Gedanken in der Pandemie 49: „Die Exekutive kann auch Schiffbruch erleiden“

,

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler glaubt nicht wirklich, dass durch die Krise plötzlich alles anders wird. Wirkliche Veränderungen brauchen über eine Generation. | Screenshot

In der Krise braucht man Zuversicht: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 49. 

Heute ist der Corona-Blog mal ein bisschen anders als gewohnt. Denn ausnahmsweise besteht er aus einem Interview, das ich bereits Anfang April mit Herfried Münkler geführt habe – einem der (aus meiner Sicht) interessantesten deutschen Intellektuellen, Wissenschaftler und Beobachter des Zeitgeschehens: 

Münkler, Jahrgang 1951, wuchs in Bad Nauheim bei Frankfurt auf, studierte in Frankfurt, wo er mit dem Buch „Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz“ (Fischer, Frankfurt 1984) promovierte, das bis heute als Standardwerk gilt. Von 1992 bis 2018 lehrte er als Professor für Theorie der Politik an der Berliner Humboldt-Universität.
Neben zahlreichen wissenschaftlichen Werken entstanden in dieser Zeit auch bei Rowohlt Bücher für ein breiteres Publikum, unter anderem „Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten.“  (Berlin 2005); „Die Deutschen und ihre Mythen“ (Berlin 2008); „Der Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“ (Berlin 2013); „Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648“ (Berlin 2017) und zuletzt gemeinsam mit Marina Münkler: „Abschied vom Abstieg. Eine Agenda für Deutschland“ (Berlin 2019). 

 

Herr Münkler, zu Beginn eine Frage, die gar nichts mit Seuchen und Pandemien und der aktuellen Lage zu tun hat: Sie sind Politikwissenschafter, Literatur benutzen sie ja in Ihren Büchern oft als Quellen – aber wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zum Film?
Nein, die verwende ich gar nicht. Ich hatte in meinem aktiven Berufsleben nie die Zeit, viel in Filme zu gehen. In mancher Hinsicht konkurrieren Bücher und Filme auch miteinander, um Zeit nämlich. Insofern habe ich zwar manche Filme gesehen, aber um mich zu unterhalten, nicht unter dem Gesichtspunkt, um durch sie eine Vorstellung von der kulturellen Veränderung dieser Gesellschaft zu bekommen.

Das ist schade …
Ja, ich weiß. Aber es gibt so Dinge, die funktionieren eben nur so. Es liegt wohl auch meiner Generation. Meine Frau ist achteinhalb Jahre jünger und da schon anders aufgestellt. Sie hat in Dresden an der TU ein paar Kollegen, die auch in der Literaturwissenschaft sehr viel mehr mit Filmen arbeiten. Wenn ich in dieser Hinsicht irgendetwas mitbekommen will, dann zapfe ich diese Quellen an. 

Und was machen Se jetzt in dem erzwungenen Hausarrest? Ist das Leben für Sie wesentlich anders als sonst? Sie mussten ja viele Vorträge absagen. Freuen Sie sich, dass Sie endlich zum Lesen kommen?
Ja, die gesamte Dimension von Lesungen, Vorträgen, von Tagungen und derlei mehr fällt weg. Es gibt ja kaum noch Reisemöglichkeiten. Ich halte Lehrveranstaltungen, die ich normalerweise vor Ort halten würde und die auch sechs Stunden dauern, nun über Zoom. Das wird ein bisschen anstrengend.
Aber das alles geschieht jetzt von zu Hause aus. Weil ich, seitdem ich vor anderthalb Jahren in den Ruhestand gegangen bin, kein Büro mehr habe. Insofern bin ich jetzt gewissermaßen in unser Haus zurückgekehrt. Das ist für mich kein so tiefer Einschnitt, weil jedenfalls für zwei Menschen ordentlich Raum vorhanden ist und ein schöner Garten drumherum ist, sodass sich das Gefühl des Eingesperrt-seins in Grenzen hält. Und weil ich auf der anderen Seite Home Office gewohnt bin – das habe ich eigentlich seit meiner Staatsexamensarbeit immer wieder gemacht: Ich habe mehr in der Ruhe zuhause geschrieben, als dass ich mich in der Universität ins Büro gesetzt hätte. Insofern hat sich nichts Grundlegendes für mich geändert. 

