Corona: Brancheninfo 82

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Die Kinos müssen wieder schließen, der „Neustart Kultur“ muss warten. Am Mittwoch verkündeten Bundeskanzlerin und Ministerpräsident*innen die neuen Corona-Einschränkungen. | Screenshot

Die Befürchtungen sind wahr geworden: Am Montag beginnt der „Lockdown Light“, auch Kinos müssen vier Wochen lang schließen. Kulturschaffende protestieren, Politiker verteidigen die Entscheidung. 

Auch wir reagieren auf die neuen Bedingungen und lassen „cinearte“ erneut pausieren. Ab sofort informieren wir Sie wieder mit unserem Newsletter dreimal wöchentlich über die aktuellen Entwicklungen.
Wir danken Ihnen für Ihre Informationen, Ergänzungen und Korrekturen, Fragen und Kommentare, auch wenn wir leider nicht alle persönlich beantworten können. 

 

Erstmal was Schönes: Deutschland hat seinen „Oscar“-Kandidaten! Julia von Heinz’ „Und morgen die ganze Welt“ bewirbt sich um das Goldmännchen für den besten fremdsprachigen Film. Digtalfernsehen würdigt kritisch den „hochbrisanten“ und „schwierigen Antifa-Film“. Und wir gratulieren.

 

Und jetzt stellen wir uns folgendes vor: In einem Waldsee sind wiederholt Menschen ertrunken – trotz Warnschildern und Badeverbot. Die Gemeinde schließt daraufhin das Freibad, die Bademeister*innen gehen in Kurzarbeit oder gleich zum Arbeitsamt.
So ähnlich mögen sich die neuen Maßnahmen anfühlen, die Bundes- und Länderregierungen am Mittwoch beschlossen haben. Die Infektionszahlen sind dramatisch in die Höhe geschnellt.  Schuld sind allen Berichten zufolge „private Veranstaltungen“ zuhause und größere Menschenansammlungen anderswo, nicht aber das betreute Trinken in der Kneipe oder der Ausflug ins Museum. Auch im Kino, das wurde in der vergangenen Woche immer wieder wiederholt, habe sich noch niemand angesteckt [gibt’s auch auf Englisch].
Man könnte also folgern: 1. Gastronomie und Kultur sind eigentlich nicht das Problem. Sie haben die Situation einigermaßen unter Kontrolle. 2. Auch deren Publikum verhält sich entsprechend. Das ARD-„Morgenmagazin“ hatte das Stichwort „Zustimmung“ diese Woche recht anschaulich „kurz verklärt“.
Die Hot-Spots glühen also ganz woanders, die Super-Spreader tummeln sich gerade nicht an den Orten, wo auf Abstand und Hygiene geachtet wird. Dennoch sollen eben diese ab Montag wieder schließen.

Doch wie kann man vermitteln, möglichst alle Kontakte, Reisen und so weiter einzuschränken, lädt aber weiterhin zum Restaurantbesuch oder Kinofilm mit anderen ein? Das Dilemma sieht auch die Kanzlerin, doch sie widerspricht der Darstellung aus der Branche: „Weil in der Diskussion oft gesagt wird, dass bestimmte Bereiche keine Treiber der Infektionen seien, will ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir heute an einem Punkt sind, an dem wir bundesweit im Durchschnitt von 75 Prozent der Infektionen nicht mehr wissen, woher sie kommen. Für 25 Prozent können wir es auflisten. Das heißt, dass man nicht mehr sagen kann – das konnten wir eine Zeit lang sagen –, dass ein bestimmter Bereich überhaupt nicht zur Infektion beiträgt“, erklärte sie in der Pressekonferenz am Mittwoch. 

Das klingt einleuchtend. Die folgende Passage aber nicht: Gerade Gottesdienste seien zu Ausgangspunkten von Infektionsketten geworden, sie seien aber bei den Einschränkungen nicht erwähnt. Es erschien „uns nicht angemessen und vergleichbar, Gottesdienste zu verbieten“, sagte die Bundeskanzlerin lediglich, als Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sich einschaltete: „Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit sind hoch geschützte Güter in unserer Verfassung, deswegen gilt an der Stelle immer auch die besondere Sensibilität gegenüber diesen Freiheiten.“

 

