Gedanken in der Pandemie 85: Der Kontrollverlust

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Bei den Infektionszahlen macht Deutschland nicht die beste Figur – zumindest im Vergleich zu Ländern in Südostasien, die hart in die Privatsphäre eingreifen. | Screenshot/Johns Hopkins University

Wartet, wartet, nur ein Weilchen … Aussitzen, Lockdown-Jo-Jo und hoffen auf den Impfstoff: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 85.

„Macht- und Herrschaftsverhältnissen ist in unterschiedlichem Ausmaß das Scheitern immanent. Es gibt immer etwas, das ihnen entgeht.“
Isabell Lorey, „Figuren des Immunen“ 

„Also erstmal von den Zahlen her: Das ist alles unter ein Prozent.“
Markus Söder am 12. November 2020 bei „Markus Lanz“, gefragt zu den Zahlen der nach Hause geschickten Schüler, wie zu denen der Corona-Toten.

„After 2 weeks of multiple health screens and asking everyone to quarantine, I surprised my closest inner circle with a trip to a private island where we could pretend things were normal just for a brief moment in time.“
Kim Kardashian 

 

Am Morgen höre ich als erstes Jens Spahn im Radio. Er spricht von den Problemen im Bereich der Pflege, davon, dass die Honorare zu schlecht sind, und dass die Pandemie jetzt ein Verstärker des früheren Versagens im Bereich der Pflege sei. Da hat der Mann recht, denke ich. Vielleicht sollte er mal dem Gesundheitsminister einen Brief schreiben mit seinen Verbesserungsvorschlägen […].

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Man sagt immer, die Lage sei nicht mit dem Frühjahr vergleichbar. Das stimmt. Auch für die Bevölkerung. 

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Die Tatsache, dass es in anderen Ländern noch schlechter läuft, heißt nicht, dass es bei uns gut läuft. Die Tatsache, dass manches bei uns bisher ganz gut gelaufen ist, heißt nicht, dass man es nicht noch besser machen könnte und bisher hätte besser machen können. 

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Am Montagabend, wenn ihr den nächsten Newsletter bekommt, dann ist die Presse-Konferenz der Ministerpräsidenten in Berlin zu Ende. Dann werden wir gehört haben, dass es erstmal keine Lockerungen gibt. Wenn wir Glück haben, werden wir da noch nicht gehört haben, dass der Lockdown „Light“ über den 30. November hinaus werden verlängert wird.

Rhetorisch werden wir auf die Verlängerung eingestimmt. Vom Dreyer bis Söder, von Schwesig bis Kretschmer. Wartet, wartet, nur ein Weilchen …

Die Regierenden verweigern sich der Möglichkeit, der Bevölkerung eine Perspektive zu geben und der Bevölkerung Licht am Ende des Tunnels zu zeigen.

Die Frage bleibt: Wie lange soll das gehen?

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Mit immer mehr Härte und immer mehr drakonischen Maßnahmen verschleiert die Regierung ihren Kontrollverlust. Sie verschleiert ihre Ratlosigkeit. Sie verschleiert, dass ist keine Strategie gibt und leider Gottes noch nicht mal eine Taktik. Das heißt: Man hat sich eben nicht vorbereitet auf Eventualitäten. Man hat zwar von einer zweiten Welle schwadroniert, hat die Lauterbachs aller Parteien und seine Hofvirologen vorgeschickt, man hat in den Umfragen mit markigen Sprüchen Punkte gewonnen, aber man hat de facto nicht genug getan für das, was mit Ansage gekommen ist – egal wie man das jetzt tatsächlich einschätzt. Aber gerade wenn die Pandemie angeblich doch „eine Jahrhundertaufgabe“ ist, stellt sich die Frage, warum man dann seit Mai nicht die ganze Anstrengung auf die Pandemie Bekämpfung gelegt hat? 

Kontrolle ist Aufgabe der Politik. Sie hat sie aus eigener Schuld verloren. Die Politik trägt ihre eigenen Versäumnisse auf dem Rücken der Bürger aus. Genauso ihre eigene Unsicherheit. Genau sie ihre eigene Ratlosigkeit.

