Gedanken in der Pandemie 55: App jetzt geht’s los 

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„Die Liebe in den Zeiten der Cholera“: Die Seuche versetzte vor anderthalb Jahrhunderten die Menschen weit mehr in Furcht als heute Corona. | Foto © Tobis

Experimente mit offenem Ausgang: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 55.

„Auf einem dürren Kosackenklepper schien sie zu kommen, die sieben Plagen als siebensträhnige Knute in der Hand, die asiatische Giftmischerin, die in alle Brunnen, alle Ströme, in jede Nahrung den Keim des Todes warf.“
Karl Gutzkow über die Cholera 1831

„Es gibt Menschen, die bereit sind, ein gewisses Risiko einzugehen, und es gibt andere, die jedes Risiko ausschließen wollen. Beides haben wir zu akzeptieren. Das ist die Vielfalt des Menschen.“
Dabrock im Deutschlandfunk

 

„Hegel starb am Montag, dem 14. November 1831, in seiner Wohnung am Berliner Kupfergraben. Der Tod kam überraschend. Am Freitag zuvor hatte er mit den Vorlesungen des Wintersemesters über Rechtsphilosophie und Geschichte der Philosophie begonnen, am Samstag Prüfungen abgehalten. Am Sonntag zeigten sich die ersten Symptome der Krankheit, der er nach einer unruhigen Nacht am nächsten Tag gegen 17 Uhr erliegen sollte. Am 16. November wurde er seinem Wunsch entsprechend auf dem evangelischen Dorotheenstädtisch-Friedrichswerderschen Friedhof neben seinen Vorgängern Solger und Fichte begraben. Zahlreiche Equipagen und ein unabsehbar langer Zug der Studenten gaben ihm das letzte Geleit.“

So beginnt ein schöner Text über den bedeutendsten Philosophen deutscher Sprache, dessen 250. Geburtstag im August gefeiert wird. Er erschien in der Juni-Ausgabe des „Merkur“, nicht zu verwechseln mit dem „Münchner Merkur“ oder dem „Rheinischen Merkur“. Die in Stuttgart erscheinende, immer noch sehr schön klassisch „deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ genannte Monatszeitschrift ist zwar in den letzten Jahren um einiges uninteressanter geworden als unter ihrem sagenhaften Herausgeber Karl Heinz Bohrer, aber immer noch interessant genug. 

Über Hegel schreibt der Autor Karl Heinz Götze einen wunderbar zu lesenden Text, der zuallererst klar macht, wie wenig bekannt, geehrt und finanziell ausgestattet dieses Genie zu Lebzeiten war: 

„1818 bekam er den Ruf auf den verwaisten Lehrstuhl Fichtes an der Berliner Universität. Kultusminister Altenstein betrieb gegen vielfältigen Widerstand Hegels Berufung. Er wusste ihn als Anhänger und theoretischen Vordenker der konstitutionellen Monarchie Preußens und stützte ihn bis zu dessen Tod.  […] Sicher, das intellektuelle Berlin kannte Hegel, zumindest seinen Ruf. Aber das bedeutete keineswegs, dass die deutsche akademische Kathederphilosophie der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts durchweg hegelianisch geprägt gewesen wäre.  […] Im Ausland herrschte häufig Unkenntnis, jedenfalls Unverständnis. In Frankreich hatte Hegel mit seinem Freund Victor Cousin zwar einen treuen Gefolgsmann, aber es dauerte bis ins 20. Jahrhundert, bis zu Alexandre Kojève, bis er wirklich eine wichtige Rolle im französischen Denken spielte. In England begann Hegels Name erst nach seinem Tod bekannt zu werden. In der Times kam er 1938 zum ersten Mal vor, eher am Rande, aber doch mit dem Hinweis, dass Hegels ,Ideen überall in Europa auf Zustimmung zu stoßen beginnen’ (Times vom 24. Dezember 1938).“

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Hegel starb an der Cholera. Dadurch wurde sein Tod dramatisch – gerade weil er anders behandelt wurde, als der Tod eines gemeinen Bürgers: „Es hätte nur eines ablehnenden Schreibens höherer Stellen auf den Antrag bedurft, ausnahmsweise die Bestattung eines Cholera-Toten auf einem normalen Kirchhof zu genehmigen, und Hegel wäre wie 1400 andere an der Seuche Verstorbene auf einem der hastig eingerichteten, ungesegneten, mit Graben und sicheren Umzäunungen vor der Stadt angelegten Cholera-Friedhöfe nachts beigesetzt worden, ohne Trauergemeinde, ohne Glockengeläut, gemäß einem preußischen Dekret mit einem ,stumpfen eisernen Haken’ in den Sarg befördert, Gesicht und Kopf mit dicker Leinwand bedeckt, die in einer Mischung von Salpeter, Salz und Schwefelsäure getränkt worden wäre, der Sarg mit Kohle aufgefüllt, dann vernagelt, in eine möglichst tiefe Grube abgesenkt, abermals mit Kohle, ersatzweise gelöschtem Kalk oder Asche und schließlich mit Erde bedeckt.