Ich habe jetzt ein größeres Buchprojekt, das schon eine ganze Weile in meinem Kopf vagabundiert, und jetzt, wo ich plötzlich relativ viel Ruhe habe, dachte ich: Jetzt fängst du damit an. 

Was denken Sie über diese Rhetorik, die wir jetzt in der Krise oft hören: Dass die Krise zu einer Art von Reinigung der Gesellschaft führen würde, im Sinne einer moralischen Verbesserung. Man hört, wir würden danach alle nachhaltig wirtschaften, wir werden nicht mehr viel reisen, weil wir lernen, wie wunderbar sich alles digital machen lässt. Neun von zehn Geschäftsreisen seien überflüssig, sagen gerade manche. Glauben Sie an derartige Reinigungsfantasien?
Nicht wirklich. Erstens, weil wir schon von der französischen „Annales“-Schule lernen können: „Mentalitäten sind die Gefängnisse der langen Dauer.“ Sie verändern sich eigentlich nur über einen Zeitraum von 40 Jahren, also ungefähr so lange, wie das Volk des Herrn von der Wüste bis ins Gelobte Land gebraucht hat.
Bei einer Pandemie, bei der die Einschränkungen nach einer Woche schon dazu führen, dass sich alle fragen, wann das endlich vorbei ist, da ist es von ganz anderer Dimension. Ich glaube auch, dass die große Fähigkeit einer post-heroischen, hedonistischen Gesellschaft, nämlich die Vergleichgültigung relativ bald wieder greifen wird.
Dass man jedenfalls versuchen wird, sobald es möglich ist, wieder das Leben, das man vorher geführt hat, fortzuführen. Das kann man schon ganz gut sehen an den alltäglichen Fragen, wie auch meine Frau und ich sie uns stellen: Wird es danach noch die Restaurants geben, in die wir gerne Essen gehen, oder werden die pleite sein? Wird es die Buchhandlungen noch geben, die wir mögen? Dass wir also das Danach denken im Hinblick auf das Davor.
Von daher glaub’ ich jetzt nicht, das danach eine „Neue Menschheit“ geschaffen sein wird, die ganz anders ist als der alte Adam.
Was aber vielleicht eine Rolle spielt, ist diese Vorstellung in der alten republikanischen Theorie, nach der freiheitlich-partizipatorische Ordnungen gelegentlich, alle Vierteljahrhunderte, einmal so etwas wie einer Revitalisierung bedürfen. Die alten Republikaner haben da dann gern an Krieg gedacht – etwas, das uns im Inneren zusammenhält und bei der der Gedanke des Opfers eine Rolle spielt. So etwas ist in der post-heroischen Gesellschaft ja gänzlich weg. Aber eine Herausforderung wie der Prozess der deutschen Vereinigung war schon so etwas, wo man gewissermaßen noch einmal die alten Selbstverständlichkeiten durchgemustert hat.
In diesem Sinne könnte diese Krise und die Reaktion darauf zu einer Neubesinnung von Solidarität, Zusammenhalt und kritischer Infrastruktur führen.
Man fragt sich: Wie lange Lieferketten will man sich leisten? Muss es unbedingt sein, dass man hier und dort Urlaub macht? Geht das nicht auch anders?
Es könnte also zu einer Situation führen, in der auf der einen Seite Ängstlichkeiten, auf der anderen Seite Vernünftigkeiten ineinander wirken. Das wird sicher eine Rolle spielen, aber eher im mikro-sozialen Bereich. 