Die Kulturstaatsministerin aber entschuldigte sich in einer Pressemitteilung: „Bei allem Verständnis für die notwendigen neuen Regelungen: für die Kultur sind die erneuten Schließungen  eine echte Katastrophe.“ Kultur sein (neben vielem anderen) das „notwendige Korrektiv in einer lebendigen Demokratie. Gerade das macht sie natürlich systemrelevant.“ Die Kreativen hätten sich „von Anfang an sehr solidarisch und konstruktiv gezeigt, obwohl die Corona-Krise an ihren Lebensnerv geht.“ Sie bräuchten daher jetzt rasche Hilfen wie alle anderen Branchen auch. „Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, sondern das ist vor allem eine Frage der Wertschätzung. Es geht um Tausende Kinos, Privattheater, das gesamte Bühnengeschehen, Clubs, Festivals etc. Und es geht um Millionen Beschäftigte vor und hinter den Kulissen: um Tänzerinnen und Tänzer, Filmschaffende, Bühnenbauer, Gesangstrainer, Chöre und Maskenbildner und viele andere mehr. Es geht um die Existenz für mehr als 1,5 Millionen Menschen, die in unserem Land mehr als 100 Milliarden Euro zum Bruttoinlandsprodukt an Wertschöpfung beitragen und häufig als Soloselbständige arbeiten.“ Es gelte, Einnahmeausfälle in den Kultureinrichtungen schnell, effizient und großzügig zu kompensieren und vor allem endlich „eine passgenaue Förderung für die vielen Soloselbständigen zu schaffen“.

Dreharbeiten sind offenbar auch nicht direkt von den Einschränkungen betroffen, bestätigte eine Sprecherin der BKM auf unsere erste Nachfrage. Welche Auswirkungen die Maßnahmen tatsächlich haben, werden wir in der nächsten Woche verfolgen.

Eines zumindest hat die Politik aus dem ersten Krisenhalbjahr gelernt: Sie denkt diesmal gleich an die Kleinunternehmer und Soloselbständigen, die bislang ignoriert wurden. Bis zu 75 Prozent des Vorjahresumsatzes will der Bund betroffenen Firmen erstatten, laut Bayerns Ministerpräsident Markus Söder gilt die Regelung damit etwa für Kinos und auch Soloselbständige, berichtet „Der Tagesspiegel“.
Mit 10 Milliarden Euro will die Regierung die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Schließungen abfedern. Wie Unternehmen und Selbstständige an die Nothilfe kommen, wer sie beantragen kann und wie viel es gibt, erklärt das „Handelsblatt“.

 

Der Jazzmusiker Till Brönner ist trotzdem sauer. Sagt er selbst in einem Facebook-Video, das jede Minute lohnt. Über sechs Minuten schildert er das Krisenmanagement aus Künstlersicht, was droht, wenn Kultur nicht mehr frei arbeiten und wirtschaften kann, und kommt letztlich zur eigentlichen Frage: Was den Dichtern und Denkern ihre Kultur eigentlich wert ist.
Die Grundsicherung soll es jedenfalls nicht sein: „Wir sind ja nicht arbeitslos, wir waren ja ausgebucht“, sagt Brönner. Auch seinen Kollegen fasst er an die Nase – sie sollen Mitgliedsbeiträge zahlen, auch wenn manche das „uncool“ fänden. Er sei überrascht, „wie auffällig verhalten und geradezu übervorsichtig Bühnenkünstler sich auch nach acht Monaten zu dieser Misere äußern, obwohl ihre Existenz gerade fundamental auf dem Spiel steht. Ich halte diese Zurückhaltung aus unseren eigenen Reihen für fatal, weil sie ein völlig falsches Bild der dramatischen Lage zeichnet, in der sich unser Berufszweig aktuell befindet. Und ich denke, es ist an der Zeit, einmal klarzustellen, worüber wir gerade sprechen. Denn es geht nicht um Selbstverwirklicher, die in ihrer Eitelkeit gekränkt sind.“
Sondern um den zweitgrößten Arbeitgeber unter den Branchen, der mehr als doppelt so viele Menschen wie die Autoindustrie beschäftige. Und eigentlich sei nicht die Kulturstaatsministerin die richtige Adresse für das Anliegen der Kulturschaffenden, sondern Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsministerium. Den Musiker sorgt, „wie unsere Wirtschaft in systemrelevante und -unrelevante Bereiche unterteilt wurde“. Die Politik solle die Kultur endlich auf die Agenda setzen – vielleicht wäre damit Deutschland das einige Land in Europa, „aber das wäre mal ein Impuls“.