Die Cholera war die Schreckenskrankheit der Epoche. Eine neue Pest, die die Menschen weit mehr in Furcht und Angst versetzte, als heute Corona. Und die den Staat in all seiner Hilflosigkeit zu weitaus drastischeren Maßnahmen provozierte als heute. 

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Ich schreibe heute mal auf der Autobahn. Das Ziel ist Südfrankreich, für eine Woche. Noch in Berlin, auf der Osloer Straße, bekam das allemal nicht mehr taufrische Gefährt einen Pferdekuss von einem bulgarischen Laster. Der Fahrer war nett, sprach aber nur Bulgarisch, die Polizei musste gerufen werden, brauchte eine Stunde, und verschaffte ein Erlebnis, mit dem sich die unregelmäßigen Betrachtungen unserer uniformierten Angestellten gut fortsetzen lassen. 

Als der Wagen der Staatsdiener irgendwann doch kam, steigt aus ein grandioser Querschnitt durch die deutsche Polizei: Drei Beamte, alle drei weiß und blauäugig, einer sagt die ganze Zeit kein einziges Wort, steht nur dabei und guckt. Einer ist supernett, hat den intelligentesten Blick und Verständnis, und einer, der auch bei dieser Bullenhitze eine schutzsichere Weste mit komplettem Geschirr vor die eh schon vorhandene Wampe geschnallt hatte, macht von Anfang an despektierliche Bemerkungen über den bulgarischen Fahrer: „Können Sie Deutsch? Warum nicht?“ Dann redet er Deutsch weiter, obwohl er schon weiß, dass der Fahrer ihn nicht versteht. „Aber im deutschen Straßenverkehr muss man Deutsch sprechen.“ Beim Blick auf die kyrillischen Fahrzeugpapiere: „Aber das kann ja kein Mensch lesen …“ Wer weiß, wie sie ohne unsere Anwesenheit geredet hätten.

Dann brauchen die drei Helden eine Dreiviertelstunde, um die Personalien zu überprüfen.

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„ … Manzonis ,Brautleute±, die jedes italienische Schulkind gelesen hat; der Roman ist eine Art Nationalepos. Es zeugt von der Wiedergeburt der Nation aus dem Ausnahmezustand der Seuche. 

Die ,Promessi Sposi‘ erzählen von der großen Pest 1630, die, von Söldnern aus dem Norden eingeschleppt, von der spanischen Fremdherrschaft so gut wie nicht bekämpft, mehr als die Hälfte der Bevölkerung dahinraffte. Als ein historischer Roman, der in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts spielt, erzählt er Mitte des 19. Jahrhunderts von der Notwendigkeit des Risorgimento zur Befreiung Italiens von jeder Fremdherrschaft.

Das völlige Missmanagement der Habsburger zur Zeit der Seuche führt in der Lombardei zum Einsturz sämtlicher rechtsstaatlicher und institutioneller Normen und zum Bankrott jedes menschlichen Miteinanders, zu Ausbeutung, Vergewaltigung, Plünderung und Mord. Die von dem Mailänder Kardinal Carlo Borromeo erwirkte Bittprozession zur Eindämmung der Pest führt zu deren rasendem Grassieren. Hilflos sucht man Sündenböcke: Unschuldige werden der absurdesten Praktiken verdächtigt. Manzonis Roman erzählt von den ,Schmierern’, die angeblich die Pest durch das Verschmieren von Salben verbreiteten. Sie wurden zum Tode verurteilt, gefoltert, ihre Häuser zerstört. ,Die infame Säule’ erinnert heute in Mailand an die Opfer dieses durch eine verblendete Öffentlichkeit heraufbeschworenen Justizverbrechens.“

Babara Vinken über Manzonis Roman „Die Verlobten“

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Die Logik liegt im Auge des Betrachters: Karl Lauterbach hält bei „Hart aber fair“ das Fliegen für besonders gefährlich. Er würde „niemals“ in einen Flieger steigen: „Wir müssen die Dunkelziffer einkalkulieren und die, die fliegen, sind die Risikobereiteren.“ Also sei das Risiko, beim Fliegen an Corona zu erkranken höher, als die Statistiken aussagen. 

