist ein Workflow? Was ist das für eine Datei? Warum sehen meine Dailies nicht wie meine redaktionellen Dateien aus?
Da ich schon immer ein Interesse für Kompressionsverfahren, Codecs und Dateiformate hatte und Workflows einfach verstand, war das mein Ding. Also bewegte ich mich in Richtung Produktionstechnologie und schaute, was ich in diesem Bereich beitragen kann. In den letzten acht Jahren habe ich mich viel mit Produktions- und Kreativtechnologien beschäftigt, und mit der Frage, wie wir den Prozess des Filmemachens verbessern können. Bei Marvel Studios verantwortete ich den Bereich Technologie und dann gab es vor drei Jahren bei Universal die großartige Gelegenheit, das Projekt Production 3.0 zur Zukunft des Films zu leiten. Und ich begann mit der Mission: Lasst uns herausfinden, welche Probleme es bei Universal derzeit gibt.

Und wie sind Sie diese Probleme angegangen?

Ich habe zunächst das Gespräch gesucht, denn Innovation lässt sich nicht im luftleeren Raum betreiben. Man muss mit anderen Menschen zusammenarbeiten und versuchen, die beste Lösung zu finden. Als wir mit Gleichgesinnten bei Universal und auch außerhalb von Universal sprachen, kamen wir zu dem Schluss: Lasst uns den Prozess der Filmproduktion ab jetzt gänzlich digital gestalten. Lasst uns wirklich digital werden, in allem was wir tun – von den Ausschreibungsunterlagen über die Dreharbeiten bis hin zu den visuellen Effekten. Wenn es digital ist, können wir Technologie dazu nutzen, um konkrete Probleme für die Produktion zu lösen. Gibt es zum Beispiel raffinierte neue Möglichkeiten beim maschinellen Lernen oder kann ich Analytics einsetzen?

In Ihrer Karriere haben Sie sowohl die Produktions- als auch die Vertriebsseite kennengelernt und miteinander verknüpft. In der Filmwelt sehe ich, dass die meisten entweder in der Produktion oder der Distribution bleiben. Auf der MediaTech Hub Conference werden Sie über Ihre Vision für die Zukunft des Filmemachens und des Medienschaffens sprechen. Ist die Verschmelzung von Produktion und Vertrieb Teil Ihrer Vision?

Ja, absolut. Die Welt der Distribution hat in den letzten zehn Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen. Viele kluge Köpfe haben sich auf Streaming konzentriert und auf die Frage, wie man die beste Qualität und den besten Inhalt hervorbringt. Die Vertriebswelt ist jetzt, glaube ich, an einem wirklich guten Punkt. Nun muss die Produktionsseite aufholen. Dann können wir ein nahtloses Ökosystem zwischen der Erstellung von Inhalten und der Verbreitung dieser Inhalte schaffen.
Ein Teil unserer Bemühungen im Rahmen von Production 3.0 dreht sich um die Optimierung und Modernisierung des Live Action Process. Wenn im Moment eine Produktion zusammenkommt, ist es – und Sie kennen das wahrscheinlich – wie bei einem Stamm an Nomaden auf einer Insel. Sie treffen sich und tauschen all ihr Wissen aus. Doch wenn sie fertig sind, trennen sie sich und das vereinte Wissen geht einfach verloren, während alle zur nächsten Show ziehen.
Für Universal ist es wichtig, ein Framework zu schaffen, das eine Verbindung zwischen all den verschiedenen Produktionen ermöglicht, sodass man Dinge, die bei einer Produktion gelernt wurden, auf eine andere Produktion anwenden kann. Die Idee ist, eine Plattform zu haben, über die sich Dinge nahtlos verbinden lassen. Man sollte nicht immer wieder von Grund auf eine neue Pipeline aufbauen müssen, nur um ein neues Dailies-System, ein neues Redaktionssystem oder eine neue Funktion zur Konvertierung von Kameradateien einzusetzen.
Was wir anstreben, ist ein nahtloser Prozess, sodass wir zum einen Dinge miteinander verbinden und zum anderen Informationen aggregieren können. Bei Universal verfügen wir über ein Asset-Management-System, das Kontext und Workflow umfasst. Spannend an dieser Plattform ist, dass sie auch von DreamWorks Animation verwendet wird. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass die Animations- und die Live-Action-Seite des Studios gemeinsam mit der gleichen Technologieplattform arbeiten.

Wie kann die Distribution davon profitieren?

Wenn wir all diese Dinge in der Produktion miteinander verbinden können, profitiert der Vertrieb, weil es ein System gibt, das über alle Informationen und die Geschichte der Produktion verfügt. Maschinelles Lernen und die Möglichkeit, Objekte zu identifizieren, halte ich zudem für sehr wertvoll, weil wir es zur Validierung nutzen können. Und denken Sie an all die gesammelten Informationen – was man damit machen könnte und wie man sie aus der Sicht der Distribution monetarisieren könnte, wenn sie denn zugänglich wären. Genau darum geht es uns: die Modernisierung des Produktionssystems, um Vorteile im nachgeschalteten Vertriebsprozess zu erzielen.

Ein Problem, das ich sehe, ist, dass Menschen – vor allem in der Filmindustrie – Dinge gefühlt doch immer wieder auf die gleiche Weise angehen. Liegt die Herausforderung in der Technologie oder in der Veränderung des Mindsets der Menschen?

