Der öffentlich-rechtliche Rundfunk gehört uns nicht

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Julia von Heinz 2013 bei den Dreharbeiten zu „Hannas Reise“. Ende November 2019 erhielt die Autorin, Regisseurin und Produzentin auf dem Fernsehfilmfestival Baden-Baden den „Hans-Abich-Preis für herausragende Verdienste um den Fernsehfilm“. | Foto © Zorro Film

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist eine der großen Errungenschaften unserer Demokratie. Er hat die wichtigsten deutschen Spielfilme der letzten Dekaden hervorgebracht. Filme, die »Oscars« gewannen und den Cannes-Wettbewerb. Filme und Serien, die Generationen geprägt und begeistert haben. Um neue Talente zu entdecken und zum Erfolg zu führen, fahren Redakteure öffentlich-rechtlicher Sender auf Kurzfilmfestivals, und sie besuchen die Messen der Filmhochschulen. Über Jahre betreuen sie Dutzende Fassungen eines Debütspielfilms. Kein anderer Player hat solches Engagement und solche Erfolge vorzuweisen.

Schmückt sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit diesen Verdiensten und Erfolgen? Manchmal könnte man meinen, er versteckt das spannende und preisträchtige Programm regelrecht zu nächtlicher Stunde, denn es passt oftmals nicht ins Programmschema und gefährden so die Quote.

Was würden wir über einen Autokonzern denken, der viel Geld in Forschung und Entwicklung von Talenten investiert, nur um diese nach ihren ersten Erfolgen an ihre Konkurrenten zu übergeben, weil ihre Ideen nicht in bestehende Formate passen, weil das Zielpublikum zu spitz sei, weil Experimente die Quote sinken lassen?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk setzt seit 1984, als Reaktion auf die damals entstandenen Privatsender, auf die neoliberale Quote der Marktanteile. Diese drückt den Willen der Mehrheit aus, die das lineare Fernsehen nutzt. Nach dieser Quote werden weitere Entscheidungen darüber getroffen, wie das fiktionale Programm zu gestalten sei, sie ist der Maßstab aller Dinge.

Aber wer ist diese Mehrheit? Die Mehrheit sind heute Menschen im letzten Drittel ihres Lebens und diese sind – noch – einigermaßen zufrieden mit dem, was ihnen hier geboten wird. Ein Programm, immer noch ausgedacht und inszeniert zu über 70 Prozent von weißen heterosexuellen Männern aus Westdeutschland zwischen 40 und 60, ihre Perspektive wiederspiegelnd. Ich finde diese Perspektive wichtig und sehenswert! Aber andere Perspektiven nicht weniger.

Eine Redakteurin erklärt, wenn es eine Frauen-Quote gäbe, dann bitte auch eine Quote für »Ausländer und Homosexuelle«. Das halte ich für einen innovativen Gedanken.

Folgt statt einer aussterbenden Marktquote, welche die Quote der älteren Generation ist, einmal versuchsweise anderen Quoten: Indem man zum Beispiel anteilig migrantische Perspektiven zu Wort kommen lässt – diese machen 25 Prozent der Bevölkerung aus. Oder weibliche – das sind 51 Prozent. Es könnte auch eine Quote für schwule und lesbische Perspektiven geben oder für junge Menschen zwischen 15 und 30, das sind immerhin etwa 22 Prozent der Bevölkerung, sie wüssten die innovativeren und experimentelleren Formen aus der Nachwuchsnische sicher zu schätzen, und es sind die, die über die Zukunft des Mediums entscheiden!

Die Streamer wissen das und binden mit jeder neuen Serie neue junge Zuschauer und Gruppen an sich, die sich in den einheitlichen Perspektiven, die ihnen in ARD und ZDF geboten werden, nicht mehr wiederfinden. Netflix hat Diversität und Gleichstellung als Kriterium definiert. Warum? Das ist nicht nur eine Frage der political correctness, sondern auch eine wirtschaftliche Frage. Der Konzern weiß, dass durch die Öffnung zu neuen Bilderwelten mehr und jüngeres Publikum angesprochen werden kann. Weil sie die Innovationskraft kennen von Menschen, die bisher nur vom Rand aus zuschauen durften.

Junge Leute haben den Anspruch, sich und ihre Perspektive auf die Welt im Programm wiederzufinden. Und wenn sie das nicht können, werden sie weder protestieren, noch Leserzuschriften schicken. Sie schalten einfach dort hin um, wo sie diese finden.

Und so trägt sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk selbst zu Grabe. Aber das dürfen wir nicht hinnehmen, denn der öffentlich-rechtliche Rundfunk gehört uns nicht. Er gehört der nachfolgenden Generation, die wir sehenden Auges von ihm entfremden.

Nur an die eigene Dienstzeit zu denken (»bis ich pensioniert bin, wird es schon noch gutgehen«) ist ein Vergehen an denjenigen, die diese Institution eines Tages noch viel dringender brauchen werden als wir heute.

»How dare you?« würde Greta sagen. Wie können wir, sehenden Auges ein demokratisches Instrument, das uns von den Alliierten aufgezwungen wurde und das wir heute nötiger brauchen denn je, sterben lassen?

So weiterzumachen wie bisher, ist riskanter als praktisch jedes Risiko, das man mit einer Kehrtwende eingeht, und noch ist es nicht zu spät. Lasst Diversität ins Programm, zeigt Perspektiven, die sich nicht sofort in eine Marktquote übersetzen lassen, aber für die ihr geliebt werdet, weil sie der Ausdruck einer Generation ist, die unsere Gegenwart und Zukunft gestaltet.

Folgt jetzt den Beispielen der Streamer und hört ab sofort auf, die Marktanteilsquote zu veröffentlichen, die einem veralteten System angehört. Wer, wenn nicht der öffentliche-rechtliche Rundfunk, kann sich das erlauben?

 

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