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Lockdown allen Ernstes, um das deutsche Weihnachten zu schützen – den Infektionsherd Nummer 1. Wenn sich die Familien dann treffen nach einem langen Lockdown, wird  endlich die Sau rauslassen und es geht wieder hoch hier. 

Schon jetzt geht alles weiter hoch her, weil die Lokale und Kultureinrichtungen nicht die Ursachen und nicht die Verbreitungsorte der Pandemie sind. Dies sind Familienfeiern. Und die kann man nicht kontrollieren. Hier kann man nur die Bürger überzeugen. Und genau diese Überzeugung gelingt den Regierenden immer weniger.

Der Kontrollverlust der Politik liegt darin, dass sie keine Kontrolle über ihre eigenen Emotionen hat. Dass sie Handlung simulieren will, obwohl sie schon längst nicht mehr handelt, sondern getrieben ist. Und doch irgendetwas tut, nur um nicht nichts zu tun.

Statt sich alle zwei Wochen zu treffen und sich zu überlegen, ob man Restaurants jetzt endlich ganz zu macht oder nur bis 23 Uhr oder vielleicht bis 21Uhr, sollte die Politik sich vor allem damit beschäftigen (das gilt insbesondere für die Bundespolitik), wie man die Schlagzahl des öffentlichen Nahverkehrs erhöht, um auf vollen Bussen halbvolle zu machen. Wie man die Bundeswehr einsetzt und die Polizei, nicht um Bürger zu kontrollieren, sondern Bürgern dabei zu helfen, ihre Kinder in die Schule zu bringen, zur Arbeit zu bringen. 

Polizei und Bundeswehr müssen endlich wirklich zum Freund und Helfer werden und nicht zum Träger staatlicher Gewalt gegen mindestens Teile der Bürger. Genau das sind sie im Augenblick, und ob zu recht, lassen wir mal dahingestellt. Das entscheiden nicht wir, und nicht die Polizei sondern die Gerichte. 

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Was wir jetzt erleben, wird sich unabhängig davon wie sich die Zahlen von Tag zu Tag in den nächsten Wochen entwickeln, nicht etwa als die Wiedergewinnung der Kontrolle der Politik erweisen, sondern als der vollständige Verlust der Kontrolle. Als das Scheitern jener Politik, die die Regierung Merkel seit Anfang Pandemie propagiert hat. 

Eine Politik des Gängelns der Bevölkerung. Eine Politik des „Zügelanziehens“. Eine Politik von oben herab. Die Bevölkerung wurde auch im Frühjahr nicht wirklich mitgenommen, sie wurde in einen Schockzustand versetzt, in dem sie zunächst einmal gehorsam agierte. Das löste sich aber bereits nach vier bis sechs Wochen zunehmen auf und mündete in die sogenannten Hygienedemos.

Wir erleben eine Politik, die nicht diskutiert und nicht überzeugt, sondern die dekretiert und verordnet. Ausgerechnet die Judikative, die Justiz und das Recht entwickeln sich zum Hort des Widerstand. Das ist nicht nur absurd. Sondern es ist auch Demokratie-schädlich, weil es das Vertrauen in die Maßnahmen der Politik und ihre Richtigkeit grundlegend untergräbt. 

Dabei ist diese Richtigkeit grundsätzlich durchaus gegeben. Vor allem das Verfahren und die Kommunikation sind falsch, nicht alle Maßnahmen.

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Der deutsche Corona-Selbstbetrug“ heißt ein Beitrag von Maximilian Kalkhof auf dem Nachrichten-Portal von T-Online. Die Behauptung, in der Corona-Bekämpfung „erfolgreicher als die anderen“ zu sein, die unsere Regierung so oft wiederholt, dass man sie inzwischen auch in privaten Gesprächen dauernd hören kann, ist vor allem ein Mantra der Selbstberuhigung. Sozial sinnvoll und befriedigend, wissenschaftlich unhaltbar. 

