Gedanken in der Pandemie 15: „Sehr vorläufige Ergebnisse einer sehr vorläufigen Studie“

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Zurück auf Normalbetrieb – aber wie genau? | Screenshot

Räte & Ratschläge: Obrigkeitsstaatliches Denken und gravierende Widersprüche vor dem Ende des Shutdown: Apokalyptiker & Integrierte – Gedanken in der Pandemie 15. 

„Und wenn er auch stürzte, so scheiterte er doch bei großem Versuch.“
Ovid, über Phaethon

„Wir haben wegen der Influenza ja auch keine Shutdowns gemacht.“
Alexander Kekulé, Virologe

„Ich habe immer noch den Eindruck, dass an vielen Stellen doch ein Verlautbarungsjournalismus stattfindet. Es wird das transportiert, was das Robert-Koch-Institut sagt oder was einzelne Wissenschaftler sagen. Es wird nicht genügend nachgefragt.“
Holger Wormer, Professor für Wissenschaftsjournalismus

 

Das Ende der Osterferien rückt näher. Heute in einer Woche ist der 21. April, zwei Tage nach jenem ominösen „19. April“, dem Sonntag nach Ostern und letzten Geltungstag der bisherigen Ausgangssperren und sonstigen Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Deutschland durch die Corona-Pandemie. Es nähern sich also die Tage der Entscheidung über die Frage: Wie soll es weitergehen? 

Von der Politik muss Klarheit und Transparenz verlangt werden. Ein Zeitplan, der zumindest in seinen Zielvorstellungen eindeutig ist, und insbesondere eine Richtung, wohin es gehen soll mit dem Programm zur Abschaffung aller Einschränkung unserer Rechte. Egal, wie das Danach aussieht – der Jetzt-Zustand darf nicht so bleiben, der Ausnahmezustand darf nicht zum Normalfall werden. 

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Sie und ihr alle, liebe Leser, hattet, hoffe ich, ein schönes Osterfest. Vor etwa zwei Wochen hatte ich versprochen, zu erzählen, warum ich gerade Bernd Roecks Buch „Der Morgen der Welt“ über die Renaissance lese. Der Grund war ein redaktioneller Auftrag über einen Text zur Renaissance für eine Osterbeilage. Denn Ostern ist bekanntermaßen das Fest der Auferstehung, und in der Geschichte gibt es keine schönere Auferstehung als die Renaissance. Europa erfand sich in der Krise neu und erhob sich gewissermaßen aus der Todeszone in den Himmel, aus der Pestzeit in eine Blüte der Künste, der Wissenschaften und der bürgerlichen Freiheit. Ganze Weltbilder wurden umgekrempelt, eine neue Vorstellung des Menschen und des Lebens begründet. 

Es sind solche optimistischen Impulse, auf die wir uns jetzt und in naher Zukunft besinnen sollten. Die Erinnerung an dieses ungemein reiche Zeitalter kann uns auch heute einen Weg weisen. 

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Auch andere haben sich dieser Tage mit Auferstehungsfragen befasst; liegt ja auch nahe, erst recht für Theologen. Ein Ungewöhnlicher aus dieser Zunft ist Thorsten Latzel, Leiter der Evangelischen Akademie in Frankfurt/Main. „Queres aus der Quarantäne“ heißt Latzels Corona-Blog, in dem er sich der Pandemie aus theologischer Sicht widmet. In der neuesten Folge versucht Latzel zu vermitteln, warum die Auferstehung unglaublich, aber „rational plausibel“ ist. Ein „durchaus heikles Unterfangen“ wie er selber zugibt. Aber das Nachlesen lohnt. 

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An den nächsten Tagen werden Bund und Länder über die nächsten Schritte entscheiden, wie der Shutdown unseres Lebens rückgängig gemacht werden kann. 

Schon in der letzten Woche gab es dazu diverse Empfehlungen verschiedener Gremien, die dann auch immer sehr schnell in den Medien diskutiert werden.

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Es  begann Mitte letzter Woche mit dem Deutschen Ethikrat. Dessen „Ad-hoc-Empfehlung“ lohnt das genaue Studium, und auch die 90-minütige Präsentation auf der Bundespressekonferenz. Der Ethikrat spricht sich dringend dafür aus, die Debatte über Exitstrategien zu führen –?trotz der Appelle aus der Bundesregierung, ruhig zu bleiben und Geduld zu üben. Geduld geht aber vielleicht nur, wenn am Ende eines Tunnels Licht zu sehen ist. 

