Kino in Zeiten von Corona 24

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Alles Kino und noch mehr … in der Woche vom 3. September 2020.

Endlich Erfolgszahlen für die Kinos in Deutschland. Christopher Nolan hat sich souverän an die Spitze gestellt. „Blickpunkt Film“ meldet einen Ticketumsatz von 380.000 Stück für das erste (um den Mittwoch verlängerte) Wochenende. In anderen Ländern sieht es ähnlich gut aus. Großbritannien verdankt „Tenet“ 74 Prozent des Umsatzes. Frankreich verkaufte etwa 700.000 Tickets. In Österreich spielen 92 Säle den Film und generieren 409.043 Euro Umsatz. Zahlen, alles Zahlen. Die Freude ist spürbar. Von den Neustarts der vorigen Woche (Programmkino.de meldet die Arthouse-Charts) konnte sich nur „Fragen sie Dr. Ruth“ neu in der Top 10 platzieren. An der Spitze gibt es wenig Bewegung. Die Schlingensief-Dokumentation „In das Schweigen hineinschreien“ liegt im Kopienschnitt vorne während nach Gesamtzahlen Mika Kaurismäkis „Master Cheng in Pohjanjoki“ in der fünften Woche fest auf Platz 1 steht. Ich möchte aber noch einmal meine Stimme für den „See der wilden Gänse“ von Diao Yinan erheben. Das ist Kino pur. Eine bessere Platzierung kann aber noch kommen.

„Tenet“ ist also in Europa im Kino. In den USA startet Nolans Film diese Woche. Die Kinos bereiten sich darauf vor. Wie das zum Beispiel in Kalifornien aussieht, darüber berichtet „Variety“ [auf Englisch]. Jetzt warten alle auf den neuen Bond vom Verleih Universal. Am Dienstag kam eine Pressemeldung zu „Keine Zeit zu sterben“. Man gibt die Veröffentlichung des Hauptplakates bekannt. Der Starttermin ist immer noch der 12. November 2020. Alles läuft also nach Plan. Nicht so bei Walt Disney. „The King’s Man“ von Matthew Vaughn, das Prequel der „Kingsman“-Reihe (2014, 2017), sollte ursprünglich dieses Jahr im Februar ins Kino kommen. Bei der ursprünglichen Ankündigung war das noch ein Film der 20th Century Fox, deren Filme in den Fundus von Walt Disney Studios übergegangen sind. Der ehemals anvisierte Starttermin wäre jetzt der 17. September 2020 gewesen. Der steht nun nicht mehr. Walt Disney meldete, dass der Film auf Ende Februar 2021 geschoben wird. Weiterhin im Startplan ist „New Mutants“ von Josh Boone, der ebenfalls bei der Fox seit 2018 in der Planung stand und ursprünglich mal 2019 ins Kino hätte kommen sollen. Walt Disney zieht den Film jetzt vor, auf den 10. September 2020. Allerdings mit restriktiver Sperrfrist bis zum Starttag.

Für die Kinobetreiber bleiben die Herausforderungen präsent. Eine Lösung, Kino und Video-on-Demand zu verbinden, bietet zum Beispiel Filmwerte, die den öffentlichen Bibliotheken die Plattform „Filmfriend“ aufgebaut haben, auf die Filmbegeisterte mit Bibliotheksausweis Zugriff auf eine Filmauswahl haben. „Blickpunkt Film“ berichtet jetzt über deren Angebot, Kinos in dieser Krise zu unterstützen. Wer bis jetzt zögerte, auf Netflix zu setzen, wird ab jetzt ohne Probemonat in ein Abo gebunden. Reinschnuppern kann man trotzdem. Filmstarts listet auf, was zurzeit (statt im Probeabo) kostenlos gestreamt werden kann.

