Gedanken in der Pandemie 80: Heute sind wir alle Demokraten!

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Die USA wählen. Und wer sich immer noch über das politische Klima wundert, kann ja bei „Bob Roberts“ nachsehen, was Hollywood schon vor 30 Jahren zu erzählen wusste. | Foto © Lions Gate

Gegen den Lockdown des Denkens, Voodoo-Gesundheitspolitik: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 80.

„Die erste Gestalt der Hoffnung ist die Furcht, die erste Erscheinung des Neuen der Schrecken.“
Heiner Müller, 1979

 

Alle reden über den Lockdown. Wir auch. Aber nicht nur. 

Trotzdem, da wir ja ein demokratischer, so meinungsfreudiger wie meinungsneugieriger, pluralistischer Blog sind, und uns neben den Jubelhymnen und Freudentränen auch gleich schon wieder Meckermails erreichen, erlaube ich mir, Euch, lieben Lesern, zum Auftakt gleich ein paar Fragen zu stellen: Was denkt ihr über den Lockdown? Gibt es etwas, wovor ihr Euch besonders fürchtet, was Euch besonders nervt? Oder umgekehrt: Worauf ihr Euch womöglich freut – außer dass die Infektionszahlen vielleicht sinken, und das alles wahrscheinlich dem Klima gut tut?

Was ist überhaupt vom Lockdown zu halten? Ist er wirklich nötig? Sind sich wenigstens Virologen und Epidemologen einig? Und wie sähe eine mögliche Gegenstrategie nach Euer Meinung aus? 

Das sind Fragen, die wir jeder für sich selbst, aber vielleicht auch alle gemeinsam beantworten müssen. Ihr könnt mir Eure Gedanken unter (Aktiviere Javascript, um die Email-Adresse zu sehen) gerne zumailen – Vertraulichkeit und Anonymität sichere ich gerne zu, genauso, dass alles in meine Gedanken hier einfließen wird. 

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Es gibt auch einen Lockdown des Denkens. Das meinen nicht nur wir, sondern unter anderem Boris Palmer, immer noch Mitglied der „Grünen“ und Oberbürgermeister von Tübingen. In einem heute erschienenen Essay für die „Welt“ übernimmt er die Ansichten führender Virologen, nach denen wir „mit dem Virus leben“ müssen – was immer das heißt. 

Seiner Meinung nach müssen wir die neuen Corona-Maßnahmen nicht akzeptieren, sondern sollten mit den modernsten Waffen gegen die Pandemie vorgehen. 

Palmer empfiehlt, sich am Beispiel Taiwan und Südkorea zu orientieren: „Taiwan ermittelt für jeden Infizierten rund 30 Kontaktpersonen, die in strenge Quarantäne geschickt werden. Bei uns ermitteln die Gesundheitsämter mit ihrer Zettelwirtschaft etwa drei Kontaktpersonen, und das meistens, wenn das Virus schon weitergegeben wurde. Taiwan hat dieses Jahr 340.000 Menschen in Quarantäne geschickt und damit ein normales Leben mit Wirtschaftswachstum für 23 Millionen Bürger gesichert. Südkorea ist ähnlich konsequent und erfolgreich.

Genutzt werden in beiden Staaten (sprechen wir es ganz offen an) Instrumente des Überwachungsstaates. Quarantäne wird durch GPS-Verfolgung kontrolliert. Für die Kontaktermittlung sind Handydaten genauso offensiv im Einsatz wie die von Kreditkarten. Die deutsche Corona-App schützt im scharfen Kontrast dazu zwar unsere Daten, aber nicht vor dem Virus.“ 

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Und weiter: „Das sind nur die zwei offensichtlichsten Alternativen, die in der Debatte ausgeblendet werden. Schwedens Weg könnte sich schon in wenigen Wochen als der bessere erwiesen haben, falls die kontrollierte Ausbreitung im Sommer dem Land den Lockdown und den Kollaps des Gesundheitssystems im Winter erspart. In Afrika scheint Corona geradezu auszutrocknen. Das Phänomen nehmen wir kaum zur Kenntnis, obwohl es wie Schweden, Taiwan oder Südkorea Fragen für unsere Strategie aufwirft.“

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Bei uns dagegen werden in bester Tradition des Obrigkeitsstaates – die die deutsche Gesellschaft eben nie ganz abgeworfen hat – Debatten verhindert, Kritiker in soziale und politische Abseits gestellt, alternative Strategien nur als Verunsicherung wahrgenommen und daher von auch von den sehr an Sicherheit interessierten öffentlichen Medien und viel gelesenen Zeitungen oft nicht zur Kenntnis genommen oder sogar – Vorsicht Verschwörungstheorie – bewusst totgeschwiegen.