Neben dem sogenannten „Gesundheitsexperten“ der SPD sitzt Wolfgang Kubicki von der FDP: „Unser ganzes Leben ist Lotto-Spielen. Die Wahrscheinlichkeit, in einem Verkehrsunfall zu sterben, ist genauso groß, wie sich anzustecken. Man soll es nicht verharmlosen, aber man muss auch nicht unnötig Angst schüren.“

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Das Lockern der Ausgangssperren sei ein „Experiment mit offenem Ausgang“ heißt es immer von den Corona-Dramatisierern wie Lauterbach. Aber wer das sagt, vergisst, dass „offener Ausgang“ nicht heißt, dass die Gefahr sicher ist, sondern dass auch das Gute möglich und das Schlechteste unwahrscheinlich ist.

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„Das waren die bestbetreutesten Menschen, die es in der Republik gegeben hat, in den Zeiten, in denen die Angehörigen nicht zu Besuch kommen konnten“, behauptet eine Pflegeheimleiterin im Radio. Was für ein Satz! Was sie eigentlich sagen will: Die Angehörigen stören den Pflegebetrieb.

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„Rückholer-Garantie“ – diese Regelung ist, wie schon das Wort, etwas sehr Deutsches, genauso wie der Wunsch, bei schon gebuchten Reisen das ganze Geld zurückzubekommen.

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Es ist schon eine Frechheit, was sich die Lufthansa zur Zeit leistet. Der Vorstand warnt davor, dass das Rettungspaket am 25. Juni bei der Abstimmung scheitert. Damit soll vor allem Druck ausgeübt werden, auf Aktionäre wie Staat. Im gleichen Moment droht das Unternehmen mit Entlassungen. Es ist und bleibt ein Unding, dass die Lufthansa gleichzeitig Staatshilfe bezieht und mit Entlassungen droht. Und dass sie gleichzeitig ihre Aktionäre und indirekt den Staat unter Druck setzt, mit dem Argument die Staatsbeteiligung seid zu hoch. 

Geld nehmen, aber den Geldgeber danach in die Hand beißen – das ist der Stil der Lufthansa.

Was soll man denn tun? Wer das jetzt fragt, dem kann ich sehr einfach antworten: Die Lufthansa verstaatlichen. Möglichst komplett alle Inlandsflüge verbieten. Ein staatlich gefördertes Unternehmen hat Vorbild und Vorreiter zu sein bei einer besseren Klimapolitik. Es muss nicht als erstes Gewinn erwirtschaften – das tut die Lufthansa ja übrigens sowieso nicht, sie erwirtschaftet Verlust. Wenn man schon Verluste macht, dann sollen diese wenigstens an anderer Stelle zu gesellschaftlichen und sozialen Gewinnen führen. Dann sollen sie sich auf anderer Ebene lohnen.

Dieser Vorgang ist noch lange nicht abgeschlossen. Er sollte dem Staat schon jetzt eine Warnung sein. 

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„Noch drei bis vier Wochen“ sagte Jens Spahn, werde es dauern, bis die Corona-App kommen werde. Das sagte er am 16. April 2020, also vor acht Wochen.

Jetzt ist sie da, schneller als der Berliner Flughafen. 

Auch wenn ich die Skepsis gegenüber dem Nutzen teile, und es sympathisch finde, dass in europäischen Ländern die Bereitschaft zur Installation der jeweiligen App gering ist (ich weiß schon, die deutsche App ist gaaaanz anders und viel besser, Deutschland ist natürlich auch App-Weltmeister), kann euch sagen: Ich hab‘ sie auch installiert, und finde, das können wir jetzt mal alle tun, gerade damit wir nicht noch monatelang wie bescheuert mit diesen absurden Masken rumlaufen müssen.

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Die BRD-Corona-App ist auf wahnsinnig viel angewiesen. Zum Beispiel: Falls ich nicht weiß, dass ich Corona habe, aber jemand anderen infiziere, wird dieser andere natürlich nicht gewarnt, obwohl er sich möglicherweise bei mir angesteckt hat, auch wenn wir beide die App superduper installiert haben. 

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Schon klar ist jetzt, dass es neben der legalen App auch allerlei Fake-Apps gibt, mit denen Cyper-Kriminelle versuchen, Geld zu machen und die Gutgläubigkeit, auch die Angst der Leute auszubeuten. Man kann jedem nur raten, sich sehr genau anzuschauen, was er da runterlädt und zwar, bevor es passiert. 

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