Die Sache mit der Systemrelevanz kann jede*r leicht selber nachprüfen: Wie viel Zeit haben wir im ersten Lockdown damit verbracht, Klopapier einzukaufen oder endlich die Kontoauszüge zu sortieren? Und wie viel Zeit mit Netflix, Buch oder Radio? 

Noch nichts Neues meldet das Redaktionsnetzwerk Deutschland und die Deutsche Presseagentur am Mittwoch. Die Fernsehproduzent*innen fordern schon länger einen Corona-Ausfallfonds für TV-Produktionen. Nun könnte es bald eine Entscheidung geben: „Möglichst zeitnah“ solle der Fonds aufgesetzt werden, sagt eine Sprecherin der Staatskanzlei Nordrhein-Westfalens. Allerdings befinden sich Länder, Sender und Produzenten zurzeit noch „in intensivem Austausch“.

 

„Mit dem bedrohlichen Ansteigen der Infektionszahlen steigen auch die Gefahren für die Produktionen.“ Am Montag hatte der Rechtsanwalt Marcus Sonnenschein in „Blickpunkt Film“ die Lage der Produzent*innen geschildert. Das finanzielle Risiko eines Drehabbruchs sei in der momentanen Situation (also auch ohne die neuen Einschränkungen) „unabwägbar“. Beim Lockdown im Frühjahr sei rasch klar gewesen, dass die Einschränkungen und Drehverbote  ein „unabwendbares Ereignis“ waren. Doch bei den aktuellen Drehabbrüchen sei dies unklar. „Insbesondere ist nicht geklärt, ob ein Drehabbruch aufgrund einer Covid-19-Infektion im Hauptcast als ein solch unabwendbares Ereignis gilt. Eindeutige Dienstanweisungen der Bundesagentur (BA) fehlen bislang.“ Die Arbeitsgerichte hätten sich bei einer grundsätzlichen Einordnung der Pandemie als „höhere Gewalt“ „sehr deutlich zurückgehalten und in der Tendenz das Betriebsrisiko in der Sphäre des Produzenten als Arbeitgeber betont.“
Dies betrifft besonders das Thema Kurzarbeit. Die Zustimmung der Behörden erfolgte stets unter dem Vorbehalt einer späteren Überprüfung. „Viele Besonderheiten, die Filmproduktionen mit sich bringen, sind in den Dienstanweisungen der BA nach wie vor nicht berücksichtigt.“

Die Corona-Hygienevorschriften an Film- und Fernsehsets machen direkten Körperkontakt vor der Kamera unmöglich. Bricht nun eine neue Zeit der Prüderie an? „Die Zeit“ sogt sich um Sex-Szenen in Corona-Zeiten und verweist „auf einen reichen Fundus an romantischen und erotischen Vermeidungsstrategien und Ersatzhandlungen“: Die Filmgeschichte sei über weite Strecken ein sehr züchtiges Unternehmen gewesen. „Bis in die Sechzigerjahre war es gesellschaftlich einfach nicht akzeptiert, explizite Szenen wie die in ,Sense8’ zu zeigen; in den USA mussten unterm Diktat des Hays Codes […] sogar Ehepartner ihre Nächte in getrennten Betten verbringen. Nach dem HIV-Schock verflüchtigte sich der Sex zwischen Meg-Ryan-RomComs – verschnupft in der Selbstisolation vorm Computer in ,E-Mail für Dich’ – und dem Parasitenhorror der ,Alien’-Reihe. Noch die heißeste Szene in dem Liebesfilmmeilenstein ,Titanic’, man hatte sich an Safe Sex schon gewöhnt, dauert kaum eine Minute und zieht sich aus Gründen der Reichweitensteigerung auf jugendfreie Bilder zurück.“

 

