Gedanken in der Pandemie 48: Die Arbeit tun die anderen

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Die erste Probe der Berliner Philharmoniker nach dem Zweiten Weltkrieg war am 25. Mai 1945. Bei Corona dauert es länger. | Foto © Stiftung Berliner Philharmoniker

Jeder ist ein Künstler; außer den Sklaven: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 48. 

„Good-morning, Revolution:
You’re the very best friend
I ever had.
We gonna pal around together from now on.“
Langston Hughes

 

Was es alles für Fragen gibt, über die man sich potenziell viele Gedanken machen muss. So zum Beispiel, ob man „jetzt“ mit dem Zug fahren darf? Oder ist der Zug zu voll, um dem Durchschnittsmenschen der wohlfahrtsstaatlichen Demokratie ausreichend Sicherheiten vor Infektion zu gewährleisten. Soll man besser erster Klasse fahren? Oder mit dem Auto? In der privaten PKW-Filterblase ist es vergleichsweise Corona-sicher, aber das Klima, das Klima … Zudem reden wir von einer Welt, in der die Wahrscheinlichkeit bei einem Autounfall, zu sterben, genauso hoch ist, wie die Covid-19 zu bekommen. Man muss mehrmals leben, damit einem das passiert – statistisch gesehen. 

Trotzdem wird über das eine viel geredet, werden Gedanken und Sorgen hin und her gewälzt, über das andere nicht. 

Die Diskussion darüber, ob man sich im Zug anstecken könnte, habe ich im privaten Kreis. Es ist übrigens noch kein Fall bekannt, wo sich jemand im Zug angesteckt hat.

In Deutschland. Wir können ja mal die Inder fragen, ob sie auch solche Sorgen haben. 

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Ich finde, dass man sehr grundsätzlich die Menschen in ihrer (eh schon vorhandenen, meiner persönlichen Ansicht nach grotesk übertriebenen) Angst nicht noch bestärken muss. Im Gegenteil: Man muss sie in ihrem Mut bestärken, man muss ihnen Angst nehmen, ein realistisches Maß für Risiken und deren Abwägung geben. Das sollte eine Gesellschaft tun. Das sollten auch die Menschen untereinander tun – es ist mitmenschliche Pflicht ihnen Sorgen zu nehmen, nicht Sorge aufzubürden.

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„Das, was sich die Leute sonst bis eins reinstellen, trinken sie jetzt bis zehn“ sagt eine Berliner Kneipenbedienung. Für jeden denkenden Menschen, war das von vornherein klar. Weil es der Berliner Senat jetzt auch gemerkt hat, sind ab heute die Berliner Lokale bis 23 Uhr geöffnet. In ein oder zwei Wochen dann wahrscheinlich so lang, wie immer. 

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Ein anderes Wochenend-Gespräch drehte sich um die Frage, ob die Quarantäne-Wochen nun weniger Stress oder mehr Stress bedeutet haben. 

Antwort: Für manche so und für andere so. „Manche“ und „andere“ sind aber nicht gleich verteilt. 

Zu der jetzt beliebten Vorstellung, „nach Corona“ könnte man auch ganz anders wirtschaften, sind diejenigen, die das glauben, nach wie vor die Erklärung schuldig, wie denn dieses „andere Wirtschaften“ dann auch bezahlt werden soll.

Denkbar ist womöglich, dass in den Gesellschaften Westeuropas die Arbeit weitgehend von Maschinen erledigt werden kann. Gut. Nehmen wir an, das funktioniert.

Unbeantwortet bleiben hier trotzdem mehrere Fragen. Die wichtigste: Was machen dann die Leute? 

Eine Freundin meinte am Wochenende, es sei gut, dass es wieder Fußball-Bundesliga gebe, weil jetzt „die Männer“ nicht mehr auf „Hygienedemos“ gehen. Sie glaubt, dass da echt nur Männer hingehen, dass die Frauen, die man sieht nur mitkommen, und den Mann begleiten. Lassen wir das dahingestellt – jedenfalls ist unverkennbar, dass die „Hygienedemos“ ungefähr seit dem Wochenende an Zulauf verlieren, an dem die Bundesliga wieder begonnen hat. 

