Kino in Zeiten von Corona 30 – 1

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„Rojo“ | Foto © Cine Global

Alles Kino und noch mehr … in der Woche vom 15. Oktober 2020 – Teil 1.

Marketing-Sprache. Manchmal wundere ich mich doch, mit welchen Floskeln man mir die Meldungen serviert. Da werden Premieren als „zauberhaft“, „saustark“ oder „umjubelt“ beworben. Wenn dann die nächste große Kinohoffnung zum Streaming getragen wird, dann ist im Kinogeschäft niemandem zum Jubeln zumute. Da wird etwa Bob Chapek, CEO der Walt Disney Company, zitiert mit: „Wir sind begeistert, Pixars spektakulären und berührenden Film ,Soul‘ den Zuschauern im Dezember direkt auf Disney+ zugänglich zu machen.“ Und weiter im Werbetext: „Ein neuer Pixar-Film ist immer etwas Besonderes, und diese wirklich warmherzige und witzige Geschichte über menschliche Beziehungen und wie wir unseren Platz in der Welt finden, ist ein filmisches Highlight, das Familien nun gemeinsam über die Weihnachtsfeiertage genießen können.“ Vielen Dank. Für nichts.

Der Kinobetreiber Sven Andresen hat einen Leserbrief an „Blickpunkt Film“ geschickt. Darin schreibt er „warum dürfen(!) die Kinos nicht selbst entscheiden, ob Sie diesen Film innerhalb eines Zwei-Monats-Fensters – zu angemessenen Konditionen – auswerten wollen oder nicht?“ und er sei es leid, „auf den nächsten Blockbuster zu hoffen, diesen zu bewerben, nur um dann früher oder später zu hören „ist verschoben“ oder „geht ins Streaming“. Er spricht sicherlich vielen aus der Seele. Der internationale Kinoverband UNIC veröffentlicht eine Stellungnahme. Verschiebungen im Startkalender oder auf Streaming-Plattformen würde nicht nur die Kinos gefährden, sondern auch die Studiopartner, die riskieren, dass es für die Europäischen Kinos zu spät sein könnte, wenn sie endlich wieder Filme starten lassen wollen.

In deutschen Kinos, so „Blickpunkt Film“ herrscht ein Regelchaos. So weit, so bekannt. Andernorts in Europa schließen aber tatsächlich auch wieder Kinos. Zum Beispiel in der Slowakei, meldet Film New Europe. Wie die Zukunft der Kinos in der Zeit von Corona aussieht, darüber unterhalten sich auf „Variety“ der leitende Redakteur Brent Lang und zwei feste Filmkritiker der Publikation: Peter Debruge und Owen Gleibermann [auf Englisch]. Und im „Guardian“ geben Kritiker*innen, Presseagent*innen und andere Expert*innen ihre Einschätzung über die Zukunft der Branche als solche, kurz „If Bond moves again, it’s Armageddon“ [auch auf Englisch]. Zum Beispiel die Box-Office-Analytikerin Delphine Lievens vergleicht die Lage in Großbritannien mit der in anderen Ländern. Denn anders als in Großbritannien gäbe es (zum Beispiel in Deutschland) Filme, die die Lücke in der Verwertung schließen könnten.

Und damit wären wir bei den aktuellen Kinocharts: „Jim Knopf und die Wilde 13“ ist immer noch Top, der Neueinsteiger „Es ist zu deinem Besten“ platzierte sich gleich dahinter. Die Arthouse-Charts (Programmkino.de meldet die Top 10 zuverlässig), vermelden, dass Isabelle Huppert sich souverän an die Spitze gedealt hat. „Eine Frau mit berauschenden Talenten“ liegt sowohl bei den Besucherzahlen als auch im Kopienschnitt vorne. Vier der Filme, die vorige Woche angelaufen sind, konnten sich in diesen beiden Top-10 auch platzieren. Das sind die Tragikomödie „Milla Meets Moses“, der Wirtschaftsthriller „Vergiftete Wahrheit“ und die Öko-Dokumentation „Unser Boden, Unser Erbe“.

Es sollte kein Wettrennen sein. Aber kommen wir zu den Starts dieser Woche. Das sind 14 Titel, nicht gerade wenig, wir berücksichtigen hier fast alle. Darunter ein Feelgood-Film über einen Chor von Soldatengattinen („Mrs. Taylor’s Singing Club“), ein bedrückender Thriller-Film Noir über die Zeit knapp vor dem Militärputsch in Argentinien („Rojo“), eine Neuinterpretation des Klassikers „Der geheime Garten“. Man träumt vom Flug in den Weltraum („Astronaut“), begibt sich auf die Suche nach einem vermissten Hund („Bruno“) oder möchte sich im Kinder-Animationsfilm „Drachenreiter“ als Drache beweisen. Und vieles mehr.

