Kino in Zeiten von Corona 11

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Aus aktuellem Anlass zeigt Salzgeber Raoul Pecks „I Am not Your Negro“ von 2016. Die „beißende Analyse der Repräsentation von Afro-Amerikanern in der US-Kulturgeschichte“ war für einen „Oscar“ nominiert. | Foto © Salzgeber

Die Kinostarts und Streams der Woche.

Vorige Woche hatte ich von der Einladung zur ersten Pressevorführung nach der Schließung der Kinos erzählt. In Berlin wäre der Termin heute gewesen. Die Vorführung wurde jedoch abgesagt. Präziser, sie musste abgesagt werden, wenn ich das richtig verstanden habe. Nur in Hamburg, wo bereits Kinos wieder geöffnet wurden, darf auch eine Pressevorführung stattfinden. In Berlin öffnen die Filmsäle erst ab dem 30. Juni. Ein Kino, das vor diesem Termin den Betrieb aufnimmt, kann mit einer saftigen Strafe, bis zu 10.000 Euro, rechnen. Zwar hätten sich die entsprechenden Kinos bemüht, herauszufinden, ob für journalistische Veranstaltungen der Betrieb erlaubt wäre, aber man habe keine gültige Antwort bekommen. Die Kinobetriebe und Verleiher haben bereits mehrfach kommuniziert, was sie brauchen, um zu spielen (Vorlauf, Planungssicherheit etc.), dazu gehört auch Marketing und Presse. Jetzt sitzen Filmkritiker und Filmkritikerinnen zwar zu Hause und streamen, was die Leitung hergibt, aber machen wir uns nichts vor: Filme gehören in der Regel auf die Leinwand und auch wenn einige von uns noch zögern (ich gebe zu, ich gehöre dazu) wollen wir irgendwann wieder zurück und die Filme wirklich so sehen, wie sie zu sehen sein sollten. Doch auch wir haben Vorlauf, einige mehr, andere weniger. 

 

Der 4. Juni 2020 ist nun endlich ein Starttag. Heute kommen Filme ins Kino und nicht nur in Autokinos oder auf Freiluftleinwände. Auch wenn von bundesweiten Starts nicht die Rede sein kann, war dieser Donnerstag zumindest dem Anschein her ein Tag mit einen nennenswerten Startplan. Capelight Pictures startet mit der koreanischen Komödie „Rettet den Zoo“, und Splendid bietet den Kinder- und Animationsfilm „Mina und die Traumzauberer“.

Aus Deutschland kommt die Beziehungskomödie „La Palma“. Verleih ist Four Guys Film Distribution. Irrtümer und Fehler, das birgt Streitpotenzial. Zwischen Markus (Daniel Sträßer) und Sanne (Marleen Lohse) knistert es nicht, sondern es schwelt. Eine Auszeit vom Alltag soll die angeknackste Beziehung auf die Bewährungsprobe stellen, doch schon am Anfang läuft alles schief. Der Klassiker: Sie sind statt auf Las Palmas in La Palma gelandet. Seine Schuld. Der Regisseur Erec Brehmer verschont das Publikum mit eventuellem Kleinkrieg, kann sich ja jeder selbst denken. Aber es geht ans Eingemachte. Schaffen die beiden das mit ihrer Beziehung oder doch nicht? Es bietet sich eine Möglichkeit, wieder zueinander zu finden. Andere deutsche Filme machen da ein therapeutisches Ding draus, gemeint ist das Rollenspiel. Nicht so hier, das Rollenspiel kommt leicht und mit Humor daher und ist immer im Fluß. Markus fängt damit an, aus heiterem Himmel. Er stellt sich als Pablo vor, und Sanne ist seine Alba. Spanisch können sie beide nicht, aber vor anderen Deutsch sprechenden Inselurlaubern kann man ja so tun. Markus wächst als Pablo über sich selbst hinaus und bietet neue Facetten seiner Persönlichkeit. Sanne mag erst nicht und zieht dann doch mit. Sie nehmen das Rollenspiel nicht allzu ernst und manchmal nervt es sie auch. Mit dem Rollenspiel kommt eine neue Freiheit auf. Freiheit bedeutet hier Freiheit von Verhaltensmustern, Freiheit vom Alltag, dazu noch vor der romantischen Kulisse der Insel. Aber. Ganz so einfach ist es doch nicht. Also, werden sie ein Paar bleiben? Ob man den beiden eine Chance gibt, hängt auch stark davon ab, wie man die beiden aus eigenen Erfahrungen heraus einschätzt.
Es ist Erec Brehmers Abschlußfilm an der HFF München. Gedreht wurde bereits Ende 2017. Voriges Jahr stellte er den Film auf dem Max-Ophüls-Festival vor. Bei den Grenzland-Filmtagen in Selb gabs für „La Palma“ den Publikumspreis. Der ursprüngliche Starttermin im vorigen Herbst wurde verschoben, am 2. April war ein Start nicht mehr möglich. Länger will man nicht warten. „La Palma“ ist einer der ersten Filmstarts der Lockerungszeit.