Die Kinokultur der Zukunft stellt Lars Henrik Gass, in einem furiosen Essay im „Filmdienst“ vor. Der Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage blickt nach Köln, wo der Filmclub 813 und der Kölnische Kunstverein gegeneinander streiten – und zieht seine Schlüsse, wo die Filmkunst überhaupt in Deutschland steht: „Kino wurde im Nachkriegsdeutschland niemals als Kulturbau betrachtet, wie das für ein Museum, eine Philharmonie oder ein Theater zur Regel wurde. Daher konnte man auch das Bürgertum niemals dafür interessieren“, schreibt Gass. „Die Städte, die sich ihre Theater und Museen wie Kirchtürme leisten, sind in fast keinem Kino mehr mit einer institutionellen Förderung oder gar in Trägerschaft engagiert, so auch in Köln nicht. […] Die Kulturbürokratie überließ hier Aufgaben, für die sie selbst hätte Antworten finden müssen, hoffnungslos überforderten gemeinnützigen Strukturen, anders als bei Museen, Philharmonien oder Theatern. Offenbar genügt es, dass Filmkultur irgendwie gemacht wird, nicht aber, wie es sein müsste. Das Versagen von Personen in ehrenamtlichen Strukturen, die teils in prekären Umständen leben und arbeiten, die sich in mühseligen gruppendynamischen Prozessen und der Dynamik einer gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung aufreiben, erachtet man als Problem von Filmkultur, nicht als der Umstände, unter denen sie hergestellt werden muss.“
Sein „Plädoyer für ein radikales Umdenken“ (samt konkreter Vorschläge und „3 Forderungen für die filmkulturelle Grundversorgung“), wir wollen’s nicht anders sagen, ist eine Pflichtlektüre!
Das jüngste „Cinema Moralia 230“ unseres Kollegen Rüdiger Suchsland auf Artechock übrigens auch:  „
Wir erleben gerade den feuchten Traum all jener, die sich weniger deutschen Film wünschen, weniger Verleiher, weniger Filmkunst, weniger Expe­ri­ment, weniger Inde­pendents, weniger Autoren­kino. Ihre Stunde scheint gekommen. Jetzt nutzen sie Corona, um sterben zu lassen, was aus ihrer Sicht nicht lebens­wert ist. Man muss dazu nur die Förder­ent­scheide der letzten Monate lesen, zusammen mit den soge­nannten Hilfs­maß­nahmen. Man muss dies abglei­chen mit den Hilfe­rufen der Tätigen, derje­nigen, die tatsäch­lich Filme machen, oder heraus­bringen.“

 

Drei „Oscars“ hat der mexikanische DoP  Emmanuel Lubezki gewonnen – und zwar in drei Jahren hintereinander. Jetzt macht er Werbung fürs neue I-Phone, genauer: für dessen Kamera. „Als ich begann, Filme zu drehen, musste ich eine sehr teure Kamera mieten, Filmrollen kaufen, fürs Entwickeln zahlen, für Equipment, für den Schnitt“, erzählt er da im Off. „Jetzt kann man mit solchen Geräten tatsächlich rausgehen und einen Film machen.“ Die nun folgende Erwähnung des beworbenen Geräts (das ab 1.120 Euro kosten soll) überspringen wir, denn die folgende Botschaft ist doch sympathisch: So „können Filmemacher auf der ganzen Welt Filme machen, die sonst unmöglich sind, weil Sie nicht über die Mittel verfügen oder weil die Kameras zu schwer oder zu kompliziert sind. Ich denke, der nächste große Kameramann oder der nächste große Filmregisseur macht bereits Filme mit einem dieser Geräte.“ 

Der Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ teilt die Begeisterung: „Gewinner sollen die Kreativen sein, die dann nicht mehr jahrelang an der Filmhochschule lernen müssen, wie sie einen Film drehen können, sondern quasi spielerisch schon als Teenager mit dem Handy in der Hand – wie ein Fußballspieler, der das Kicken nicht in der Jugendakademie der FC Bayern lernt, sondern auf dem Bolzplatz.“ Und stellt noch weiterreichende Überlegungen an, die der Vorspann leider etwas zu simpel zusammenfassen will: „Moderne Telefone wie das neue iPhone sind vollgestopft mit Kameratechnik, für die man früher einen ganzen Lastwagen brauchte. In Corona-Zeiten könnte das die Branche tatsächlich verändern.“

 

Drei Jahre lang hatte Yulia Lokshina an einem Film über Arbeits- und Lebensbedingungen in deutschen Schlachtbetrieben gearbeitet. Im Januar hatte „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“ Premiere beim „Max-Ophüls-Preis“ und wurde als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Dann kam die Pandemie. Auf „Telepolis“ spricht die Filmemacherin über Sprachlosigkeit und Ausbeutung: „Wir lernen ja in der Schule, dass wir einen Sozialstaat haben, der für uns sorgt, und eine soziale Marktwirtschaft und dass damit alles geregelt sei, und zwar alternativlos. Dass dieses System aber auch große Lücken produziert, in dem das ,Soziale’ nicht mehr greift, dafür haben wir oft keine Sprache mehr und sehen dadurch oft auch keinen Handlungsraum. Das wird nicht viel hinterfragt.“ Und: „Anscheinend musste erst eine Pandemie kommen, damit über die Missstände gesprochen wird, die doch seit Jahren bekannt sind. In der Politik und an der Fleischtheke musste man sich für einen kurzen Moment dazu verhalten. ,Wir haben es nicht gewusst’, sagte man dann. Das hat ja auch eine historische Tradition, dass man etwas nicht gesehen hat, was hinter den Zäunen passiert.