Sie sprechen von der post-heroischen Gesellschaft. Ich habe mich gefragt, ob nicht jetzt auch das Heroische in gewisser Weise zurückkehrt? Also Dispositionen, die im demokratischen Staat nicht ausgelebt werden können: Zum einen in der Inszenierung der Politiker, die sich jetzt als Macher darstellen – Sie selbst haben neulich im „Spiegel“ mit Carl Schmitt von „der Stunde der Exekutive“ gesprochen -; auf der anderen Seite auch bei einer Bevölkerung, die sich auf Opfer einstellen muss: Wir wissen ja alle, dass die eigentliche Welle der Seuche vielleicht erst noch kommen wird. Auch wenn wir vermutlich nie Zustände erleben, wie in Italien, werden Ärzte Entscheidungen treffen müssen, die sehr hart sind. Entscheidungen zwischen Menschen, deren Behandlung sich gegenüber der anderer Menschen noch lohnt. Das sind Entscheidungen, die die post-heroische Gesellschaft eigentlich sehr lange nicht mehr treffen musste …
Jedenfalls sind sie nicht kommuniziert worden, sondern im Verborgenen geblieben, wenn sie doch getroffen wurden. In gewisser Hinsicht ist ja die gesamte Debatte über freiwilliges Sterben oder Sterbehilfe und derlei mehr auch eine solche Debatte gewesen, die gegen die Utopie der post-heroischen Gesellschaft, nämlich das ewige schmerzfreie Leben, gerichtet war.
Das allgemeine Reden von den „Helden des Alltags“, also von Ärzten über die Pfleger bis zu den Menschen an der Kasse bei „Edeka“, ist natürlich die Übertragung eines anderen Erwartungs- und Anerkennungstyps auf diese Leute – aber das ist nur eine Metaphorik.
Auch das, was Sie beschrieben haben, nämlich die Schlachtfeld-Chirurgie, die Triage („den lassen wir liegen, bei dem ist sowieso nichts mehr zu machen, aber bei dem anderen haben wir noch eine Chance, wenn wir amputieren“) – das ist eine Betrachtung des Opfers unter dem Gesichtspunkt des „Viktimen“. Während die eigentliche heroische Vorstellung des Opfers ja die des Selbstopfers ist. Also: „Ich werfe mich in die Bresche, damit meine Kameraden oder wer auch immer gerettet werden oder sonst wie eine Chance haben. Diese „sakrifizielle“ Dimension spielt ja da, wo man jetzt einer Seuche einfach ausgeliefert ist, keine Rolle – vielleicht mit Ausnahme dieses italienischen Priesters, der sein eigenes Beatmungsgerät abgegeben hat, und danach gestorben ist. Das ist eine Ausnahmesituation, und das wird natürlich jetzt von der Katholischen Kirche unter dem Gesichtspunkt des Martyriums kommuniziert, und möglicherweise ist das für den Mann auch ein Tauschgeschäft, weil er auf diese Weise auch eine gute Chance hat, hinterher heilig gesprochen zu werden.