Das, was Deutschland tatsächlich selbst noch immer glaube, nämlich besser als andere durch die Pandemie zu kommen, stimme, schreibt der Autor, nur im Vergleich zu jenen Ländern, die im Kampf gegen Corona versagen – den westlichen demokratischen Nationen, wie den USA, Frankreich und Großbritannien und anderen Verlierern der Pandemie. „An den erfolgreichsten Staaten gemessen, ist die Bilanz ernüchternd.“ 

Blickt man auf die Statistiken der Webseite „Our World In Data“ an, wird man schnell entdecken: Seit Mitte März, also seit Beginn der ersten Welle, macht Deutschland konstant in Bezug auf die tägliche Zahl der bestätigten Neuinfektionen je einer Million Menschen eine schlechtere Figur als Süd-Korea, Taiwan, Vietnam und China. Auch viele Länder in Afrika haben die Pandemie in den Griff bekommen, Kenia, Ghana und Ruanda zum Beispiel. 

Und das trotzdem Deutschland viel reicher ist als jeder der hier genannten Staaten. 

Die Sterblichkeitsrate, die ja von de Fans der deutschen Maßnahmen immer gern zum einzige Maßstab erhoben wird, ist in Deutschland mehr als 100 Mal höher, als in Taiwan und mehr als zehn Mal höher als in Süd-Korea.

Aber daraus will man hierzulande nichts lernen. Man müsste nämlich ein paar goldene Kälber opfern: Nötig wäre vor allem konsequente digitale Kontaktverfolgung. Dazu großflächiges Testen. Sowie Schnell-Tests vor Fliegern, Zügen, Fußballstadien, Konzerthallen, Kinos, und Altenheimen. Zu zahlen natürlich von jenen, die diese Orte besuche wollen. Dazu eine strikte, kontrollierte und strafbewehrte Quarantäne für alle positiv Getesteten. 

Dann müsste man nicht alle Gesunden in einem Verdachtslockdown einpferchen. 

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68 Millionen Euro hat die deutsche Corona-App gekostet. Sie kann nichts, das liegt auch am strengen Datenschutz. Allerdings bringen die Apps in unseren Nachbarländern, wo weniger Datenschutz herrscht, auch nicht besonders viel. Zumindest haben wir von der tollen App in Spanien oder Frankreich noch nichts gehört. Aber man müsste noch einmal überprüfen, was Korea wirklich anders macht.

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Bereits im März schrieb der langjährige China-Korrespondent und Pulitzer-Preisträger Ian Johnson in der „New York Times“ einen Artikel, in dem er sich fragte, warum der Westen in den zwei Monaten, die die Seuche gebraucht hatte, um sich von China in den Westen zu verbreiten, nichts aus den dortigen Erfahrungen gelernt habe. Seine Antwort: Der Westen nehme China als so „anders“ wahr, dass er nicht sehe, dass man von dem Land lernen könne. Ein ähnliches Wahrnehmungsmuster gilt für ganz Asien.

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Vor knapp zwei Wochen gab es die Nachricht von den landesweiten Massentests in der Slowakei. Eigentlich keine dumme Idee: Die Armee richtete rund 5.000 Abnahmestellen ein, unter anderem in Schulen und Rathäusern. Verwendet wurden Antigen-Schnelltests, die in bis zu 30 Minuten ein Ergebnis liefern. Eine zweite Testrunde folgte am 7. und 8. November. Die Teilnahme war freiwillig. Aber sanften Druck gibt es doch. Denn nur, wer einen negativen Test vorweisen kann, wird von den geltenden Ausgangsbeschränkungen ausgenommen. 

Was aus alldem jetzt geworden ist, hat man leider noch nicht gehört. Auf die Bundesrepublik kann man das Muster nur schwer übertragen, denn die Slowakei hat nur knapp 5,5 Millionen Einwohner. 

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Auch Afrika ist erfolgreich. Die WHO lobt jetzt Afrikas Einfallsreichtum. Vor allem aber ist Corona ein Klassenphänomen. 