Ein weiterer Start-Kandidat wird von DCM verliehen: „Monos – Zwischen Himmel und Hölle“. Hier gibt es weites Land, zerstörte Steinbrüche, Regenwald, viel Gewalt, kaum Hoffnung. Eine Gruppe jugendlicher Rebellen soll auf eine Kuh und eine amerikanische Gefangene aufpassen. Alejandro Landes, der in Ecuador und Kolumbien aufgewachsen ist, drehte im Nationalpark Páramo de Chingaza, im Regenwald und auf dem Fluss Samaná. LaiendarstellerInnen spielen die Kindersoldaten, die sich unter anderem Boom Boom und Rambo nennen. Der Bezug zu „Herr der Fliegen“ ist nicht zu übersehen. In Sundance gewann Landes den Special Jury Award, Kolumbien schickte den Film, der von Deutschland (Pandora Film) koproduziert wurde, ins Oscar-Rennen. Der ursprüngliche Start war am 2. April 2020. Die Drehorte sind so gewaltig, dass ein Kinobesuch angeraten wird.

Ursprünglich am 19. März sollte eine Musikdokumentation über die Leinwände flimmern, die besonders für eine jüngere Generation eine Lücke in der Abfolge der vielen Musikdokumentationen füllen sollte: „Suzi Q“. Suzi Quatro wuchs in einer musikalischen Familie auf, zusammen mit ihren Schwestern waren sie die Pleasure Seekers, und sie tourten, obwohl noch minderjährig, nicht nur durch ganz Amerika. Sie bekam von ihrer Schwester den Bass zugewiesen und das passte. Sie wußte bald, dass sie ihr Leben mit der Musik verbringen wollte. Sie stammt aus Detroit, aber erst, als sie als einzige einen Vertrag bekam und alleine in London lebte, wurde sie zu Suzi Quatro. Die Hits folgten nach langer Anlaufstrecke in den 70ern. In Großbritannien, in Deutschland („Bravo-Starschnitte“ inklusive), in Australien. Nicht so in den Staaten. „Suzi Q“ ist eine australische Produktion, der Regisseur Liam Firmager lässt sie selbst zu Wort kommen und bindet auch ihre lyrischen Werke, ihre Gedichte mit ein. Das Apropos ist sicherlich, dass sie 2019 ein neues Album veröffentlicht hat und wieder auf Tour geht. Doch es geht nicht nur um ihre Person. Ihre Vorreiterrolle als Frau in einem Business, das traditionell Männer in den Mittelpunkt stellt, wird vermittelt. Joan Jett zum Beispiel, in den Staaten bald bekannter als Suzi Quatro, war ein glühender Fan, und erzählt hier so einige Anekdoten. Warum war Quatros Erfolg in den Staaten ein anderer? Wenn man genau hinhört, hört man die schmerzhaften Teile ihrer Biografie sehr wohl heraus. Gerade das Verhältnis zu ihrer Familie zeigt die Brüche im Lebenslauf. Zuerst in den Autokinos und jetzt ab dem 4. Juni wird Arsenal Film „Suzi Q“ endlich einsetzen können. In den Staaten, wo sie weitgehend vergessen wurde, wird dieser Film wohl im Juli ins Kino kommen.