Zu dieser ganzen Kommunikation in der Krise gehört ja – und so wird es auch begründet – eigentlich die Schmittianische Figur des Denkens vom Ausnahmezustand und vom äußersten Extremfall her. Halten sie das für gerechtfertigt? Oder ist das nicht ein schwarzer umgedrehter Utopismus? Hieße Realismus nicht hier genaugenommen, vom Mittelweg und dem mittleren Punkt her zu denken? Also: Das Glas ist vielleicht halb leer, aber es ist eben nicht ganz leer. Vielleicht ist es auch halbvoll …
Es gibt offenbar ein Bedürfnis der Leute, in solchen Situationen, die man zweifellos als Ausnahmezustand bezeichnen kann, und die als solcher ja auch erfahren werden, Helden zu haben. Also etwas worauf man schaut, wovon man Hilfe erwartet. Möglicherweise Rettung und dergleichen mehr.
Das läuft jetzt bei uns doch eher im Sinne von „Business as Usual“ ab. Die Verkäuferinnen gehen ganz normal zu ihrer Kasse und machen das, was sie sonst auch machen. Und die Rettungssanitäter auch, wenn auch alles unter erschwerten Bedingungen und mit Abstand und Plastikschutz.
Das Ganze wird semantisch überformt mit Begriffen vom Heroischen, Heldenhaften und derlei mehr. Es beginnt ein entsprechendes Bedürfnis, eine Erwartung, die verbreitet ist in der Gesellschaft.
Aber was darunter liegt, das ist das Problem: Der Ausnahmezustand ist keiner, der durch eine tatsächlich sichtbare Bedrohung entsteht. Nicht durch Bombenflugzeuge am Himmel oder Kanonendonner. Sondern durch die Unsichtbarkeit eines Virus. Und die Positionierung des Heldenhaften spiegelt in gewisser Weise die unsichtbare Bedrohung, beziehungsweise macht sie diese Bedrohung sichtbar in der Gegenfigur. Insofern kann ich auch nachvollziehen, warum es entsprechende Erwartungen und ein Bedürfnis gibt.
Aber das sind eher Mechanismen, die etwas über die mentale Struktur unserer Gesellschaft aussagen, als über die Realität eines sich in die Bresche-werfens. 

Es ist eine ästhetisches Bedürfnis …
Ja. Ästhetisch auch im Sinne von aisthesis – anschauen. 

Und die Selbsterzählung der Gesellschaft braucht zurzeit auch die Personalisierung von abstrakten Vorgängen, in der das Heroische schon mit drin liegt … Und dazu Gelassenheit, die Bereitschaft, etwas hinzunehmen. Man kann sich ja vorsichtig verhalten ohne hysterisch zu werden …
Ja, das genau ist vermutlich die Herausforderung: Alles miteinander abzuwägen. Also nicht in Hamsterkäufe zu verfallen oder nur noch als Ganzkörper-Präservativ auf die Straße zu gehen, aber auch nicht umgekehrt und unvernünftig so zu tun, als wäre nichts. 