Ich glaube, es ist eine Kombination. Offensichtlich kann Technologie nicht alles lösen. Wie Sie sagen, müssen die Menschen auch ihre Denkweise ändern. Aber wir werden nicht versuchen, Menschen in nur ein paar Jahren vollständig auf ein neues System umzustellen. Wir sind uns im Klaren, dass Filmemacher immer bestimmte Werkzeuge nutzen und mit bestimmten Personen zusammenarbeiten wollen – und das auf eine bestimmte Art und Weise. Wir versuchen nicht, alles im Prozess des Filmemachens zu ändern. Das wäre verrückt.
Unser Ziel ist, ein übergreifendes System zu entwickeln, das die Informationen aus all den verschiedenen existierenden Systemen in einem zentralen Repository zusammenfasst, auf das die Menschen zugreifen können. Dabei stecken wir viel Arbeit in das Backend, um sicherzustellen, dass es nahtlos zu bedienen ist und eine neue Welt der Effizienz eröffnet. Das ist eines der Themen, über die ich in meiner Keynote auf der MediaTech Hub Conference sprechen werde, und ich freue mich auf das Feedback der anderen Teilnehmenden.
Ich glaube, das Schwierigste ist, den Filmemachern der alten Schule in diese neue Welt zu helfen. Die jüngeren Filmemacher, die in dieser Zeit der Covid-Pandemie heranwachsen, werden über alle möglichen flexiblen Fähigkeiten verfügen. Und sie werden damit klarkommen, Dinge zu verändern und anders zu machen.

Könnte Corona als ein Beschleuniger wirken, wenn es um die Einführung neuer Workflows geht?

Ich glaube, ein Lichtblick dieser Pandemie ist, dass viele Menschen früher wirklich skeptisch waren, was Remote Work und die Nutzung einer Cloud angeht. Dann kam Corona und alle waren gezwungen, von zu Hause aus zu arbeiten. Menschen, die nicht sehr technikaffin waren, mussten sich mit Technologie auseinandersetzen und lernen, wie sie damit produktiv arbeiten können. Und jetzt verstehen sie es – wow, diese Technologie-Sache kann uns tatsächlich bei unserer Arbeit helfen! Dieses Verständnis hilft uns beim Change Management.
Außerdem haben Menschen neue Wege der Zusammenarbeit gefunden. Und auch das führt zu einer gewissen Innovation. Wenn wir allerdings schon eine Pandemie durchleben müssen, dann wünschte ich, es wäre erst im nächsten Jahr dazu gekommen. Dann wären wir technologisch einfach besser aufgestellt gewesen. In den letzten Monaten mussten wir vieles sehr plötzlich zum Laufen bringen, was nicht ideal war.

Und am Ende braucht es auch Schauspieler, Kameras, Regisseure. Man muss den Film drehen. Gehen uns zu einem bestimmten Zeitpunkt die Inhalte aus?

Das glaube ich nicht. Der Content wird etwas langsamer herauskommen, aber es wird auf jeden Fall immer noch genügend Content geben. Und wir lernen, uns anzupassen, nicht wahr? Das ist ein weiterer Punkt, bei dem Technologie sehr hilfreich ist – zum Beispiel die Möglichkeit von Remote Viewing über Kameras. Die Pandemie verlangsamt die Dinge, aber Menschen sind sehr widerstandsfähig. Wir lieben es, Geschichten zu erzählen, und wir werden immer einen Weg finden.

Bisher haben wir in der Filmbranche noch ein Geschäftsmodell, bei dem es zuerst ums Kino geht, dann um Sender oder Pay-TV und dann um Streaming. Wie wird sich das in den nächsten Jahren vermischen? 

Als Branche wussten wir immer, dass sich das Modell ändern würde. Und dass die Bereiche beginnen, miteinander zu verschmelzen. Sie können sehen, wie Sony zum Beispiel gerade seine Vertriebsgruppen zwischen Kino und Home zusammengelegt hat. Die Menschen passen sich an, und auch die Studios passen sich dieser neuen Landschaft an. In der Branche war schon immer die Rede vom Kino und davon, wie lang es bestehen bleiben wird. Aber Kino bietet eine völlig andere Erfahrung als Zuhause. Und ich glaube, als Menschen wollen wir verschiedene Erfahrungen machen. Ich bin also überzeugt, dass es ein Leben für das Kino gibt. Und es wird auch offensichtlich immer ein Leben für das Streaming geben.
Werden sich die Dinge ändern? Mit Sicherheit. Aber ich glaube, dass es am Ende besser für die Verbraucher sein wird, weil sie all diese verschiedenen Wahlmöglichkeiten haben werden. Wir werden unsere Geschichten so oder so erzählen können. 

Meine letzte Frage zur Zukunft des Films: Was sehen Sie jenseits der Technologie?

Besseres Storytelling. Besseres und schnelleres Storytelling. Seit der Steinzeit erzählten sich Menschen Geschichten. Und jede Person hat etwas zu erzählen. Das sehen wir gerade auch, nicht wahr? Es gibt eine Explosion an Inhalten. Und ich glaube nicht, dass sich das ändern wird. Aber es wird sich in dem Sinne weiterentwickeln, dass mehr Menschen in der Lage sein werden, ihre Geschichten zu erzählen. Ich liebe es zu sehen, wie sich all die großartige Arbeit in Bezug auf Vielfalt, Gleichheit, Integration und Gerechtigkeit fortsetzt. Ich habe das Gefühl, dass wir endlich in der Lage sein werden, all die wunderbaren Geschichten zu erzählen, die in der Vergangenheit verdrängt wurden. Darauf freue ich mich schon jetzt. Denn Film und Fernsehen machen Kultur. Was wir sehen, wirkt sich darauf aus, wie wir handeln und uns verhalten. Wenn wir mehr und vielfältige Geschichten erzählen, werden sich die Menschen anderer Hintergründe bewusster. Und ich denke, wir werden als Menschen besser werden.

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