Ein Filmtip der Berlinale 2019 war „Eine Geschichte von drei Schwestern“ von Emin Alper (“Hinter dem Berg“). Der türkische Beitrag im letztjährigen Wettbewerb ist eine Koproduktion mit der deutschen Komplizen Film. Darin erzählt Alper von dem eben nicht selbstbestimmten Leben von drei Frauen in einem anatolischem Dorf. Alle drei hatten das Dorf verlassen, arbeiteten in der Stadt als Dienstmädchen oder Kinderfrau oder waren, im Fall des jüngsten Mädchen Pflegekind. Wir erfahren, warum sie zurückkehren mussten und erleben dann, wie das patriarchale System ihr Schicksal bestimmt. Die Bildsprache (Kamera: Emre Erkmen) gibt der bedrückenden Stimmung eine märchenhafte Note, ohne dabei die Härte des Lebens der Frauen zu verklären.

 

Es geht natürlich auch mit den Streaming-Tipps weiter. Und zwar hat Grandfilm zeitgleich zu „Eine Geschichte von drei Schwestern“ einen weiteren Emin Alper-Titel auf seinem On-Demand-Channel platziert: „Abluka – Jeder misstraut jedem“, der Filmstart war im September 2017 gewesen. Jeder misstraut jedem in einer Welt der Bespitzelung und Reglementierung. Nach 20 Jahren Haft wird Kadir (Mehmet Ozgür) freigelassen und soll fortan Hinweise auf terroristische Aktivitäten sammeln, was er mit wachsender Paranoia tut. Emin Apler drehte den psychologischen Thriller noch vor dem Putsch 2016. Der Schauplatz ist Istanbul, doch die Mechanismen von Misstrauen und Verrat sind allgemeingültig.

Eine „andere Wirklichkeit“, „Another Reality“, will der deutsch-schweizerische Dokumentarfilm des Regiduos Noël Dernesch und Oliver Waldhauer vermitteln. Gemeint ist das, was man „Parallelgesellschaft“ nennt. Über drei Jahre lang haben sie fünf Deutsche mit sogenanntem Migrationshintergrund durch ihren Alltag begleitet, hauptsächlich in Berlin und Essen. Gemeinsam ist den Protagonisten, dass sie sich zwar als Deutsche verstehen, was einen Deutschen, offensichtlich „ohne Migrationshintergrund“, verwundert, der auch gleich anmerkt, dass Deutsch sein auch heißt, die Werte zu teilen. Die Regisseure halten sich nicht mit Staatsangehörigkeiten auf, sie vermitteln überhaupt sehr wenig Einordnung, sondern geben den Männern eine Plattform. Diese erzählen dann von ihren Verpflichtungen innerhalb ihrer Familien, womit Großfamilien gemeint sind, und ihrem kriminellen Werdegang und ihrem Bestreben, in die Legalität zu wechseln. Die Weltpremiere feierte der Film, auf dem Dokfest München 2019 und dort bekam er auch den Publikumspreis. Noch bis zum 6. Juni steht der Film zur Online-Leihe auf Kinoflimmern bereit, was per Pressemitteilung erst am 2. Juni raus ging. Aber nach der On-Demand-Phase soll der Film demnächst, Datum noch unbekannt, einen regulären Filmstart bekommen. 

