Filmschnitt: Zeit im Bild

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Heidi Handorf begann in den frühen 1970ern in München als Schnittassistentin und arbeitete mit einigen der renommiertesten Filmeditor*innen der Zeit zusammen. Besonders mit dem Regisseur Reinhard Hauff verbindet sie eine besonders nachhaltige, kreative Zusammenarbeit. Das Festival Filmplus zeichnet die Editorin an diesem Wochenende für ihr Lebenswerk mit dem „Ehrenpreis Schnitt“ und einer Hommage aus. | Foto © Werner Busch

Heidi Handorf begann in den frühen 1970ern in München als Schnittassistentin und arbeitete mit einigen der renommiertesten Filmeditor*innen der Zeit zusammen. Besonders mit dem Regisseur Reinhard Hauff verbindet sie eine besonders nachhaltige, kreative Zusammenarbeit. Das Festival Filmplus zeichnet die Editorin an diesem Wochenende für ihr Lebenswerk mit dem „Ehrenpreis Schnitt“ und einer Hommage aus. | Foto © Werner Busch

Das Thema RAF und linker Terrorismus war im Erscheinungsjahr des Spielfilms Stammheim, beinahe zehn Jahre nach dem „Deutschen Herbst“ 1977, allgegenwärtig. Nicht zuletzt durch das Buch „Der Baader-Meinhof-Komplex“, das der spätere Spiegel-Chefredakteur und heutige Herausgeber der „Welt“, Stefan Aust, 1985 veröffentlicht hatte, wenige Monate vor der Filmpremiere. Er war auch der Drehbuchautor von „Stammheim“ und übernahm viele Dialoge direkt aus den Gerichtsprotokollen des wohl spektakulärsten Prozesses der deutschen Nachkriegsgeschichte. Das Projekt war für Filmförderung, Sender und Produzent*innen ein Tabu und wurde erst durch Jürgen Flimm möglich, den damaligen Intendanten des „Thalia“-Theaters, der den Film als Koproduzent unter anderem mit seinem Schauspieler-Ensemble unterstützte.

Die Premiere von „Stammheim“ auf dem Kampnagel-Gelände in Hamburg ist Heidi Handorf in lebhafter Erinnerung geblieben: „Es herrschte große Unruhe. Es gab viele Störer aus dem Umfeld der Hafenstraße, die keine Karten für die Vorführung bekommen hatten und gegen die Türen drückten. Im Kino hörte ich, dass die Kopie des Films geklaut worden war und man gerade aus einem anderen Kino eine neue Kopie beschafft hatte. Die Akte mussten erst in der Vorführkabine, die auf einem hohen Podest stand, von mir per Hand aufgerollt werden. Ich war so nervös, dass ich manchmal gar nicht wusste, in welche Richtung ich den Film rollen sollte. Im Publikum waren viele bekannte Premierengäste wie Klaus Bölling und Günter Grass, der sofort aufsprang und weglief, als der erste Böller krachte. Als der Film dann endlich starten sollte, bemerkten wir, dass jemand die Tonkabel durchschnitten hatte, und die Vorführung wurde abgesagt.“
Die Gerichtsszenen des Films, die in einer theaterbühnenhaft gestalteten Halle mit zwei Kameras gedreht wurden, inszenierte Regisseur Reinhard Hauff in einem rasanten Tempo. Sogar eine Stoppuhr kam zeitweise zum Einsatz, um die Schauspieler*innen besonders schnell sprechen und agieren zu lassen. Amerikanische Gerichtsfilme mit ihren feurigen Rededuellen waren das erklärte Vorbild, deutsche Betulichkeiten sollten vermieden werden.

Handorf übernahm in ihrer Montage das hohe Tempo der Inszenierung für die Gerichtsszenen, unterstrich im Gegenzug durch ihre Bild- und Tongestaltung aber besonders ruhige Zwischensequenzen, die mehr als nur Szenenübergänge sind. In ihnen umfährt die Kamera die trostlose, betonklötzige Haftanstalt oder zeigt stumme Szenen auf den Fluren oder in den Zellen der Gefangenen. Erst der Einsatz von solchen strategisch platzierten, konterkarierenden Szenen gibt den Zuschauer*innen die Möglichkeit, das zumeist hektische Geschehen im Gerichtssaal zu reflektieren. Und deutet immer wieder auch die düsteren Gedanken der Gefangenen an, die sich schließlich selbst umbringen werden.

Das Drehen mit zwei Kameras sparte der Produktion natürlich Zeit und damit Geld. Diese Arbeitsweise bot Handorf aber auch besonders viel Material zur Auswahl, insbesondere in den „Reaction Shots“ der Richter, deren eiserne Blicke und Gesten dem Furor der Angeklagten gegenüberstehen. Dies eröffnete in der Montage viele Möglichkeiten, die Machtverhältnisse zwischen beiden Seiten auf subtile, filmische Weise zu erzählen.