Nochmal zur Inszenierung der Politiker: Ist dies auch ein Moment, an dem eine klassische Form der Vorstellung des Heroischen zurückkehrt? Also das traditionell Männliche, das Kraft zeigen, das Aktivität zeigen, oder es zumindest darzustellen, zu simulieren. Wir haben jetzt sehr lange eine „Mutti Merkel“ als Kanzlerin gehabt – mit allen Vor- und Nachteilen. Sie hat ja auch durch eine andere Krise schon gut geführt. Aber jetzt kommen doch der anderen Seite diese klassischen Macher wieder. Ich denke an Scholz, an Spahn, an Söder. Ich denke auch an die Kriegsmetaphorik in Macrons Rede vor einigen Wochen. Eine Rhetorik, die Merkel ja explizit vermieden hat. Sie hat eher eine Kindergärtnerinnen-Rhetorik angewandt, und mahnend zu potentiell uneinsichtigen Menschen gesprochen, denen potentiell etwas der Horizont fehlt, denen man alles dreimal erklären muss und die erzogen werden müssen. Wenn sie das vergleichen: Was ist zweckdienlicher? Was ist besser?
Ich habe offen gesagt große Sympathien für die Art und Weise, wie Frau Merkel das kommuniziert hat. Nicht hemdsärmelig, nicht maskulin, auch nicht im Gestus des Voluntativen. Und von daher auch nicht mit völlig falschen Bildern arbeitend: Wie „Krieg“ oder „Angriff von Außen“ oder „Chinese Virus“. Sondern eigentlich in hohem Maße um Verständnis werbend. Und sie hat etwas gemacht, das eigentlich nicht ihre Stärke ist: Nämlich sehr viel erklärt. Eine Erklärung, warum das so ist wie es ist, und warum das so sein muss – ausgehend von der Überzeugung: Die Leute müssen für diese Politik gewonnen werden. Denn dann und nur dann ist sie entsprechend durchhaltefähig. Denn wir haben im demokratisch-liberalen Rechtsstaat nicht die Instrumente, die die Chinesen zur Verfügung haben. Das wollen wir ja auch gar nicht.
Unser Problem ist, dass die Leute vielleicht ein oder zwei oder auch vier Wochen bereit sind, mal so etwas wie den Ausnahmezustand hinzunehmen aber schon währenddessen wird die Frage gestellt: Wann endet denn das?
Es schleicht sich eine im Prinzip tendenzielle Ungeduld ein, die natürlich in einer Gesellschaft wie der unseren – aber auch in anderen – endemisch ist.
Wie geht man nun mit dieser größten Herausforderung um? Nämlich der, so etwas in unglaublich kurzfristigen Zeitdimensionen zu denken. Und gleichzeitig muss man in längeren Zeiträumen denken – aus gesundheitlichen Gründen.
Diese Herausforderung hat Merkel semantisch ganz gut herübergebracht – aber natürlich in völlig anderem Gestus als in der heroischen Pose des Machers.
Nun hängen aber an Präsidenten-Figuren wie Trump und Bolsonaro oder auch Emmanuel Macron natürlich qua politischen System auch ganz andere Erwartungen. Nämlich die, dass dass die das schon durch ihr Amt alles alleine machen können – sondern auch können.
Wohingegen das deutsche System mit seiner hohen Dimensionen von Machtteilung und den bescheidenen Möglichkeiten eines Bundeskanzlers dies gar nicht darstellen kann. Die Kanzlerin erfährt ja schon gegebenenfalls am nächsten Ministerpräsidenten eine Grenze.
Zudem gilt: Ein Gestus wie ihn noch Gerhard Schröder verkörpert hat – Basta und derlei mehr – ist gerade in einer Situation, in der Politik relativ wenig machen kann, unangemessen und vor allen Dingen von einer relativ niedrigen Halbwertszeit. 

In den letzten Jahrzehnten haben wir in der deutschen Gesellschaft eine zunehmende Entpolitisierung beobachten können. In der deutschen Politik dominiert zunehmend ein sehr emotionaler, nicht über den eigenen Horizont hinausschauender Politikbegriff. Wir erlebten Phänomene wie die Wutbürger verschiedenster Couleur, jetzt scheinen auf den ersten Blick Wissenschaft und Rationalität und die dazugehörige kühle Gelassenheit in den politischen Diskurs zurückzukehren. Zum Beispiel werden wir in den letzten Wochen jetzt alle zu Virologie-Experten: Wir hören Christian Drosten im Podcast, vielleicht auch noch Kekulé, wir lernen, das es hier auch verschiedene Ansichten gehen kann, Irrtümer und Fehlerkorrekturen. Wir denken mit.  Zeitgleich verlieren Rechtsextremisten wie die AfD an Wählerstimmen. Können wir hier nun eine Repolitisierung der Gesellschaft beobachten?
Wenn man unter Re-Politisierung jetzt nicht die Zuspitzung der Fronten versteht, sondern das sich wieder einlassen auf die politische Urteilskraft, die jedem einzelnen Bürger abverlangt und zugemutet wird, dann ja.
Ich betone das so, weil man sonst, wenn von Politisierung die Rede ist, oft meint, das es um Zuspitzung und Konflikt geht. Das ist ja genau nicht der Fall.  Sondern in vieler Hinsicht sind die Frontstellungen, die man sonst in der politischen Landschaft erlebt, bedeutungslos geworden und zeitweilig zurückgetreten. Und es zeigt sich, dass es auf der einen Seite einen Zuwachs der Experten und der Expertise gibt. Das betrifft nicht nur die Virologen, sondern auch die Ökonomen. Schon zuvor hat es die Klimaforscher betroffen.
Nur Idioten glauben, dass sei die „Diktatur von Experten“.  Sondern letzten Endes ist es ein Prozess des Abwägens, der die ganze Gesellschaft betrifft. Wir müssen entscheiden: Wo in der Vielfalt virologischer Expertise bewege ich mich? Wie gewichte ich die ökonomische Perspektiven versus virologische Hinweise versus Gewaltprävention – und so weiter und so weiter.
So wird also diese genuine Dimensionen des Politischen sichtbar: Nämlich eine Entscheidung in Abwägung von Argumenten und Hinweisen treffen zu müssen. In diesem Sinne kann man sagen: Politische Vernunft als politisches Statement ist im Augenblick wieder viel mehr gefragt, als die Kommunikation von Zorn oder Hate Speech, die sich in den Jahren zuvor in den Vordergrund geschoben hat. 