In der neuen Woche möchte sich nun aus Polen „Corpus Christi“ vorstellen. Ein junger Mann möchte Priester werden. Die Institutionen haben anderes mit ihm vor. Seine Rolle wird wohl die eines Malochers im Sägewerk sein, dafür wird er im Jugendknast ausgebildet. Daniel (Bartosz Bielenia) wird nach seiner Entlassung quer durchs Land zum Arbeitsdienst geschickt. Einen wie ihn erkennt ein Polizist in Zivil sofort als Abschaum. Es ist eher Zufall, dass der Priester des Dorfes, in das er kommt, ausfällt. Daniel gibt sich als Priester aus, weil er sich in der Rolle selbst erkennt, oder vielleicht auch nur gefällt, Bielenia spielt die Rolle eindrucksvoll auf der Kippe und die Kamera zeigt sein Gesicht mit jeder Regung und jeder Überlegung. Dieser Fall hat sich so ähnlich zugetragen. Wobei es gar nicht mal so selten vorkommt, dass sich jemand als Geistlicher ausgibt, auch im Film nicht. Regisseur Jan Komasa („Warschau ’44“) und Drehbuchautor Mateusz Pacewicz haben daraus eine Parabel um Schuld und Vergebung geformt. Dass die Institution Kirche und der Glaube zweierlei sind, wird immer wieder deutlich hervor gehoben. Daniel hat Schuld auf sich geladen. Schuld, die auch durch eine Gefängnisstrafe nicht getilgt werden kann. Seine Verbindung zu seinem Glauben nimmt er ernst, aber er ist so unkonventionell, so natürlich im Umgang mit den Dorfbewohnern, dass diese ihn nach kurzem Zögern ob seiner Jugend annehmen. Auf dem Dorf, und das ist Drehbuch, lastet ein Trauma, und es scheint Gottes Plan zu sein, dass er sich daran macht, die Gemeinde zu heilen. Die polnische Produktion mit französischer Beteiligung schaffte es bei den fremdsprachigen Oscars bis auf die vorderen Plätze. Bei den polnischen Filmpreises gewann „Corpus Christi“ 11 Auszeichnung, unter anderem als bester Film, bestes Drehbuch, beste Kamera (Piotr Soboci?ski Jr.) und bester Schnitt (Przemys?aw Chru?cielewski).

„Drei Tage und ein Leben“ ist ein tragischer Film. Es ist nicht so sehr, was passiert oder nicht passiert. Nicolas Boukhrief („The Confession“) verdichtet den Wendepunkt in dem Leben eines Kindes und eines ganzen Dorfes, einer Region auf das Geschehen von drei Tagen. Da ist der 12jährige Antoine, er spielt immer wieder im  angrenzenden Wald, der halb so alte Nachbarsjunge Rémi hängt dabei oft wie eine Klette an ihm. Die Kinder sind Freunde, aber im Alter dann doch zu weit auseinander, um auf äußere Einflüsse und Stimmungen gleich zu reagieren. Antoine ist in Rémis Schwester verknallt. Wer auch nicht. Die hängt aber mit Théo ab, scheinbar. Antoine reagiert mit Eifersucht. Agiert mit einer kindlichen Wut. Und so kommt es zu einer Reaktion, die eine Lawine auslöst, die nicht mehr zu stoppen ist. Dabei behandelt Pierre Lemaître in seinem gleichnamigen Roman das Gefühl und die vielen Schattierungen der Schuld. Schuld ist eine komplizierte Sache. Da verschwindet ein Kind und nicht nur eine Katastrophe verhindert die Aufklärung. Es ist Stolz, es ist die Sorge um den Ruf, es ist blinde Wut und Vorurteile, es ist falsches Schweigen. So ist „Drei Tage und ein Leben“ eine Aneinanderreihung von falschen Entscheidungen, die unendlich traurig machen. Boukhrief bettet dieses Drama, diese Tragödie in den Mikrokosmos eines kleinen Dorfes ein, das nachdem die Minen geschlossen und die Fabrik aufgegeben wurden, eh um ihr Überleben kämpft. Jeder kennt jeden, und doch weiß nur ein einziger Mensch, ein Kind, was passiert ist. Und das Kind will die Wahrheit verschweigen. Auch wenn dass bedeutet, das es keine Erlösung geben kann. Ein einsamer Weg.