Der Ethikratsvorsitzende Peter Dabrock tadelte die Regierung dafür und sagte, die Diskussion „sollte von allen, auch der Politik, als Ausdruck der offenen Gesellschaft begrüßt werden.“ „Alles andere wäre ein obrigkeitsstaatliches Denken, das bei uns nicht verfangen sollte.“ 

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Nach einer Umfrage machen sich fast doppelt so viele Deutsche (82 Prozent) große Sorgen über die Auswirkungen der Corona-Krise auf die deutsche Wirtschaft, als darüber, sie könnten selbst infiziert werden (47 Prozent). 

Diesen Sorgen um Kollateralschäden für Wirtschaft und Gesellschaft muss sich die Politik jetzt stellen. 

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„Home Office“ kann man übrigens gleich wieder vergessen. Nur ein Fünftel der Deutschen (21 Prozent) arbeitet im Home Office. Die Vorstellung der massenweisen Arbeit im Home Office ist nur deshalb in den Medien überrepräsentiert, weil vor allem Medienschaffende, Künstler und Freiberufler unter diesen 21 Prozent sind. Es ist im Grunde nichts Neues: Medien berichten über Medien. Wir hier auch. 

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Das weitgehende Kontaktverbot empfinden fast vier Fünftel (78 Prozent) als gravierendste Einschränkung. 72 Prozent fehlen die gewohnten Kontakte „sehr“. 

Nur 4 von 10 Bürgern plädieren dafür, die Beschränkung zur Eindämmung möglichst lange aufrechtzuerhalten. Insbesondere Selbstständige und Freiberufler sowie Erwerbstätige sprechen sich für Lockerungen aus. 

Will also vermutlich sagen: Den Rentner und Arbeitslosen, die sowieso kaum Veränderungen ihres Lebens bemerken, denen ist es alles auch egal. 

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Auch die Länderchefs wollen mitreden, und das zunehmend erkennbar. Interviews gab es an den Ostertagen von nahezu allen auffallend viele. Die Regierungschefs der Länder setzen dabei sehr unterschiedliche Akzente. Armin Laschet blickt ausführlich auf mögliche Lockerungen, bei Markus Söder in Bayern oder Michael Kretschmer in Sachsen überwiegt das Motto: Im Zweifel gegen Freiheiten.

Als erster Ministerpräsident hat sich NRW-MP Armin Laschet sogar mit einer eigenen Stellungnahme zu Wort gemeldet, die an die Kanzlerin adressiert war. 

Das Papier trägt den Titel: „Weg in eine verantwortungsvolle Normalität“. Das Ziel ist damit also klar gesetzt: Es heißt Normalität. Ende des Ausnahmezustands. der Ausnahmezustand soll also die Ausnahme bleiben. Das Ziel ist nicht ein neues Deutschland. Das Ziel ist nicht ein Ausdehnen des Ausnahmezustands auf sechs Monate, ein ganzes Jahr oder sogar auf bis zu zwei Jahre, wie es andere angedeutet haben. Man kann hier auch gewisse Widersprüche zu Bundespräsident Frank Walter Steinmeier und seiner allzu österlichen Auferstehungsrede im Fernsehen erkennen. 

Zu Loben ist an Laschet und seinem Papier, dass er nicht drumherum redet: Die massiven Maßnahmen der Politik hätten „in beispielloser Weise das soziale gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben eingeschränkt“ heißt es, sie hätten „weit in elementare Grundrechte eingegriffen.“

Laschets Weg aus diesem Stillstand listet die Voraussetzungen auf, wie das Land wieder in Bewegung kommen kann. Es werde ein „tastender“ Prozess sein. Man erkennt schon hier genau das, wofür Laschet auch sonst steht: Konservatismus, aber ein aufgeklärter Konservatismus. Eine gewisse Bescheidenheit, eine Zurückhaltung, ein Konservatismus, der sich nicht als Gegensatz zu Moderne und Aufklärung sieht. „Wissen generieren, Kapazitäten ausbauen“ – das ist praktisch, neugierig und ergebnisoffen. 

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Laschet warnt vor einer „Phase der Polarisierung“ und einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft. Diese skizziert er als Spaltung zwischen jung-alt, arm-reich, bildungsnah-bildungsfern. Laschet fordert eine öffentliche Diskussion und im Ergebnis dann „bundesweit einheitliche Kriterien“ für „eine Strategie, die eine schrittweise Rückkehr in einer verantwortungsvolle Normalität erlaubt.“ Eine solche Strategie müsse nach „Risikobereichen, Risikogruppen und Relevanz für das gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Leben“ differenziert sein. Alles interessante Punkte. Aber was heißt das genau? Ich kann es hier nur vermuten: „Risikogruppen“ scheint relativ klar zu sein, „Risikobereiche“ dürften zum Beispiel Orte mit vielen Menschen und im dichten Miteinander sein. 