Vor allem die Gouvernanten-Tante „Zeit“ ist im Augenblick Angela Merkels beste Assistentin. Darüber ein andermal mehr. 

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Zur Ideologie dieser Tage gehört, dass man bei 75 Prozent aller Infektionen mit Corona einfach nicht weiß, wo sie stattfinden. Man weiß aber, dass 25 Prozent aller Fälle vor allem in Privatwohnungen, auf Reisen, und auf der Arbeit stattfinden, und jedenfalls nicht in Kinos und Gastronomiebetrieben. Daraus schließt die Regierung nun, dass die 75 Prozent Unbekannte vermutlich im Kinos, Theatern, Museen und Gastronomiebetrieben stattfinden, außerdem im Schwimmbad und auf Sportplätzen. Darum macht sie genau diese zu. 

Ideologisch daran ist zum einen, dass die Regierung ihr Nichtwissen einfach nicht eingestehen möchte. Zum zweiten, dass das Einzige was an dieser belegten und unbestrittenen Zahlen-Zusammenstellung sicher ist, kaum zum Thema gemacht wird: Die Tatsache nämlich, dass die Regierung nach Aussage der Kanzlerin in 75 Prozent der Fälle einfach gar keine Ahnung hat, wo eine Infektion stattfindet.

Und dass sie sich mit der Schließung der Kulturstätten, Sportstätten und sogenannten Freizeiteinrichtungen (wie Bordellen) komplett auf Vermutungen verlässt – beziehungsweise dort schließt, wo sie den geringsten Widerstand befürchtet. Das ist nichts anderes als eine Voodoo-Gesundheitspolitik.

Sie wird scheitern: medizinisch wie politisch. 

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Das Ergebnis können wir alle jetzt praktisch erfahren. Ich wage vorauszusagen, dass 1. der Lockdown nicht am 30. November beendet sein wird, dass 2. die Schulen noch vor Weihnachten auch geschlossen werden.

Ein bemerkenswertes Interview dazu heute im Deutschlandfunk: Marlis Tepe von der Lehrergewerkschaft GEW (das steht nicht für „Gewerkschaft für Wechselunterricht“), bestätigte hier alle Klischees über faule Lehrer. Es ist schon bezeichnend, dass es Funktionäre der Lehrergewerkschaften sind, wie der GEW, die die ähnlich wie die Regierenden vor allem darüber reden, was alles nicht geht. Sie haben partout keinen Möglichkeitssinn, sie haben einen Angstsinn und Bedenkensinn. Die Lehrer betonen immer, was alles nicht funktionieren kann und warum dies und jenes nicht möglich ist. Sie scheinen nicht an die Gesellschaft zu denken, nicht über ihren Horizont hinaus zu denken. Denn die Einschränkungen in den Schulen haben auch ihren Preis und zwar einen schweren. Ich meine jetzt gar nicht die Tatsache, dass dann die Eltern zu Hause bleiben müssen und nicht arbeiten können, sondern den Preis in den Hirnen der Schüler und in ihren Seelen.

Ein hartes Interview aber ein gutes führte die DLF-Redakteuren Sandra Schulz. Allerdings möchte ich sehr gerne mal eine ähnliche Härte und ähnliche Arroganz und ähnliche Lust am Unterbrechen hören, wenn das nächste Mal ein Vertreter der Regierung wieder die neuesten Pandemie-Maßnahmen begründet.

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Jetzt wagt Boris Palmer in Tübingen einen eigenen Weg – und ein spannendes Experiment, dem man allen Erfolg wünscht: „Tübingen hat sich entschieden, Virus-Screenings auf Kosten der Stadtkasse durchzuführen und hat bisher jeden Einbruch des Virus in ein Heim verhindern können. Getrennte Einkaufszeiten, eigene Angebote für den ÖPNV, kostenlose Ausgabe medizinischer Masken – für den besonderen Schutz der Risikogruppe gibt es zahlreiche Konzepte, doch fast nichts davon wird bei uns umgesetzt. Und wieder liegt dies an einem Lockdown im Denken. Weil die Risikogruppe weitgehend identisch ist mit den Senioren, wird jede Differenzierung nach Risiko als Altersdiskriminierung abgekanzelt.“

Palmers „Tübinger Appell“ bedeutet: FFP2-Masken kostenlos für alle Senioren. Sichere Einkaufszeit für alle Senioren am Vormittag. Details hier und hier und hier.