Moritz Bleibtreu ist jetzt auch Regisseur. Mit der „Berliner Zeitung“ sprach er über die Arbeit an seinem Debütfilm „Cortex“ und eine grundsätzliche Frage: „Was macht ein Regisseur überhaupt? Alles, was praktisch gemacht werden muss, wenn es kein Autorenfilmer ist, liegt in fremden Händen: Die Geschichte schreibt ein anderer, jemand anderes spielt es, die Ausstattung besorgt ein anderer, Licht und Ton machen wieder andere. Das war eine interessante Erfahrung für mich: Der Regisseur, der ich sein will, sorgt hauptsächlich dafür, dass eine gute Stimmung herrscht, alle gut drauf sind, genug Lob bekommen und das Gefühl haben, etwas geschaffen zu haben. Weil ich schon so lange in dem Beruf bin, konnte in dem Luxus arbeiten, dass ich auf jeder Position Leute wusste, die richtig gut sind.“

Carol Schuler spielt die Profilerin im neuen Schweizer „Tatort“ mit großem Können, meint die „Süddeutsche Zeitung“ und bangt: Ob ein solches Talent dem Sonntagskrimi lange erhalten bleibt? Der „Tatort“ werde weiblicher und jünger. „Allerdings stellt sich immer die Frage, ob ein Netflix-Fan mit so einem betulichen ,Tatort’ etwas anfangen kann oder sich nach wenigen Minuten fragt, in welches Filmmuseum er da eigentlich reingeraten ist. Der ,Tatort’, heißt es, sei das letzte Lagerfeuer im Fernsehen, an dem die Gemeinde sich sammelt und wärmt. Wenn man die Quoten anschaut, ist da immer noch was dran. […] Allerdings, auch das gehört zum ganzen Bild: Die Qualität der Geschichten kann oft nicht mithalten mit der Qualität der Schauspieler, auch deshalb quittieren Ermittler manchmal nach relativ kurzer Zeit ihren Dienst.“

 

Gefühlt stellen Streamingangebote mehr Diversität dar als lineares Fernsehen – aber ist das wirklich so? Die Medienwissenschaftlerin Elizabeth Prommer stellte vorige Woche die Studie „Geschlechterdarstellungen und Diversität in Streaming- und SVOD-Angeboten“ vor. „Untersucht wurden 200 internationale und deutsche Serien von Netflix, Amazon, Sky und TNT Deutschland zwischen 2012 und 2019. Welche Serien untersucht und nach welchen Maßstäben sie ausgesucht wurden, geht aus den Ergebnissen nicht hervor“, erklärt die „Taz“ und fasst das Ergebnis zusammen: „Das Gefühl, dass Serien vielfältigere Lebensrealität abbilden, bestätigt sich zum Teil. Doch es ist noch genug Luft nach oben – vor allem bei deutschen Produktionen.“ Da lag der Anteil der weiblichen, zentralen Rollen bei 35 Prozent, weltweit bei 42, in Asien sogar über 45 Prozent.
„Auch Streaming-Serien spiegeln nicht die Gesellschaft wider: Frauen sind weniger vielfältig dargestellt als Männer. Sie kommen seltener vor, sind jünger, schlanker und nur in bestimmten Berufen zu sehen“, findet Prommer. Auch Homosexualität ist lieber männlich, andere Geschlechtsidentitäten tauchen so gut wie gar nicht auf. „Und was die Sichtbarkeit ethnischer Vielfalt betrifft, dominiert die jeweilige Mehrheitsbevölkerung.“
Die Studie wurde von ZDF, Film- und Medienstiftung NRW und der MaLisa-Stiftung gefördert. Deren Mitgründerin, die Schauspielerin Maria Furtwängler, kommentiert das Ergebnis: „In einigen Punkten mögen internationale Streaming-Angebote insgesamt diverser sein als die klassischen, linearen. Bei der Darstellung von Frauen sind sie es jedoch keineswegs.“ 