Die UNO erklärt bereits heute ziemlich klar: In Allem, was wir in den letzten 30 Jahren in den armen Ländern der Welt aufgebaut haben, Systeme zur bessern Versorgung und Lebenserhaltung, sind wir durch Corona wieder auf den Stand von vor 30 Jahren zurückgeworfen. Die Armen werden in dieser Pandemie in großer Zahl sterben.

Auf die Elite der Superreichen und Celebrities unseres Wohlstandswestens blickt der Guardian. Sie seien die einzigen, die auch im Ausnahmezustand Normalität leben könnten. 

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Vielleicht ist die Bundesrepublik so etwas wie die Kim Kardashian unter den Staaten. Uns geht’s einfach gut, wir grinsen unser Olaf-Scholz-Grinsen, streicheln die Bazooka und freuen uns. Das ist nicht genug.

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Es muss an den Rest der Welt erinnert werden. Der Grüne Boris Palmer tut es. Diese Woche bei Markus-Lanz: „Das Dilemma besteht darin, dass die Lockdown-Strategie global betrachtet möglicherweise mehr Leben kostet, als sie schützt. Gemessen in Lebensjahren, aber auch gemessen in der Zahl der Menschenleben.“

Auch Palmer zitiert die UNO-Berichte. 

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Wo ist die Strategie der Regierung? Sie scheint zu lauten: Aussitzen. Bis dahin Lockdown-Jo-Jo und Warten auf den Impfstoff. 

Und dazu noch ein paar Blankoscheck für sich selber. Dass sich FDP und Linke mal einig sind, ist selten genug. Es passierte letzte Woche beim Versuch Jens Spahns, die eigenen Machtbefugnisse und  Sonderrechte schon mal per Gesetz zu verlängern. Das wirft vor allem Fragen auf.

Warum sollen die Vollmachten erst enden, wenn die Bundesregierung die Pandemie zu für beendet erklärt? Warum nicht automatisch? Ein solcher Gesetzesvorbehalt wäre das Mindeste. 

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Selbstkritik ist nicht gerade die Stärke der sächsischen Sicherheitsbehörden. Die schieben, wie schon am Montag geschrieben, die Fehler bei der Behandlung der „Querdenker“-Demonstration am vorherigen Wochenende komplett von der Polizei weg auf die Justiz. Inzwischen wurde allerdings sehr klar festgestellt, das Gerichtsschelte, auch unter der Gürtellinie, hier überhaupt nicht am Platz ist. Die Rechtsprechung des sächsischen Oberverwaltungsgerichts ist total im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Und das ist gut so: Im Zweifel für die Freiheit. Hätte das sächsische OVG ein anderes Urteil gesprochen, wäre es kassiert worden, und hätte dem Ansehen von Staat und Justiz nur zusätzlich geschadet. Was diesem Ansehen aber am meisten schadet, ist – dies muss hier noch mal festgehalten werden – die Taktik und die nachträgliche Abwiegelungskommunikation der sächsischen Polizei.

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Keine Corona-Krise gibt es deutschen Immobilienmarkt und auch keine Corona-Krise gibt es im Inneneinrichtungsmarkt, also in Möbelhäusern und Baumärkten. Die Leute im Lockdown müssen sich bewegen, und bevor die Eltern anfangen ihre Kinder zu schlagen, hauen vielleicht lieber noch ein paar Nägel in die Wand.

Im Radio sprach Vermögensverwalter Stefan Riße heute über die Lage (Beginn etwa ab 2:30 min): „Das Thema Homeoffice …“ Sowieso haben Manager heute ja nur noch „Themen“, keine „Aufgaben“ mehr, und schongar keine „Probleme“. So zum Beispiel das Thema Homeoffice: „Das Thema Homeoffice wird auch in Zukunft wichtig bleiben, und das Thema private Wohnung wird auch in Zukunft immer wichtiger werden.“

Warum das? Antwort: „Je mehr ich zu Hause bleiben muss, weil ich mich vor dieser Pandemie oder weiteren Pandemien fürchte.“

Weiteren Pandemien? Eine reicht doch. Das sind ja Aussichten!