„Meine wunderbare seltsame Woche mit Tess“ von Steven Wouterlood wurde 2019 auf der Berlinale im Generations-Programm vorgestellt und erhielt dort von der Kinderjury der Kplus-Sektion eine lobende Erwähnung. Die Verfilmung des Romans von Anna Woltz überzeugt mit seiner Darstellung der leisen, nachdenklichen Töne und ist nur vordergründig eine Komödie. Familie und Freundschaft sind die großen Themen. Sam (Sonny Coops Van Utteren) verbringt den Sommer mit der Familie auf einer Insel. Er hat aber vor, sich von der Familie abzunabeln, er will ohne sie auszukommen. Er beschäftigt sich mit Verlust und Sterblichkeit. Das ist ein Kinderfilm wohlgemerkt. Er lernt Tess (Josephine Arendsen) kennen, mit einigen Hürden. Tess wohnt auf der Insel, nur mit ihrer Mutter. Jetzt hat sie aber ihren Vater ausfindig gemacht und ihn mit einem Trick in dem Ferienhaus ihrer Mutter untergebracht. Die beiden Kinder verbindet erst einmal nichts und grün sind sie sich auch nicht und es braucht eine Weile, bis die Freundschaftswerte erkennen und einander helfen. Wouterlood führt seine Hauptdarsteller behutsam und überzeugend. Es ist eine Freude ihnen bei ihren Überlegungen über das Sein und die Herkunft und die Erinnerungen, die das Sein ausmacht, zuzuschauen. Hier begegnet ein Film (mit einem kleinen Wehmutstropfen) seinen Hauptfiguren mit einem wohltuenden Ernst und bleibt, das macht auch den Erfolg der Verfilmung aus, auf der Augenhöhe der nicht ganz einfach gestrickten jungen Persönlichkeiten.

Der aus Myanmar stammende Midi Z, seine Ausbildung hat er in Taiwan genossen, hat mit der Schauspielerin Ke-Xi Wu „Nina Wu“ bereits 2016 „The Road to Mandalay“ gedreht. Ke-Xi Wu schöpfte für ihre Figur der Nina aus ihren eigenen Erfahrungen als Schauspielerin und lieferte damit das Gerüst für das Drehbuch und liefert damit eine neue Facette für die MeToo-Debatte. Nina ist seit Jahren Schauspielerin in Kleinst- und Werbefilmrollen und bekommt jetzt ihre erste große Chance. Doch sie ist skeptisch, weil das Drehbuch Nacktszenen beinhaltet. Ihr Agent manipuliert sie mit dem Hinweis, dass in Hollywood jede Schauspielerin von Rang und Namen eine solche Rolle annehmen würde. Doch es sind nicht nur die Nacktszenen. So ist „Nina Wu“ erst einmal ein Porträt vom Casting-Prozess und dem Drehalltag am Set. Demütigungen gehören zum Handwerk und der Erfolg des Filmes bei der Presse scheint dem Regisseur recht zu geben. Aber was macht das mit der Schauspielerin als Mensch? Midi Z verlässt irgendwann den Drehset und folgt der Figur in ihren, nicht minder demütigenden, Alltag, in der sie ihre seelischen Verletzungen nicht heilen kann. Das Porträt wird zum psychologischen Thriller, der mit bekannten Elementen wie der Farbe Rot oder einem immer wieder kehrenden Hotelflur, Akzente setzt.

Gerade in diesen Tagen wurde im Fernsehen „Meine schöne innere Sonne“ mit Juliette Binoche ausgestrahlt (Regie Claire Denis). Der Casting-Director heißt Stéphane Batut. Zu seiner Filmografie gehören unter anderem „Den Menschen so fern“ (David Oelhoffen) und „Der Fremde am See“ (Alain Guiraudie). Jahrgang 1968, war Batuts erster Film in der Position „Ich und meine Liebe“ (im Original „Comment je me suis disputé … ma vie sexuelle“) von Arnaud Desplechin. Mathieu Amalric gewann damals den „César“ als bester männliche Nachwuchsdarsteller. Nun hat Batut seinen ersten Spielfilm als Regisseur gedreht, mit Thimotée Robart und Judith Chemla in den Hauptrollen, den er letztes Jahr im ACID-Programm von Cannes vorstellte. Das Casting übernahm übrigens Alexandre Nazarian und Judith Fraggi. „Vif-argent“ lautet der Originaltitel und „Burning Ghost“ heißt er bei den internationalen Festivalauftritten. Es ist eine Geistergeschichte. Juste heißt der junge Mann, der selbst nicht so recht weiß, wer er ist. Er wandert durch die Straßen von Paris und geleitet Sterbende auf ihrer letzten Reise ins Jenseits. Dabei wandelt sich die Umgebung nach den Erinnerungen der frisch Verstorbenen. So sind wir mal an einem See oder in den verschneiten Bergen. Wer Juste aber ist, was seine Identität ausmacht, ihn geformt hat, das bleibt ein Geheimnis. Scheinbar könnte es Agathe aufdecken. Sie erkennt ihn wieder, ohne dass er weiß, was sie verbinden könnte. Einfach macht es Batut dem Publikum nicht. Die traumhaften Bilder und Szenenwechsel sind noch einzuordnen, aber die Annäherung zwischen dem Geist, der noch eine zweite Chance auf ein Leben haben möchte, mit einer Frau, von der wir ebenso nicht sehr viel wissen, setzen auf eine wehmütige Romantik. Zwischen den zwei Polen wechselt die Stimmung, die mehr auf die Bildsprache setzt, als auf Worte. Vieles wird so vage und geheimnisvoll gelassen. Darauf muss man sich einstellen. 