Der argentinische Thriller „Rojo“ trägt die Essenz seiner Aussage im deutschen Zusatztitel: „Wenn alle schweigen, ist keiner unschuldig“. In dem Haus, das Benjamín Naishtat („History of Fear“) in der ersten Szene zeigt, hat sicherlich mal jemand gewohnt und gelebt, war Teil einer Gesellschaft. Jetzt treten fremde Leute aus der Tür des verlassenes Ortes und tragen das, was noch einen Wert hat, hinaus. Ohne Eile, ohne Rechtfertigung. Argentinien im Jahr 1975, ein Jahr vor dem Putsch. Die Hebel zum Zustand der Diktatur sind bereits am Kippen. Naishtat erzählt von einem Rechtsanwalt, der mit seiner ruhigen Art so viel sympathischer wirkt als der ungehobelte Störenfried, der im Restaurant dessen Platz einfordert. Schließlich bestelle er nichts und bringe dem Haus auch keinen Umsatz. Das sieht der Anwalt (Darío Grandinetti), der noch auf seine Frau wartet, durchaus ein und gibt den Platz frei, aber dann stellt er den Mann im Innersten bloß. Die Sympathien sind in dem Moment mit dem, der besonnen reagiert. Aber so einfach ist die Sache nicht, und die folgenden Ereignisse dieses Abends mit dieser seltsamen Begegnung enthüllen eine Haltung, die schockiert, oder bei der man wegschaut.
Naishat zeigt diese Mechanismen des Wegschauens zum eigenen Nutzen. In San Sebastián gewann „Rojo“ 2018 den Preis für die beste Regie und die beste Kamera, die nächsten Monate stellte Naishtat den Film auf zig Festivals vor, darunter auch in Hamburg. Das Geld stammt für einen so umfangreichen Film auch aus Frankreich, der Niederlande und Deutschland. „Rojo“ lebt von der bedrückenden Atmosphäre und von seinen Darstellern, hauptsächlich natürlich auf großer Leinwand.

„Mrs. Taylor’s Singing Club“ heißt die britische Komödie, in der Kristin Scott Thomas Kate spielt, die in ihrer schwierigen Art bei den anderen Soldaten-Gattinnen nicht gut ankommt. Wenn die Soldaten-Ehemänner im Afghanistan-Einsatz sind, brauchen die Ehefrauen („Military Wives“, so der Originaltitel) eine Beschäftigung, um sich von den Sorgen um ihre Männer abzulenken. Zum Beispiel können sie einen Chor gründen. Es gibt sie wirklich, die Idee basiert auf realer Grundlage. Peter Cattaneo (der in „Ganz oder gar nicht“ schon mal einen Trupp arbeitsloser Stahlarbeiter erfolgreich strippen ließ) setzt das Drehbuch von Rosanne Flynn und Rachel Tunnard als Feelgood-Movie um.

Ein Lebenstraum, zum Greifen nah. Einmal „Astronaut“ sein. Ein Milliardär setzt ihn um. Ein einfacher Mann träumt, greift nach den Sternen und vielleicht, nur vielleicht erfüllt sich auch für ihn dieser Traum. Dieser einfache Mann heißt Angus Stewart, und es ist Richard Dreyfuss, der hier den vom Alter geschwächten, aber längst noch nicht lebensmüden Mann spielt. Gerade erst verlor er seine Frau, nun zieht er zu seiner Tochter. Das funktioniert nicht wirklich und darum kommt er ins Altersheim. Sein Enkel Barney (Richie Lawrence) drängt ihn, die Sehnsucht, einmal die Erde vom Weltall aus zu sehen, nicht aufzugeben. Womit wir wieder bei dem Milliardär wären. Marcus Brown, ihn spielt Colm Feore, steckt sein Vermögen in die zivile Raumfahrt und lobt für den ersten Flug in einem Wettbewerb zwölf freie Plätze aus.
Natürlich geht es um den Traum, zu fliegen, aber mehr noch geht es der kanadischen Schauspielerin Shelagh McLeod in ihrem Regiedebüt um zweite Chancen. Natürlich glaubt das Publikum nicht, dass ein Mann mit 75 Jahren und fragiler Gesundheit in den Weltraum fliegen könnte. Aber auch das Publikum darf träumen. Zum Beispiel von einer Familie, die zwar die Hilfe eines Altersheims in Anspruch nimmt, aber stets zur Stelle ist. In den Figuren steckt jeweils mehr, als was der erste Blick suggeriert. Und Angus, der den selten unspektakulären Beruf eines Straßenbauingenieurs hatte, kann mit seinem Wissen entscheidend Einfluß nehmen. Wenn die jüngere Generation offen für den Austausch ist und nicht grundsätzlich alles, was vor dem „Millienium Bug“ verortet ist, für steinzeitlich hält, wäre viel gewonnen.
McLeod erfindet das Rad nicht neu. Ihre Erzählweise ist solide, etwas vorhersehbar, und sie streift Themen, wie das Alter und das Zusammenspiel von Alt und Jung, die mehr Fokus verdient hätten. So macht das grundsympathische Anliegen den Film fast zum Märchen.