Aber was ist die „Relevanz für das gesellschaftliche sowie wirtschaftliche Leben“? Das Gesellschaftliche steht immerhin an erster Stelle. Meint aber Laschet nun zum Beispiel, ganz konkret gesprochen, dass Kinovorstellungen und Fußballspiele besonders relevant sind, weil sie den Menschen emotional etwas geben, sie damit gesünder und im Übrigen auch arbeitsfähiger machen? Oder meint er, dass diese Kinovorstellungen und Fußballspiele gerade nicht relevant sind, weil sie weniger unmittelbare Rendite erwirtschaften, fürs Bruttosozialprodukt nicht so viel tun wie die Öffnung der Fließbänder bei einer Autoproduktion und die brodelnden Kessel von Bayer in Leverkusen?

Das Papier beschreibt die kommende Öffnung als tastend und spricht von einem lernenden System. 

Fast genau so wichtig wie die Lockerungsschritte selbst ist eine offene und transparente Kommunikation mit Maß und Mitte. Entscheidend sei, nicht Wirtschaft gegen Gesundheit, Freiheit gegen Staatsgläubigkeit oder Krisengewinner gegen -verlierer auszuspielen.

Laschet spricht gegen Ende seines Papiers auch davon, dass der „Zustand der Angst“ in einem „Zustand von Risikobewusstsein“ überführt werden müssen. 

Sein Papier sagt offen, dass der Prozess der Normalisierung auf eine „konstruktive Begleitung durch Medien“ angewiesen sei, aber er schreibt hinterher direkt im nächsten Satz „Die Diskussion muss öffentlich transparent und ehrlich geführt werden. Es darf keine vermeintlichen Denkverbote geben.“

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Und dann die „Leopoldina“, die Nationale Akademie der Wissenschaften in Halle. Die ist für mein Gefühl schon allzu sehr herumgereicht worden. 

Zur Leopoldina ist zu sagen, dass sie eine überaus staatsnahe Einrichtung ist, die bisher nicht für irgendeine Form von kritischer Distanz zum Regierungshandeln bekannt wurde. Ihre erste Stellungnahme die am 21. März veröffentlicht wurde, beginnt mit dem Satz: „Die von der Bundesregierung und den Bundesländern ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der aktuellen Coronavirus-Pandemie sind derzeit dringend erforderlich und entsprechend der durch die Pandemie ausgelösten Bedrohung.“

Über den Gehalt der neuesten Vorschläge hat der FAZ-Feuilletonchef Jürgen Kaube heute einen sehr bissigen Kommentar geschrieben. 

Noch bemerkenswerter ist aber ein Interview, dass Holger Wormer, Professor für Wissenschaftsjournalismus an der TU Dortmund, jetzt dem Deutschlandfunk gab. Dort gießt er reichlich Wasser in den Wein unserer augenblicklichen Wissenschaftshörigkeit und der scheinbar objektiven Erkenntnisse der Forscher – ja in den grundsätzlichen Geltungsanspruch vieler dieser „Erkenntnisse“. 

Journalisten, sagt Wormer, „müssen hier noch viel mehr leisten als sonst weil diese Studien meistens noch keinerlei wissenschaftlichen Prüfungsprozess durchlaufen haben. … Da im Augenblick alles so schnell gehen muss ist diese wissenschaftliche Qualitätsprüfung fast immer ausgehebelt.“ Mit anderen Worten: Die Wissenschaftler könnten theoretisch hinschreiben, was sie wollen – was gerade bei der jetzt plötzlich populär werdenden Leopoldina schon vor fast einem Jahrhundert vorkam. 

Letztlich müssten Journalisten nun die gleichen Fragen stellen, die sonst ein Wissenschaftler oder ein Gutachter bei solchen Studien stellen müsste: Also ist eine Stichprobe repräsentativ? Wie eindeutig sind die Ergebnisse? Gibt es Widersprüche? 