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Aber das wichtigste Thema ist zunächst einmal die US-Wahl. Ausnahmsweise stimmt es hier wahrscheinlich, dass die Amerikaner die Wahl haben zwischen Gut und Böse. Zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Wegen der Demokratie.

Der US-Korrespondent des Deutschlandfunks meinte zum Beispiel vor kurzem, dass wenn Trump noch mal gewinnen würde, die die Frage aufwerfen würde, „ob die USA überhaupt noch eine Demokratie bleiben, oder ob Donald Trump seinen autokratischen Impulsen derart freien Lauf lässt, das er dieses politische System aus den Angeln hebt. Ich habe manchmal den Eindruck, dass den europäischen Beobachtern gar nicht so recht klar ist wie gefährdet die amerikanische Demokratie unter Donald Trump tatsächlich ist, denn seine erste Amtszeit war ein einziger Angriff auf das System der checks and balances.“

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Amerika ist Traum- und Projektionsmaschine. Unvergessen ist der erste Disney-Film (für mich „Schneewittchen“ im Autokino Hoechst), die erste „Micky Maus“, die Hemingway- und Fitzgerald-Lektüre als Jugendlicher, die frühe Faszination, die sich mit ablehnender Skepsis gepaart hat. Der Abscheu gegenüber der aggressiven Politik, vor allem nach Ende des Kalten Krieges, der Paranoia im Gefolge von 9/11, der noch größer dadurch wird, dass unsere europäischen Regierungen das alles kleinlaut mittragen.

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Ein tolles Angebot machen die Kollegen des Verleihs Grand-Film. Sie schreiben treffend: „mit Spannung und auch etwas Furcht blicken wir und die ganze Welt in Richtung USA, wo morgen die Präsidentschaftswahlen stattfinden werden. […] Als Kommentar zu den Wahlen in den USA – wie immer sie auch ausgehen werden – haben wir uns dazu entschlossen, Roberto Minervinis Dokumentarfilm „What You Gonna Do when the World’s on Fire?“ bereits morgen zur „Wahlnacht“ als Video on SDemand zu veröffentlichen. Beim Kinostart Ende Juli wurde diese eindrückliche Dokumentation von der Presse gefeiert und in zahlreichen Kinos gezeigt. Es standen für die nächsten Wochen noch weitere Kinotermine an, die aber vorerst durch den erneuten Lockdown ausfallen müssen.

Dieser Film ist nicht nur ein Kommentar oder ein Debattenbeitrag, er ist ein Kunstwerk des dokumentarischen Kinos, in wunderbarem Schwarzweiß gedreht und bestechend durch die unmittelbare Nähe zu seinen Protagonist*innen. 

Der Film ist als Video on Demand ab morgen [Dienstag, 3. November 2020) um 20 Uhr zum Preis von 4,99 Euro hier abrufbar (Der Link wird auch erst dann aktiviert wird). Am Freitag erscheint er außerdem bei Absolut Medien als DVD.

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Amerika ist nicht nur Mythos, es ist die Chiffre des schlechten Ganzen im inzwischen global gewordenen Kapitalismus. 

Was man dazu lesen kann? Zum Beispiel Heiner Müller. „Der amerikanische Leviathan“ heißt ein Buch, das gerade bei Suhrkamp erschienen ist und Müllers Äußerungen zu Amerika, dem Kontinent der Kultur, dem Kino und der Politik, zusammenfasst.

Außerdem kluge Analysen in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“. Und nicht weniger kluge Gedanken über den „Failed State“ USA in „Konkret“.

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Auch von mir gibt es zwei Texte zum Thema: Bereits jetzt steht auf Telepolis mein Text, warum ich optimistisch bin, und glaube, dass Biden morgen die Wahl gewinnen wird. Und auf Artechock kommt später ein Text darüber wie das US-Kino den Trumpismus vorhersagte. Viel Spaß in der Wahlnacht!

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