Also mehr Habermas und weniger Carl Schmitt?
Wenn man Habermas’ Position als das vorsichtige Abwägen vernünftiger Argumente versteht, dann ja. Aber Carl Schmitt tritt dann halt doch auf, insofern es nicht a la Habermas allein „der zwanglose Zwang das besseren Arguments“ ist, der den politischen Diskurs bestimmt, sondern eine Entscheidung getroffen werden muss, die selber heikel ist. 

Unsere Entscheidungen sind gerade riskant, und sie können auch schief gehen?
Ja. Und Vergleiche sind schwierig und herausfordernd. Nehmen wir Schweden in der Corona-Krise. Eine verführerische Alternative, aber kaum vergleichbar, denn es gibt sehr viel weniger Schweden auf einer sehr großen Staats-Fläche. 

Sie hatten im „Spiegel“ gesagt, dies sei eigentlich ein Moment, in dem auch die Stunde der Diktatoren und des Autoritären schlägt. All jener, die sich die augenblickliche Situation mindestens zunutze machen. Das ist dann wieder der pessimistischer stimmende Aspekt der augenblicklichen Krise …
Das kann man ja ganz gut beobachten: Viktor Orban ist momentan der Heerführer des Ausnutzens dieser Krise und des Ausnahmezustandes im Hinblick darauf, das politische System und seine Strukturen umzubauen, und dabei die eigene Macht zu vergrößern.
Insofern ist die gegenwärtige Lage tatsächlich die Stunde der Exekutive. Es profitieren natürlich auch gelegentlich Leute davon, die im Gestus des Machers auftreten. Trumps Zustimmungswerte sind ja zunächst einmal gestiegen – was dem kontinental-europäischen Betrachter unverständlich sein mag.
Andererseits können diejenigen, die hier als Macher hemdsärmelig auftreten, auch relativ schnell in Krisen geraten. Also: Die haben ihre Chancen, das politische System zu einer Machtsteigerung des Autokratischen auszunutzen, aber sie müssen dann natürlich auch liefern. Wer sich ins Zentrum stellt und allen den Mund verbietet und im Basta-Gestus agiert, der wird auch von den Zwängen überrollt, unter die sie sich selbst gesetzt haben.
Das könnte sich am Schluss als eine Art Überlegenheit der auf viele Schultern verteilten Macht der parlamentarischen Demokratie erweisen.
Diese Ambivalenz würde ich bei der Diagnose darum immer betonen: Ja es ist die Stunde der Exekutive. Aber es dann relativ bald auch die Stunde der gesteigerten und übersteigerten Erwartungen an die Exekutive sein. Und dann kann diese sehr schnell auch Schiffbruch erleiden. 