Unterdessen haben amerikanische Forscher*innen herausgefunden: Streaming fördert die Frauenquote! Das „Center for the Study of Women in Television and Film“ an der San Diego State University untersucht alljährlich die vergangene Fernsehsaison.  Im 23. Jahr mehr als 4.100 Fernsehcharaktere und über 4.200 genannte Beschäftigte hinter den Kulissen. Die Agentur „Teleschau“ berichtet:„Demnach würden Streaming-Dienste nicht nur mehr hochwertige Rollen für Frauen anbieten, die Wahrscheinlichkeit einer weiblichen Hauptfigur sei sogar gleich hoch wie die eines männlichen Hauptdarstellers. Im Vergleich dazu sei die Anzahl der weiblichen Protagonisten im Kabelfernsehen mit 29 Prozent geringer als die der männlichen (37 Prozent). Auch hinter den Kulissen haben Streaming-Dienste bei der Frauenquote die Nase vorn: 35 Prozent aller Regisseure, Autoren, Produzenten, ausführenden Produzenten, Redakteure und Kameraleute seien hier, der Studie zufolge, Frauen. Beim Kabelfernsehen betrüge diese hingegen nur 31 Prozent, beim Antennenfernsehen sogar nur 30 Prozent.“
Allerdings: Bei dem Führungspositionen sei das gesamte Verhältnis der Geschlechter weiterhin traurig: So hätten 94 Prozent der Programme über alle Plattformen hinweg keine Kamerafrauen, 76 Prozent keine Regisseurinnen, und 73 Prozent keinen weiblichen Creator. Dies sei insofern wichtig, da die Forscher zudem herausfanden, dass in Programmen mit mindestens einer Produzentin oder Creator auch mehr Protagonistinnen und mehr Frauen hinter den Kulissen beschäftigt waren.
Auch beim Inhalt fällt das Ergebnis deutlich negativer aus: Noch immer würden in vielen Sendungen stereotype Konstellationen gezeigt, in denen die Frauen für den Haushalt und die Männer für den Erwerb des Lebensunterhalts verantwortlich sind. Weibliche Figuren waren tendenziell jünger als die männlichen: Nur 30 Prozent der Frauen seien 40 Jahre oder älter gewesen – bei den Männern waren es 45 Prozent. Das Alter von 60 Jahren oder älter hatten sogar nur drei Prozent der weiblichen Figuren und immerhin acht Prozent der Männer erreicht.

 

Netflix inszeniert sich gerne als die gute digitale Plattform. Aber ist der amerikanische Streaming-Konzern wirklich vertrauenswürdiger als Konkurrenten wie Google und Facebook? Letztlich sei nur das Geschäftsmodell ungefährlicher, meint die „Süddeutsche Zeitung“: „Zuerst ist Netflix allerdings eine Plattform, streng ökonomisch heißt das: ein Marktplatz, auf dem verschiedene Angebote um Aufmerksamkeit werben. Zwar trifft der Algorithmus eine individuelle Vorauswahl, trotzdem kommt der heikelste Moment jeder ,Kundenreise’ immer dann, wenn nicht mehr klar ist, was als Nächstes geguckt werden soll. Das erklärt die Tendenz zur Serie. Und es erklärt, warum Filmemacher berichten, dass Netflix bei der Abnahme in erster Linie auf „Key Visuals“ achtet, also auf die Trailer und Teaser, die Abonnenten zu den Angeboten des Dienstes verführen sollen. […] Die ,Bild’-Zeitung ist öde gegen das, was Netflix zu bieten hat. Das ist zwar nicht immer wahr, aber aufregend – also mit algorithmischer Präzision auf unsere Belohnungszentren zugeschnitten.“

Schon 1940 hatte Alfred Hitchcock „Rebecca“ verfilmt und den lesbischen Subtext des Romans aufgegriffen. Vorige Woche stellte Netflix seine Neuverfilmung vor. Die „Taz“ ist enttäuscht: es gebe zwar queeren Subtext, doch „80 Jahre nach Hitchcock weniger freimütig zu sein, wäre andererseits auch eine Enttäuschung gewesen.“ Ansonsten würden altbekannte Abhängigkeitsmuster romantisiert und altbackene Frauenbilder gezeigt.