Der in Berlin eingeführte Mieten-Deckel führt, so glaubt Riße dazu, dass in Zukunft nicht mehr gebaut wird, weil sich die Leute ja nicht mehr dumm und dämlich verdienen können. „Dann ist die Nachfrage höher, als das Angebot, und das treibt die Mieten hoch“. Das Problem, dass sich die Leute die Wohnung in er Innenstadt nicht mehr leisten können, müsse aber trotzdem die Politik lösen – Klammer auf: Bis dahin verkaufen wir halt die Wohnungen an die Russen, die Araber und die reichen Amies. 

Ausgerechnet dieser Lobbyist der Heuschrecken träumt von „einer Art Bürgergeld“, das vom Staat bezahlt wird. Mit anderen Worten: Der Staat soll doch bitte die Immobilienbesitzer auch noch von der anderen Seite aus subventionieren. 

Am Ende gibt uns Riße noch etwas auf den Weg: „Und bitte eines nicht vergessen: der Zins war zwar schon niedrig, ist jetzt aber noch einmal tiefer. Und durch diese ganzen Schulden, die aufgehäuft werden für die Corona-Hilfen ist vollkommen klar: An diesem tiefen Zins hängen wir noch über viele Jahre! Anders sind diese Schulden nicht finanzierbar. Und dann wollen die Leute in Sachwerte investieren und das sind eben auch Immobilien.“

Na also! Kaufet, frohlocket!

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Es gibt ja für alles mögliche Obergrenzen. Gibt es eigentlich auch eine Obergrenze fürs Leben? Eine biologische meine ich? Zur Zeit versuchen wir, unser Leben immer weiter zu verlängern. Eine interessante Gegenposition hat der Autor dieses Textes im „Atlantic Monthly“. Er schreibt bitte lasst mich mit 75 sterben daher bitte Wissenschaftler und altersforscher ist und selber schon 58 finde ich diese provokative Aussagen relevant und denke dass er einige Argumente bringt dafür dass Leute nicht zu alt werden dafür dass Menschen nicht so alt werden sollten, über die man zumindest nachdenken kann.

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Endlich, fast zwei Wochen nach Beginn des Lockdowns liefert der Berliner Tagesspiegel den Beweis: Restaurants, Fitnessstudios und Cafés sind die fiesen Superspreader. So liest sich das im West-Berliner Käseblatt, garniert mit einem Bild vom Ost-Berliner-Hotspot: Prenzlauer Berg. Na gottseidank: Tatsächlich sind genau die Ort, die die tapfere Kanzlerin Merkel gegen alle Ratschläge geschlossen hat, wirklich die Ursprünge der Pandemie: Keine Fleischfabriken, keine Billigflieger, kein Tiroler Apres-Ski, nicht die Familientreffen zu Hause, nicht die Corona-Partys im Park, sondern das Oma-Café und das Restaurant um die Ecke. Es ist durchaus sinnvoll Restaurants zu schließen, nun wissen wir es, nun wird alles wieder gut, und Karl Lauterbach sekundiert sofort mit der denkbar sinnlosen Bemerkung: „maximal jeden fünften Tisch besetzen.“ Wie denn, wenn alles eh zu hat? „Wenn Wellenbrecher erfolgreich sein sollen, dürfen wir meines Erachtens diese Bereiche nicht voll öffnen. Wir erleiden sonst einen Rückfall.