Grandfilm als Grandfilm & Friends stellt diese Woche den argentinischen-österreichischen Film „Parabellum“ vor. Wie üblich auf ihrem Vimeo-Channel, in dem Fall allerdings nur mit englischen Untertiteln. wobei der Film praktisch ohne Dialoge auskommt. Aber es sind die tableauhaften Bilder, die hier hängen bleiben. Nicht so sehr Dialoge und auch nicht Handlungsstränge. Überhaupt ist es schwierig, den Film auch nur annähernd neutral nachzuerzählen, wenn man es denn überhaupt versuchen wollte. Immer wieder gibt es Sprünge und Widerstände und das Publikum wird deutlich auf Distanz gehalten. In Argentinien bricht die Endzeit aus. Kontinuierlich gibt es Einschläge aus dem Himmel und die Leute fangen an Supermärkte zu plündern und sich in Straßenschlachten zu verfangen. Die Dystopie bleibt als Grundlage auf der diverse Figuren agieren. Geschäftsmänner und Hausfrauen brechen auf eine Reise durch das Land auf, um dann im Tigre-Delta in einem Überlebenscamp sich auf das Ende der Welt vorzubereiten. Ob sie diese Ende überhaupt überleben möchten, da ist man sich manchmal nicht so sicher. Regie führte Lukas Valenta Rinner, der Salzburger wanderte nach Argentinien aus und studierte dort Regie. Bekannt geworden ist er unter anderem mit dem Film „Die Liebhaberin“. „Parabellum“ ist sein Debütfilm, mit dem er damals auch die Aufmerksamkeit des Branchenblattes Variety auf sich gezogen hatte.

Der Salzgeber Club setzt jetzt im Juni eine Reihe mit jüdischen Filmen an. Gerade erst wurde die Mini-Serie „Unorthodox“ auf Netflix ausgestrahlt. Ab heute kann man zwei Filme der Regisseurin Alexa Karolinski leihen oder kaufen, die bei der Serie als Co-Autorin dabei war. Dabei handelt es sich um den Titel „Oma & Bella“ aus dem Jahr 2012 und um „Lebenszeichen – Jüdischsein in Berlin“ von 2017.
In „Oma & Bella“ (der Dokumentarfilm lief damals auf der Berlinale in der Sektion Kulinarisches Kino) stellt Karolinski ihre Großmutter Regina Karolinski vor. Geboren wurde Oma Regina 1927 in Kattowitz. Von den Nazis wurde sie in ein Arbeitslager im damaligen Sudetenland deportiert. Ursprünglich wollte sie nach dem Krieg in die USA emigrieren, blieb dann aber doch in Berlin. Besonders die Erzählungen von der Zeit nach dem Krieg sind spannend. Mit dabei ist Bella Katz, die 1923 in Vilnius geboren wurde. Ihr war die Flucht aus dem Ghetto in die Wälder gelungen, wo sie sich der Widerstandsbewegung anschloss. Oma und Bella leben in einer WG zusammen, seitdem Bella zuerst zu Regina zog, um sie nach einer OP zu unterstützen. Das Kochen ist eine Leidenschaft, die sich beide teilen und so geht es denn auch unter anderem um die jiddische Küche.
Nachdem Alexa Karolinski in „Oma & Bella“ ihre Großmutter in den Fokus gerückt hatte, spricht sie in „Lebenszeichen – Jüdischsein in Berlin“, also dem zweiten Teil über jüddisches Leben in Deutschland, mit Verwandten, Freunden und unter anderem Historikern und spürt so dem Leben und der Geschichte in Berlin nach. Unter anderem redet sie mit ihrem Bruder, der nachvollziehbar den Zwiespalt erklärt, zum Beispiel in einem deutschen Fußballstadion zwischen Deutschen zu sein. Karolinski bringt persönliche Ansätze in ihre Recherche ein, und spürt auch den Erinnerungen im Stadtbild und der Bewohner nach.
Aus aktuellem Anlass, „In Solidarität mit George Floyd und allen anderen Opfern rassistisch motivierter Gewalt in den USA“ stellt Salzgeber noch den Film „I Am not Your Negro“ auf ihren Club-Channel zur Verfügung, wo er für einen symbolischen Euro geliehen werden kann. Regisseur Raoul Peck greift in einem dicht arrangierten Essay die Worte des Schrifstellers James Baldwin auf, um nicht nur die Ära der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in Wort und in Filmausschnitten aus Film und TV zu vermitteln, sondern um etwas über den Zustand Amerikas in den 30ern bis in die 70er und bis in die Jetztzeit auszusagen.

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