Seit seiner Veröffentlichung Anfang Oktober auf Netflix ist ein Film aus Nigeria zum Überraschungserfolg geworden. Der Regisseur Kenneth Gyang erzählt von Prostitution und Menschenhandel, und die „Taz“ staunt: „Radikal richtet ,Òlòturé’ seinen Blick auf das Hässliche in der Welt. Gemacht ist er im dokumentarischen Cinema Verité-Stil, oft gedreht nur mit der Handkamera, atmosphärische Bilder aus Nigeria gibt es so gut wie keine. Und im Original ist der Film in Pidgin, dem englischen Dialekt in Nigeria, bei dem auch englische Muttersprachler sich erst einhören müssen.“ Doch ein paar Tage nach der Veröffentlichung stand er schon auf Platz 7 der meistgesehenen Spielfilme auf Netflix. „In 26 Ländern gleichzeitig, und dabei in so verschiedenen wie Frankreich, Saudi-Arabien und Vietnam, war der Film in den Top Ten. Zwei Wochen nach der Veröffentlichung sind es noch ein halbes Dutzend Länder mehr.“ Und sei damit der erste nigerianische Film überhaupt, der international breite Beachtung findet.
„Das Naserümpfen der Filmpuristen“ über Netflix, das das Kino bedrohe, teilt der Regisseur nicht. „Für uns alternative nigerianische Filmemacher ist Netflix eine großartige Sache. Mein erster Film ,Confusion Na Wa’ zum Beispiel war nicht einmal in nigerianischen Kinos zu sehen. Anspruchsvolle Filme, die sonst nie einen Vertrieb gefunden hätten, sind auf Netflix auf einmal für viele zugänglich.’

Dazu ein Tipp fürs Wochenende: Noch bis Montag läuft die Umfrage zur Vielfalt im Film. Die erste große Online-Befragung soll Diversität und Diskriminierung vor und hinter der Kamera sichtbar machen. Mehrere tausend Filmschaffende aus allen Gewerke haben bereits ihre Erfahrungen und Ideen zum Thema eingebracht. Mehr dazu gibt’s auf Youtube.

 

„ARD und ZDF haben zu lange im Kulenkampff-Modus verharrt. Es wird Zeit, in den Netflix-Modus umzuschalten.“ Das hatte Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow im Gespräch mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gesagt [Bezahlschranke]. Doch die Mediatheken allein werden die Öffentlich-Rechtlichen nicht retten, meint DWDL: Die Hälfte der Nutzerinnen der ZDF-Mediathek (und sogar noch etwas mehr beim Angebot ARD Mediathek) sind über 50 Jahre alt – bei Netflix sind es 13, bei Amazon Prime 15 Prozent.
Bei den 50- bis 69-Jährigen verzeichneten die Mediatheken auch ihre größten Zuwächse. Doch auch die Streaming-Anbieter hätten „ihr Interesse für Zielgruppen erkannt haben, deren vorrangiger Aufmerksamkeit sich ARD und ZDF bislang weitgehend sicher fühlen konnten.“ Die ARD bewege sich, „wenn man ganz genau hinsieht“, doch um zu überleben, müssten die Sender nicht „,in den Netflix-Modus umschalten’; sondern bloß konsequent umsetzen, was sie längst erkannt haben: Dass es für sich verändernde Sehgewohnheiten nicht nur neue Plattformen braucht. Sondern auch andere Inhalte.

Früher erzählte das Fernsehen mal mehr Geschichten über die Zukunft. „Da wurde mit den Mitteln der Fiktion die gesellschaftliche Zukunft verhandelt – um 20:15 Uhr im deutschen Fernsehen“ sagt Christian Granderath, Fiction-Chef des NDR. Mit seinem SWR-Kollegen Manfred Hattendorf bringt er eine Reihe von Near-Future-Filmen ins Erste. Weshalb dieses Genre vernachlässigt wurde, was die Streamingkonkurrenz damit zu tun hat und warum Schriftsteller helfen mussten, erklären sie DWDL im Interview. Nochmal Granderath: „Wir haben einer bestimmten Erzählform sehr lange keinen Platz eingeräumt und diesen Kreativmuskel bei uns nicht bedient. Auch bei dieser gemeinsamen Initiative von SWR und NDR war es nicht so, dass andere Häuser sofort begeistert ,hier’ gerufen hätten. Die jahrelange Zurückhaltung mag damit zu tun haben, dass für überzeugende Zukunftsstoffe in der Regel höhere Budgets notwendig sind, dass der Vergleich mit herausragenden Hollywood-Produktionen einschüchtert und dass die ungebrochene Krimilust unserer Zuschauer uns nicht zwingend in neue Genres getrieben hat.“