Doof nur, dass es sich um eine kalifornische Studie handelt, die nur auf US-amerikanische Megacities und den Monaten März/April basiert und die komplett ohne europäische Daten auskommt. Dazu auch um reine Computersimulation. So kommentiert denn auch Lauterbachs Oxforder Kollege Christopher Dye: „Es handelt sich um eine Hypothese, die erst noch getestet werden muss.“

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Die Rhetorik ist immer die Gleiche, man kann sie auswendig. Wenn es irgendwo eine gute Nachricht oder optimistisch stimmende Statistik gibt, dann kommen folgende Satzbausteine zu Einsatz: „Es kann sich auch rausstellen […] Aber die Langzeitwirkungen […] Wir wissen noch gar nicht, was passieren könnte […]“

So zum Beispiel, wenn davon die Rede ist, dass die allermeisten Menschen, die infiziert sind, eben nicht im Krankenhaus landen. Und die, die ins Krankenhaus kommen, landen in der Regel nicht in der Intensivstation. Und die, die doch in der Intensivstation landen, müssen in den meisten Fällen nicht künstlich beatmet werden. Und die, die künstlich beatmet werden müssen, überleben oft. Die allermeisten, die irgendwie erkrankt sind, haben keine Spätfolgen und auch keine Langzeitfolgen. Natürlich wissen wir nicht, ob sie nicht in ein oder zwei oder fünf Jahren doch welche bekommen. Wir wissen einfach nichts über die Zukunft. 

Wir wissen aber, dass die, die im Frühjahr erkrankt sind, in den allermeisten Fällen keine Folgen davontragen. Und da hilft es auch nichts, dass wahrscheinlich jeder von uns irgendeinen kennt, der doch irgendwelche Folgen hat, vielleicht sogar schlimmer. In solchen Fällen zählt nur Statistik; es zählt nur objektive harte Realität. Mit Emotionen und gutem Gewissen kann man den Virus nicht bekämpfen.

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Besagte Satz-Bausteine hört man umgekehrt übrigens nie, wenn es in die andere Richtung geht – aber wir wissen natürlich auch nicht, was die Wirtschaftskrise kostet. 

Wer Zeit hat, kann ja mal versuchen, nachzurechnen.

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Immerhin kann man sich gut ablenken, auch was Filme angeht. Besonders empfehlen würde ich euch die Akkreditierung zum einen bei der IDFA, dem Internationalen Dokumentarfilmfestival von Amsterdam und bestem Dokumentarfilm-Festival der Welt, das am Montag beginnt, und bis zum 6.Dezember dauert. So wie bei zwei deutschen Film-Festivals: Dem ExGround-Festival in Wiesbaden, und dem Internationalen Filmfestival von Mannheim Heidelberg. 

In diesem letzten Fall bin ich nicht ganz unabhängig, weil ich für das Festival seit 18 Jahren gearbeitet habe, und dies auch in diesem Jahr getan hätte – aber durch die Pandemie ist alles anders. Nichtsdestotrotz habe ich einige Filme, die in Mannheim laufen gesehen. Auch ihr könnt sie euch alle online ansehen – und das ist besser, als immer nur Amazonetflixsky. Ich kann sie euch wärmstens empfehlen. Um zum Wochenende noch ein paar positive Dinge zu erzählen, hier meine wichtigsten Tipps: „My Mexican Brezel“, ein spanischer Film aus dem Wettbewerb, ist sensationell!!! Dies ist ein Film, den man deswegen nicht gut einordnen kann, weil er gewissermaßen das Kino ganz neu erfindet, und einen neuen ganz eigenen Typ von Film begründet. Den kann man ganz bestimmt nicht das Dokumentarfilm bezeichnen, obwohl dokumentarisches Material verwendet wird, und man kann ihn auch nur zum Teil als Spielfilm bezeichnen. Warum das so ist, darüber schreibe ich gern in einen der nächsten Blogs mehr, aber erst einmal solltet ihr diesen Film, wenn es irgendwie möglich ist, angucken! Wirklich!! 

Weitere Tips: „Tragic Jungle“ aus Mexiko, der schon in Venedig lief, und „Mamá, mamá, mamá“ von Sol Berruezo Pichon-Rivière, eine Art „Virgin Suicides“ aus Argentinien, der von der lustigen Berlinale kurioserweise in der Sektion Generation Kplus gezeigt wurde, wo Filme für Sechsjährige laufen. Er ist aber ein Film für Erwachsene. 

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