Die Angeklagten führen gekonnt immer wieder die Richterbank mit dem Vorsitzenden Prinzing vor, der von Ulrich Pleitgen gespielt wird. Die wahrscheinlich schwierigste Rolle im Film – auch für die Editorin. Denn dieser Richter ist eigentlich eine schwache Figur, die man allzu einfach vollständig der Lächerlichkeit preisgeben könnte. Etwa in dem Moment, wenn er sich beim Protokollanten ungeschickt rückversichert, dass er gerade von der Angeklagten Ensslin „eine alte Sau“ genannt worden sei, ergänzt mit einem „bitte, ich will das festgestellt haben“. Handorf zeigt die Figur des Richters in großen Nöten und mit peinlichen Schwächen, gibt ihm in wichtigen Szenen durch gehaltene Pausen und ernste Blicke aber immer wieder einen Anschein von Ernsthaftigkeit und Würde zurück.
Hier und in sämtlichen Szenen war es für die Editorin besonders wichtig, die Gesamtheit der Filmerzählung zu überblicken, um immer wieder zu gewichten, wann eine der Figuren besonders schwach, lächerlich, störend oder brutal wahrgenommen werden soll. Ohne eine klare eigene Haltung der Editorin zu den Figuren wäre das nicht möglich. Gleichzeitig darf das Unbestimmte seinen Raum im Film haben: Wann bringen die RAF-Mitglieder die Justiz wirklich in Verlegenheit, wann sind ihre Tiraden reine Ablenkung? Nicht immer will der Film dies klar beantworten.

„Stammheim“ gewann den „Goldenen Bären“ bei der Berlinale 1986 – allerdings erklärte die Jury-Präsidentin Gina Lollobrigida noch auf der Bühne, sie habe gegen den „lausigen“ Film gestimmt. Der bald darauf angesetzte Kinostart wurde von Stinkbombenanschlägen und Drohungen gegen Kinos begleitet, von denen einige den Film aus Angst vor Übergriffen tatsächlich nicht spielten.

Politische Themen hatten Heidi Handorf schon immer beschäftigt und bereits in ihrer Ausbildungszeit auch gestalterisch. Bei der Wochenschau in Hamburg erlernte sie Anfang der 1970er-Jahre als angehende „Cutter-Assistentin“ die Vertonung, das Anlegen von Musik, den Negativschnitt und nahm sogar Sprecher für das Nachrichtenformat auf. Auf ihrem Schneidetisch landete jede Woche neues Material aus Bonn und der ganzen Welt. Der Kniefall von Willy Brandt in Warschau im Dezember 1970 lief ebenso über ihren Schneidetisch wie viele andere Ereignisse des hochpolitischen Zeitgeschehens.
Bald nach ihrem Umzug nach München im Jahr 1972 begann sie als Assistentin mit einigen der renommiertesten Filmeditor*innen der Zeit zusammenzuarbeiten: darunter Peter Przygodda, Inez Regnier, Beate Mainka-Jellinghaus und Jane Seitz, mit der sie 1974 an „Die Verrohung des Franz Blum“ arbeitete. Es war die erste von vielen Kollaborationen mit Reinhard Hauff, dem sie bis heute freundschaftlich verbunden ist.

Ihre erste alleinverantwortliche Montagearbeit war 1976 der Fernsehfilm „Ich heiß’ Marianne, und du …?“ für die Regisseurin Uschi Reich. Bald darauf montierte sie für Herbert Achternbusch, eine der besonders illustren Figuren der an illustren Figuren nicht eben armen Münchner Filmszene, die Spielfilme „Der Komantsche“ (1979) und „Der Neger Erwin“ (1981). Eine angenehme Zusammenarbeit, wie sie sich heute erinnert. Neben der angenehmen Person Achternbuschs war dies auch dem Umstand geschuldet, dass die beiden Filme mit ihren eher spärlich aufgelösten Szenen auch keine Wundertaten im Schneideraum verlangt hätten.

Diese Wundertaten warteten erst bei ihrem nächsten Projekt mit dem Regisseur Edgar Reitz auf sie. Aus einer künstlerischen Krise heraus hatte dieser die Idee und schließlich die Drehbücher (mit Peter Steinbach) für „Heimat – Eine deutsche Chronik“ entwickelt. Sie beschreibt die Lebenswege einiger Familien in dem fiktiven Hunsrückdorf Schabbach vom Ende des ersten Weltkriegs bis in die Jetztzeit 1982. Figuren, die zu Beginn der elfteiligen Serie noch Kinder oder nicht geboren sind, werden später erwachsene Protagonist*innen sein. Die Jahre vor, während und nach dem Nationalsozialismus sind nicht nur zeitlich zentral bei „Heimat“ und werden vielschichtig durch die zahlreichen Protagonist*innen beleuchtet.