Es könnte auch etwa damit zu tun haben, dass diese Demos zuerst eine Woche lang in den öffentlich-rechtlichen Medien als irre oder rechtsextrem oder beides dargestellt wurden, und dann die gleichen Medien die Berichterstattung erkennbar reduziert haben, aber vielleicht kommt auch beides zusammen. 

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Es ist jedenfalls falsch zu glauben, bei der Arbeit ginge es es nur darum, etwas zu produzieren oder zu erledigen. Gerade in kreativen Berufen weiß man, dass die sogenannte „Selbstverwirklichung“ zentral ist. Die Menschen wollen sich gut fühlen und einen Sinn in ihrer Arbeit sehen. 

Manche arbeiten sogar in einem Zweitjob um ihren Erstberuf zu finanzieren. Denn das Wort „Beruf“ kommt von Berufung. 

Ich fürchte, dass gar nicht so wenige Menschen tatsächlich ohne Arbeit depressiv werden, weil die Arbeit ihnen mitunter Sinn gibt, sie jedenfalls davon abhält, die Sinnlosigkeit ihrer Existenz allzu schmerzhaft zu spüren.

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Aber zurück zum Thema: Wenn nur noch die Maschinen arbeiten, wer macht dann die Arbeit, die weiterhin nur Menschen machen können? Die aber nicht so schön ist wie Kunst-machen. Also zum Beispiel Pflege, oder Toiletten putzen? 

Und wer erfindet dann die Maschinen, die irgendwann vielleicht auch Toiletten putzen?

Man merkt: I am not convinced. Aber ich freue mich über Gegen-Thesen.

Hinzu kommt die Vermutung, dass diese Auszeit, diese schöne Quarantäne, nach der auch ich mich schon jetzt etwas zurücksehne, viel zu romantisch gesehen wird. War das wirklich ein zur Ruhe kommen? Waren die zehn Wochen wie lange Ferien? Wie ein zweimonatiges Weihnachten? 

Zu dieser Quarantäne-Romantik, gehört, dass man die Ruhe schätzt und das Stressfreie. Aber wir müssen uns hüten, das Ganze zu romantisieren. Natürlich hat uns der Corona-Zustand gezeigt, dass alles Mögliche möglich ist. Aber er hat uns auch gezeigt, was nicht möglich ist, wo Grenzen liegen. 

Zudem: Wenn wirklich alles möglich ist, dann bedeutet das auch, dass der Satz in beide Richtungen gilt. Wenn es möglich ist, die Gesellschaft auf Null zu stellen, die Wirtschaft auf Null zu fahren, dann ist es auch möglich, dass wir in einem Jahr einen Atomkrieg zwischen den USA und Iran haben. Dann sind auch die Dystopien einer Klimakatastrophe und verschärfter sozialer Kämpfe möglich. 

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In den USA lässt sich das gerade gut beobachten. Sollen wir uns freuen über die Bereitschaft zum Protest? Sollen wir realistisch sein, und sagen: Das wird wie immer, das legt sich schnell. Die dortige Gesellschaft ist für nachhaltige Kämpfe nicht gemacht? 

Oder sollen wir uns empören, dass der Corona-Abstand weder von Demonstranten noch Polizei eingehalten wird?

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Es ist ähnlich wie bei dem gerade in diesen Wochen wieder beliebten Thema des „Bedingungslosen Grundeinkommens“. Ich verstehe nicht so viel von Wirtschaft, deswegen habe ich bis heute noch nicht verstanden, wie das funktionieren soll. Wenn ich „Bedingungsloses Grundeinkommen“ höre, denke ich „Schlaraffenland“. Wäre schön, ist aber ein Märchen. Ich freue mich schon auf die Mails, in denen mich Leser auch hier in den nächsten Tagen vom Gegenteil überzeugen. 