„Die Journalisten müssen natürlich – alles andere wäre ein journalistischer Kunstfehler – andere Experten zu Wort kommen lassen, die wiederum ihrerseits versuchen können, diese Ergebnisse einzuordnen.“ Oder auch zu kritisieren. „Wenn das nicht passiert, dann haben wir natürlich ein Problem. Dann gibt es nur eine Studie die nicht besonders geprüft ist, die vielleicht auch noch PR-technisch verwertet wird. Es gibt aber keine Einordnung von einer anderen Seite. … Es ist sowieso das Problem bei der Berichterstattung über Studien dass das Ergebnis einer Studie dann als Wahrheit dargestellt wird. Und dann kommt die nächste Studie, und dann wird wieder gesagt so ist es. … Aber bei diesen schnell gemachten Studien zu einem noch neuen und noch relativ unbekannten Virus, über dessen Verbreitung man noch nicht allzu viel weiß, da kann man nicht einfach schreiben: ,So ist es. Und deswegen leiten wir daraus folgende Maßnahmen ab.’“ 

Aufgabe des Journalismus sei es außerdem, auch andere Fachgebiete als die Virologie zu berücksichtigen, zum Beispiel Sozialwissenschaften und Psychologie. Sein persönlicher Eindruck sei, dass das in letzter Zeit vermehrt stattfände.

„Ich habe immer noch den Eindruck, dass an vielen Stellen doch ein Verlautbarungsjournalismus stattfindet. Es wird das transportiert, was das Robert-Koch-Institut sagt oder was einzelne Wissenschaftler sagen. Es wird nicht genügend nachgefragt.“

Und weiter: „Wir haben hier einfach das Problem, dass sehr vorläufige Ergebnisse einer sehr vorläufigen Studie, die noch nicht begutachtet ist, die noch nicht irgendwo international publiziert worden ist, dass diese Ergebnisse als Fakt dargestellt werden. Ob dafür jetzt die Wissenschaftler verantwortlich sind oder die PR-Agentur oder die Kollegen aus den Medien, die immer die Chance hätten, kritisch nachzufragen – das mag ich aus heutiger Sicht noch nicht beurteilen.“

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Im Konzert der Virologen der Republik ist Alexander Kekulé aus Halle der Igel. Wie in der Fabel vom Hasen und vom Igel ruft er tagtäglich in irgendeinem Medium „Ick bin all da!“ Er ist immer schon da, wo seine Kollegen erst in einer Woche sein werden. Er hat es immer schon gewußt, dass… Er hat ja schon vor Wochen gewarnt… Er hat bereits damals gesagt… Seinerzeit hat man ihn noch ausgelacht, als… Damals hat man nicht auf ihn gehört… 

Diese rhetorischen Figuren des latenten Beleidigt-seins sind seine Form, Aufmerksamkeit zu generieren. Das ist auf die Dauer ganz schön nervig und es ist sehr sehr schade, denn Kekulé hat ja durchaus einiges Bedenkenswerte zu sagen. 

So zum Beispiel auch in einem interessanten Interview, das er am Dienstagmittag ebenfalls in Deutschlandfunk gegeben hat. Dort kritisiert er die Empfehlung der Leopoldina und wirft der Akademie gravierende Widersprüche vor. Leider versteckt die Redaktion des DLF die Brisanz des Interviews in einer ablenken Schlagzeile, die überdies eine irreführende Behauptung enthält: „Virologe Kekulé sieht Öffnung der Grundschulen kritisch“ – das ist insofern Unsinn, als das Kekule im Gespräch eigentlich für eine Öffnung der Grundschulen ist. Der Virologe macht nur auf die Konsequenzen einer solchen Öffnung aufmerksam, und fordert, diese müsse man in der Gesellschaft offen diskutieren. 

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Kekulé: „Die Leopoldina ist ja an vielen Stellen sehr vage geblieben, auch ganz bewusst. … Ich weiß nicht genau, ob dieses Konzept in sich konsistent ist, ehrlich gesagt. … 

Die Alten sollen keine Bevormundung haben und dürfen deshalb auch nicht speziell isoliert werden, auch die anderen Risikogruppen. Die Kinder in der Kita, die sollen aber zuhause bleiben, weil die Kitas wiederum nicht geöffnet werden sollen, weil man sagt, Kita-Kinder können sich nicht an die Hygieneregeln halten. …

Wenn man die Wunschliste der Leopoldina gerade in dem aktuellen Bericht hier jetzt abarbeiten würde, dann bräuchten wir noch ein Jahr ungefähr, bis wir der Politik konkrete Empfehlungen machen könnten, wie sie den Lockdown beenden, und das ist offensichtlich nicht möglich.“

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