Handorf arbeitete für das Projekt eineinhalb Jahre im Hunsrück, von Mai 1981 bis November 1982, dann ein weiteres Jahr in München. Die augenscheinliche gestalterische Besonderheit der Filme sind die oft und manchmal scheinbar willkürlich eingesetzten Wechsel zwischen Schwarzweiß- und Farbaufnahmen. Sie entstanden allerdings nicht in der Postproduktion, sondern wurden von Kameramann Gernot Roll so in 35 Millimeter gedreht. Viele schwarzweiße Nachtaufnahmen wurden jedoch farblich eingetüncht, Farbaufnahmen konnten nachträglich in Schwarzweiß umgewandelt werden.

Schnell wurde im Montageprozess klar, dass die Komplexität der Handlung und der Figurenkonstellationen im Wandel der Dekaden einen Erzähler nötig macht, der zu Beginn jeder Folge das Geschehene rekapituliert und einen Ausblick gibt, was den Zuschauer*innen in der kommenden Episode erwartet. Hierfür wurden in München Szenen nachgedreht, in denen die Figur Glasisch Fotos betrachtet, während sie aus dem Off (in stark vom Hunsrücker Dialekt eingefärbtem Hochdeutsch) ihre Sicht der Dinge wiedergibt.

Die an Originalschauplätzen im Hunsrück entstandene Serie brachte einige regionale Darsteller*innen zum ersten Mal vor die Kamera. Zusammen mit erprobten Schauspielern*innen wie Marita Breuer in der Hauptrolle sprechen sie alle eine abgemilderte Form dieses Dialekts. Synchronaufnahmen waren hierfür jedoch nicht nötig. Noch ungewöhnlicher: kein einziger Synchronton wurde in der Postproduktion von Heimat benötigt. Was zum einen an der minutiösen Arbeit der Editorin lag, die zur Not jedes Schrittgeräusch nachschnitt, bis es passte, und zum anderen an dem herausragenden Tonmeister Gerhard Birkholz.

Rund fünfzehneinhalb Stunden wurde die fertige Filmserie lang, wobei die Länge der elf Episoden recht freizügig zwischen einer Stunde und mehr als zwei Stunden variieren durfte. Eine Freizügigkeit, die man heute auch bei aufwendigen Fernsehproduktionen in der Regel vergeblich sucht. In Anbetracht des sofortigen durchschlagenden Erfolgs von Heimat schienen die langen Jahre der Arbeit an diesem Projekt für Handorf gut investiert gewesen zu sein. Neben „Stammheim“ erschienen im Jahr 1986 noch zwei weitere von Handorf montierte Kinofilme: „Tomaso Blu“ von Florian Furtwängler und „38 – Auch das war Wien“ von Wolfgang Glück – der erste österreichische Film, der für einen „Oscar“ nominiert wurde. Das Politdrama spielt zu der Zeit, als Österreich Teil des „Dritten Reichs“ war.

Nach weiteren Filmen für Reinhard Hauff wie dem Politthriller „Blauäugig“ (1989) wechselte Handorf in den 1990ern nicht nur zum digitalen Schnitt, sondern auch immer mehr zu Fernsehfilmen und -serien. Allein für Matti Geschonneck montierte sie zehn Filme, etwa den hochgelobten Thriller „Angst hat eine kalte Hand“ (1996) der ihr eine von insgesamt drei Nominierungen für den „Deutschen Kamerapreis“ bescherte.

Mehrfach arbeite sie in diesen Jahren auch mit den Regisseuren Bernhard Sinkel und Oliver Storz zusammen. Letzterer inszenierte mit „Im Schatten der Macht“ (2003) einen TV-Zweiteiler, der die 14 Tage vor dem Rücktritt von Bundeskanzler Willy Brandt im Zuge der Guillaume-Affäre teilweise fiktional als düsteren Intimblick in die Entscheidungsstuben der Bundesrepublik erzählt. Wieder Brandt.

Und wieder ein wichtiges Kapitel der Zeitgeschichte. Handorf kann sich nicht erinnern, jemals ein Angebot für einen Film ausgeschlagen zu haben, der einen politischen Inhalt hatte. Doch davon gab es in den über 40 Jahren ihrer beruflichen Laufbahn nie zu viele.

Das Festival Filmplus zeichnet die Editorin an diesem Wochenende für ihr Lebenswerk mit dem „Ehrenpreis Schnitt“ und einer Hommage aus. 

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