„Bruno“ ist ein kleiner leiser Film über einen groß gewachsenen stillen Mann. Der heißt Daniel, gespielt wird er von Diarmaid Murtagh („Vikings“). Der Regisseur Karl Golden hat ihn auf den ersten Blick besetzt. Bruno ist sein Hund. Der Hund ist auch der einzige, um den sich Daniel kümmert, der mit ihm durch die Stadt (London, die bessere Hälfte) stromert. Dabei bleibt er fast unsichtbar. Daniel ist obdachlos. Mehr noch, er hat sich zurückgezogen. Hilfe nimmt er nur von wenigen Menschen an. Was in ihm vorgeht, als er einen Spielplatz beobachtet, da gerät man leicht auf eine Fährte, die in eine Sackgasse führt. Golden, der zuvor zum Beispiel „The Honeymooners“ oder „Weekender“ drehte, spielt auf den Umstand an, dass man Menschen falsch einschätzen kann. Aber er überstrapaziert diesen Umstand nicht. Daniel ist ein guter Kerl, der eine Last trägt, man interessiert sich eben doch für sein Schicksal. Und dann findet er nachts einen kleinen Jungen (Woody Norman), einen Ausreißer, während er seinen Hund sucht, der verschwunden ist. Daniel gibt dem Kind seinen Schlafsack und fortan wird er den Jungen, der seinen Namen nicht nennen möchte, nicht mehr los. Daniel kann gar nicht anders, als zu helfen. Eine Art Coming-of-Age-Geschichte ist das, von einem Mann, der wieder lernen muss, was es heißt, sich um jemanden und um sich selbst zu kümmern, Verantwortung zu übernehmen und das Leben anzunehmen. Golden erzählt diese Geschichte, die nicht so sehr auf Handlung, sondern vielmehr auf Wandlung setzt, sehr zurückgenommen. Gedreht hat er den Film in London, die Kamera führte Jalaludin Trautmann, der für den Kurzfilm „Sweetheart“ vor ein paar Jahren den „Deutschen Kamerapreis“ gewonnen hat. Die Stadt ist immer wieder laut und tosend und dann wieder einsam und verwaist. Ein Kind kann da schon mal darin verloren gehen wollen. Darin sind sich die beiden Figuren ähnlich, aber beide müssen sie lernen, dass sie eben nicht alleine sind. Das ist fast ein poetisches Märchen. Golden beweist einen gütigen Blick auf den Schmerz seiner Figuren.

Die Corona-Zeit hat die Freitagsdemonstrationen auf den Straßen behindert, doch jetzt geht es wieder richtig los. Am 25. September gab es den ersten großen Klimastreik. Auch der Verleih Filmwelt hat entsprechend geplant. Die Dokumentation „I Am Greta“ kommt jetzt zeitgerecht und an einem Freitag in die deutschen Kinos – von der Demo ins Kino. Greta Thunberg war die erste, die sich vor das schwedische Parlament in Stockholm setzte und für das Klima streikte. Statt zur Schule zu gehen. Hier beginnt auch Nathan Grossmans Dokumentarfilm. Eine schwedisch-deutsche-britische und US-amerikanische Koproduktion, gepitched auf dem CPH:Dox Forum 2019. Aber wer filmt denn, als Greta Thunberg zum ersten Mal in die Öffentlichkeit tritt? Es war in der Tat der Regisseur, der über zwei Ecken, aber quasi von der Familie selbst, erfahren hatte, was Greta Thunberg plante. Und so tauchte er auf, fragte, ob er ihr ein Mikrofon anstecken könne, und dachte, daraus könne vielleicht eine Reportage werden – und blieb dann dran. Fast alles an Material hat Grossman selbst und ohne Crew gefilmt. Das allerdings hätte der Film transparent vermitteln können und müssen. Auf Interviews und Stellungnahmen verzichtet Nathan Grossman. Woher kommt das Material und wer kontrolliert es, die Fragen hätte er antizipieren müssen. Es ist nicht ganz klar, ob „I Am Greta“ (so stellt sich Greta Thunberg in der Regel vor, ohne falsche Attitüde) die Bewegung, die sie in Gang gesetzt hat, spiegeln möchte oder doch Biografie sein will. Wäre letzteres der Fall, sollte doch näher auf ihren Hintergrund eingegangen werden. Ginge es um die Bewegung, dann hätten man gerne noch ausführen können, wie in einzelnen Ländern die Bewegung an Fahrt aufgenommen hat, und gerne hätte man dann von den vielen Aktivist*innen, die an ihrer Seite kämpfen, ebenfalls den einen oder anderen Namen erfahren. Richtet sich der Film an die FridayForFuture-Aktivist*innen? Oder an die Eltern-Generation und an die Entscheider*innen, die es immer noch nicht kapiert haben? Oder ist die Dokumentation doch ein Element in einer Kampagne? Die kritischen Stimmen, die auch die Rolle der Eltern hinterfragen, von denen man hier noch viel weniger erfährt, werden so kurz angerissen, dass sich sofort Fragen auftun. Greta Thunberg zufrieden tanzen zu sehen, wirkt, unter dieser Prämisse, leider doch befremdlich.