„Ich bin mir selbst nicht ganz geheuer“, sagt der Schauspieler Friedrich Mücke, meint aber nur seinen Umgang mit dem Smartphone: wie es „mein Leben strukturiert und wie wenig ich das infrage stelle.“ Um die digitale Welt ging’s in seinem jüngsten Film „Exit“, und darum drehte sich auch das Interview mit dem „Tagesspiegel“. Und was der Schauspieler selbst so schaut: „Mein Medienkonsum wandelt sich ständig. Jetzt gerade kaufe ich mir alte Achtziger-Serien auf DVD, weil die nirgends zu sehen sind. Aber mein Tablet ist mit allen Streamingdiensten voll ausgestattet. Das ist zwar auch beruflich bedingt, zeugt aber vom Problem meiner Generation, sich auf Langfilme einzulassen. Ich kann ja kaum noch zählen, wie viele Serien ich begonnen und während der ersten Folge beendet habe.“

 

Streaming ist Disney wichtiger als Kino und Fernsehen, stellt die „Medienkorrespondenz“ fest – und Rechnung könne aufgehen kann: „Disney plus ist noch nicht einmal ein ganzes Jahr auf dem Markt und hat weltweit schon über 60 Millionen Abonnenten, womit die Schätzungen der Experten weit übertroffen wurden. Netflix hat derzeit rund 195 Millionen zahlende Nutzer.“ Mitte Oktober hatte der Konzern über eine grundsätzliche Umorganisierungen der Unternehmensstruktur informiert, „die das Schema, wie Film- und Fernsehproduktionen zukünftig hergestellt und ausgewertet werden, auf den Kopf stellen.“ Die detaillierte Beschreibung der zukünftigen Aktivitäten mache„sonnenklar: Nicht mehr die Einspielergebnisse der Kinos werden im Mittelpunkt der kommerziellen Bewertung eines Projekts stehen, sondern die Nutzbarkeit auf den Streaming-Plattformen des Unternehmens.“ 

Mit zusätzlichen Rassismus-Warnungen hat Disney seine Filmklassiker auf der eigenen Streamingplattform versehen, meldet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“: „Bevor Zuschauer etwa ,Peter Pan’ oder ,Aristocats’ anschauen können, wird ihnen ein Text angezeigt, der sie auf die herabwürdigende Darstellung von Minderheiten in den Zeichentrickfilmen aufmerksam macht.“ Schon früher habe das Unternehmen auf „veraltete kulturelle Darstellungen“ in seinen Filmen hingewiesen.

Es gibt Serien, die während der Dreharbeiten zu einer neuen Staffel abgesetzt werden. Andere schaffen es trotz Erfolges noch nicht mal über eine erste Staffel hinaus. Dahinter steckt offenbar System, überlegte „Die Welt“ und erklärt, wie aufmerksam Netflix seinen Zuschauer*innen beim Zuschauen zuschaut. „Eine Serie wie ,Glow‘ könne daher von den Filmkritikern noch so sehr gefeiert werden. Wenn die Zahlen nicht stimmen, ist sie für Netflix nicht mehr nützlich – so drastisch das auch klingen mag.“

 

Die Uhr steht längst auf Mitternacht, doch die Lieblingsserie läuft noch immer. Binge-Watching oder auch Komaglotzen dürfte jeder Serienfan schon einmal praktiziert haben. Für viele ist Serienmarathon ein „Zufluchtsort vor dem stressigen Alltag“, wurde in mehreren Umfragen ermittelt. Doch was sagt die Wissenschaft dazu? Das Redaktionsnetzwerk Deutschland sah sich verschiedene Untersuchungen an und fanden als Antwort so ziemlich das Gegenteil: Binge-Watching wirke über dieselben Kanäle wie andere Süchte und trage wohl auch zu Schlafstörungen bei.
Dennoch sei nicht alles schlecht. Ein Serienmarathon blockt auch die Alltagssorgen ab, ist in Gesellschaft nochmal schön und „zudem könnten die Handlungen der geschauten Serien zu besserer psychischer Gesundheit führen.“ „Binge-Watching kann gesund sein, wenn Ihr Lieblingscharakter auch ein virtuelles Vorbild für Sie ist“, erklärt Psychologin Carr.

Mit Trickbildern und Projektoren zogen die Brüder Skladanowsky durchs junge Kaiserreich und brachten die Bilder zum Laufen. Vor 125 Jahren nahm das Kino seinen Anfang im Varietétheater „Wintergarten“ in Berlin. Der Deutschlandfunk nimmt sich eine Stunde für das Jubiläum und blickt auch in die Zukunft.

 

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