Was bedeutet das alles mittelfristig für die Weltgesellschaft? Wir sehen jetzt wieder eine Globalisierungskritik die schon vergessen geglaubt war. Sie läuft nach dem Schema: Man sieht jetzt an der Seuche, dass die offenen Grenzen uns verwundbar machen. Auf der anderen Seite kann man dagegenhalten: Es hat die Weltgesellschaft immer schon gegeben, und Grenzen haben sie nicht aufhalten können. Umgekehrt haben wir heute auch schnellere Transporte von Medizin, schnellere Transfers von Erkenntnissen und Wissen.
Ja, wir unterscheiden uns natürlich von der Pest von 1348 darin, dass diese zwei Jahre gebraucht hat, bis sie von Zentralasien nach Europa gekommen ist. Und dass sie damals verarbeitet worden ist als Schicksal und „Gottes Strafe“. Das alles steht uns heute nicht mehr so zur Verfügung. Es sei denn, man gehört irgendwelchen eigentümlichen Sekten oder so etwas ähnlichem an.
Insofern wird man sich schon nach der Krise überlegen müssen, ob man nicht politische und wirtschaftliche Räume herstellt, die eine gewisse Autarkie-Fähigkeit haben. Nicht im Sinne des Normalzustandes, nicht in dem Sinne, dass Globalisierung generell beendet wird. Aber für den Fall, dass man auf Abschottung und Quarantäne umstellen muss.
Und da hat sich ja zuletzt gezeigt, dass das Hochziehen der Grenzen an den Rändern des Nationalstaats ausgesprochen dysfunktional war. Weil sich herausgestellt hat, dass zum Beispiel Bayern mit Norditalien  oder München mit Mailand enger miteinander vernetzt sind, als mit anderen Teilen Deutschlands. Oder die Niederlande und der rheinische Raum, oder Frankfurt und Baden mit Frankreich.
Das wird Ursula von der Leyen’s Hauptaufgabe sein: Wie macht sich die Europäische Union wetterfest für derartige Herausforderungen? Und verhindert man, das Ministerpräsidenten und Lokalpolitiker den starken Mann spielen? Dass willkürlich Grenzen geschlossen werden – was im Prinzip die Versorgungsketten gefährdet, bei uns wie in Polen und anderen Ländern.

Wird die Herrschaft der Betriebswirte im Politischen zurückgehen?
Das ist zu hoffen, die Hoffnung gilt aber in beide Richtungen: Auf der einen Seite also eine gewisse Skepsis gegenüber Globalisierung. Die Überlegung: Wollen wir uns solche Verwundbarkeiten auf die Dauer leisten? Oder wollen wir mehr Puffer einbauen?
Aber gleichzeitig müssen wir Räume herstellen, die über nationalstaatliche Grenzen hinausgehen, und auf längere Zeit durchhaltefähig sind – im Hinblick auf Produkte, aber auch im Hinblick auf Arbeitskräfte. Wir merken ja jetzt beim Spargel, dass wir auf einige hunderttausend Arbeitskräfte aus dem Osten nicht verzichten können, und Schwierigkeiten haben aufgrund der Grenzschließungs-Politik mancher Kleinstaaten.
Über solche Fragen wird man sich auf europäischer Ebene noch Gedanken machen – und das ist Europas Chance, aus dieser Krise gestärkt hervorzugehen. Indem man nämlich deutlich macht, dass der einzelne Nationalstaat und die gar nicht mehr vorhandene Nationalökonomie nicht in der Lage sind, den Staat durchhaltefähig zu machen. Dazu braucht man einen größeren Raum. Aber dieser größere Raum muss auch in sich geschlossen und kooperationsfähig sein. 

Ich nehme das mal als optimistisches Fazit …
Das sollte es auch sein, in dem Sinne: Auch in der Krise braucht man Zuversicht. 

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Noch nicht registriert? Als eingeloggter User wird Ihr Name automatisch übernommen.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte lösen Sie diese Aufgabe, bevor Sie den Kommentar abschicken.
Dies dient dem Schutz vor Spam.

Was ist 9 * 3?