Merke wohl! Nach Logik fragt niemand im Finanzgeschäft. Hauptsache, es funktioniert. Bis es nicht mehr funktioniert. Dass es eigentlich nicht mehr funktioniert, ist allen klar, die was von Geld verstehen, und auch allen, die davon nichts verstehen. „Oeconomia“ ist Carmen Losmanns Nachfolgerfilm von „Work Hard – Play Hard“, und die Zielgruppe ist jetzt wohl doch eher eine, die der Finanzwelt skeptisch gegenübersteht. Zum einen durfte sie nicht drehen, wie sie gerne gewollt hätte, und Gesprächspartner waren auch rar gesät. Losmann gibt gleich zu Beginn im Interesse der Transparenz zu, dass viele Dialoge aus Erinnerungsprotokollen nachgestellt worden sind. Unter anderem. Sicher ist, die Maschine muss am Laufen gehalten werden, und „die Profite von heute sind die Schulden von morgen“. Woraus natürlich folgt, dass „die Schulden von heute die Profite von gestern“ wären. Da die Herren aus den Banken nicht frei reden wollen (oder dürfen) oder ihre Fragen geradezu als beleidigend empfinden, holt sich Carmen Losmann eine Runde IT-ler*innen, Volkswirtschaftler*innen und Publizist*innen an Bord und lässt sie mitten in der Stadt, passenderweise Frankfurt am Main, in der Einkaufsstraße Monopoly spielen und das Spiel mit den entsprechenden Regeln laufen. Ihr Anliegen ist schon, dieses Monstrum Finanzwirtschaft zu erklären. Zumal die Gesellschaft offensichtlich nicht durchblicken soll. Losman fragt erst ganz simpel „Wie entsteht Geld“ und arbeitet sich dann in einer Mindmap immer mehr ins Detail. Sie und ihr Kameramann Dirk Lütter setzen die Distanz zwischen Mensch und Geld auch räumlich mit Bildern der Architektur um, die allerdings auch Faszination auslösen kann. Das Verstehen, wie Geldwirtschaft und Kapitalismus funktionieren und was sie bewirken, ist eines. Losmann stößt eine weitere Tür auf, durch die man gehen sollte. Was sind die Alternativen? Auf der Webseite des Films darf man, wenn man es denn will, weiterlesen.

Und noch ein Tip vor dem zweiten Teil unserer Filmvorstellungen. Vor einer Woche haben Emanuelle Charpentier und Jennifer Doudna den Nobelpreis für Chemie bekommen. Ihre Genome-Editing-Methode Crispr/Cas9 kann das Genom von Menschen oder Tieren oder Pflanzen gezielt ansteuern und verändern. Dazu hatte Mindjazz Pictures im November vorigen Jahres einen Film ins Kino gebracht: „Human Nature: Die CRISPR-Revolution“. Diese kann ein Segen sein, Heilung für Erbkrankheiten bringen, birgt aber auch die Möglichkeit von unerwünschten Veränderungen. Mit CRISPR kann man DNA zielgerichtet ansteuern und verändern.
Der Regisseur Adam Bolt rollt die Genforschung und damit die Gentherapie von ihren Anfängen auf, und mit Hilfe von Biochemikern, Mikrobiologen und auch Bioethikern führt er die Thematik spannend, verständlich und auch hinterfragend an das Publikum heran. Mindjazz Pictures trägt den Film an interessierte Kinos zu Sonderkonditionen heran. Als DVD oder per Stream kann man den Film natürlich auch sichten.

 

 

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