Darum noch ein paar Zusatzanmerkungen: 

Wenn man unter „Bedingungslosem Grundeinkommen“ eigentlich versteht, dass alle oder viele Sozialleistungen abgeschafft werden und durch ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ ersetzt (!) werden sollen, und man nebenbei die ganze komplizierte Sozialstaatsbürokratie einspart, dann kann ich da noch ungefähr nachvollziehen, wie es es funktionieren könnte. Bin nur nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre. 

Mir fällt dann wieder ein, dass die Allerersten, die in der Bundesrepublik über das „Bedingungslose Grundeinkommen“ öffentlich nachdachten, nicht etwa die Grünen waren, und auch nicht Die Linke, sondern die FDP! Das staunen jetzt einige bestimmt. Ist aber so. Mitte der 80er Jahre, als der FDP-Vorsitzende Martin Bangemann hieß und Wirtschaftsminister war. Das ist also der erste Wermutstropfen für die Grundeinkommens-Euphoriker. 

Aber das mit der FDP muss ja nicht schlimm sein, und heute wollen sie, glaube ich, nicht mehr so viel davon wissen. 

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Die schwierigere Frage ist aus meiner Sicht die: Angenommen, es gäbe in Deutschland ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“, funktioniert das dann auch, wenn es das in Europa nicht gibt? Oder muss es dass, damit es funktioniert, auf der ganzen Welt geben? 

Angenommen es gibt dies nur, sagen wir, in der EU, dann müssen wir uns bitte auch klarmachen, dass das bedeutet: Die Rechnung zahlen die Chinesen und die Afrikaner? 

Man kann schon innerhalb unserer europäischen Verhältnisse fragen: Ist gerecht, dass zum Beispiel der 45-jährige Freund, ein freier Künstler, der im Zweitjob seine Familie mit Messebau und Baustellen-Organisation ernährt, soviel Steuern und Sozialleistungen zahlt, dass davon meine 80-jährige Mutter in der Provence einen spätsommerlichen Lebensabend verbringen kann? 

Erst recht muss man aber fragen: Ist es gerecht, dass dieser Freund (wie wir alle!) sich de facto zehn Sklaven in Afrika hält? Denn so ist es. Vielleicht sind es sogar mehr als zehn, die Zahl war jetzt aus der Luft gegriffen.

Und wenn wir das nicht wollen, dann bedeutet es doch, dass wir unseren Wohlstand so nicht halten können.  Wollen wir aber darauf verzichten? Können wir es überhaupt?

Wenn wir aber von unserem Reichtum tatsächlich soviel abgeben würden, dass unsere Verhältnisse ökonomisch weitgehend ausgeglichen wären, wie würde dieser Ausgleich stabilisiert werden? Ohne Gewalt. 

Denn kann es so funktionieren, dass dann keiner mehr den anderen beherrscht? Die Aussicht, dass im Fall eines gerechten Ausgleichs unsere bisherigen Sklaven uns einen Vogel zeigen, sagen „Jetzt sind wir mal dran“, und dann in zwanzig Jahren die Kinder des Freundes die Sklaven eines afrikanischen Häuptlings sind, wäre ja auch keine Lösung. 

Davor, dass es so kommen könnte, schützen uns keine „Postcolonial Studies“ allein. Gerechtigkeit, Humanität und Menschenrechte haben einen Preis, den eine klare Mehrheit nicht zahlen will. Also brauchen wir neue Ideen. Vielleicht gibt es sie?

Wir werden diese Überlegungen fortsetzen. 

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Am 25. Mai fand die erste Probe des Berliner Philharmonischen Orchesters in der Neuen Zeitrechnung statt. Genau gesagt am  25. Mai 1945. Nach Corona dauert es länger. 

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„On that day when no one will be hungry, cold, oppressed,
Anywhere in the world again.
That’s our job!
I been starvin’ too long,
Ain’t you?
Let’s go, Revolution!“
Langston Hughes

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