Zwei Dokumentarfilme möchte ich diese Woche vorstellen. „972 Breakdowns – Auf dem Landweg nach New York“ heißt der eine. Im Idealfall hat Reisen den Effekt der Grenzerfahrung, auch was das eigene Wesen anbelangt. Reisedokumentationen gibt es immer wieder und jede davon ist bestrebt, einen inneren Kern aufzudecken. In Halle machten sich 2014 fünf junge Menschen auf, mit einer Reise etwas zu erleben und zu erlernen, was ihnen ihr Studium nicht geben konnte. Die fünf studierten in Halle in der Burg Kunst. Als angehende Bildhauer und Bildhauerinnen haben sie jedoch erst einmal einen Führerschein gemacht und sich dann alte russische Motorräder und Beisitzer zugelegt. So ist das Herzstück dieser Dokumentation eigentlich die Ural 650. Ein Gefährt, das im Osten überall präsent ist, für das es überall Ersatzteile gibt, das man einfach reparieren kann. Ja, diese Marke bleibt gerne und oft auf der Strecke und so wurde es zum Eisbrecher. Johannes Fötsch, Kaupo Holmberg, Anne Knödler, Efy Zeniou und Elisabeth Oertel lernten unwegsames Terrain und hilfbereite Menschen kennen. Sie waren über drei Jahre unterwegs und landeten dann tatsächlich, immer Ostwärts, in New York. Aus dem Off erzählen sie abwechselnd. Es gab an die 500 Stunden Material, aufgenommen mit Spiegelreflex-, GoPro- und Drohnen. Getaktet wird die Dokumentation von den unzähligen „Breakdowns“, wobei die Montage, Regisseur Daniel von Rüdiger kümmerte sich auch um den Schnitt, dem Fluch des Abzählens immer wieder ausweicht. Trotzdem würde man gerne hier und da mehr von Land und Leute erfahren. Aber wie das so bei vielen Reise-Projekten ist, der Film ist nur eine Ausdrucksform. Ein Buch wurde gleich mit gedacht.

Ursprünglich sollte „Uferfrauen – Lesbisches L(i)eben in der DDR“ Anfang April in die Kinos kommen. Wie ein altes Fotoalbum öffnet die Regisseurin Barbara Wallbraun, geboren 1983 in Thüringen, ein Portät über sechs Frauen, die von ihren Erfahrungen und ihrem Leben in der DDR berichten. Auch wenn ein Coming Out erst spät erfolgte, die Frauen waren teilweise auch verheiratet, hier geht es um lesbisches Leben. In der DDR war Homosexualität nicht verboten, aber es war nicht sichtbar, man redete nicht darüber. Die Entdeckung der eigenen Identität war für die Frauen mit Hürden gespickt, die dem Persönlichen auch eine gesellschaftliche Relevanz gab. Ein Schwenk auf das Sichtbarmachen, auf ein aktives Handeln erfolgt im chronologischen Verlauf der Porträts erst spät. Man lernt diese Frauen aus unter anderem Rostock, Halle und auch aus Berlin zuerst von ihrer privaten Seite und mit ihren eigenen Worten kennen. Überhaupt gibt sich die Regisseurin und an ihrer Seite Anne Misselwitz und Julia Hönemann an der Kamera zurückhaltend und hört den Frauen einfach zu, während sie erzählen. Alte Photos und ein paar Animationen verknüpfen die Vergangenheit mit den Aufnahmen. Das Persönliche steht stets im Vordergrund, das Persönliche steht hier aber für viele Schicksale. In Hamburg gewann der Film bei den Lesbisch-Schwulen-Filmtagen 2019 den Publikumspreis.

Ein kurzer Hinweis in eigener Sache: Die nächste Ausgabe der Cinearte folgt am 10. September 2020.

 

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