Cinema Moralia – Folge 71: Was heißt Alternativlosigkeit?

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Katharina Thalbach merkelt entschlossen als Kanzlerin (in Der Minister) - © SAT.1/Hardy Brackmann

Unter Zombies: Der Wahlkampf und das Kino der Alter­na­tiv­lo­sig­keit – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kino­ge­hers, 71. Folge

»Aufrich­tig­keit ist die erste Pflicht des Kritikers.« – Marcel Reich-Ranicki

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»Nur die aller­dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.« Etwas abge­hangen dieser Sponti-Spruch, schon klar, aber hoffen wir mal, dass da am Sonntag keiner etwas tut, was er später bereut. Die Metzger sollen noch mal schön ein bisschen warten.

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Die meisten Deutschen finden den Bundes­tags­wahl­kampf lang­weilig, meldet die Kölnische Rundschau. Viel­leicht ist es ja gar nicht der Wahlkampf, viel­leicht sind ja auch einfach die Leute lang­weilig, die Wähler. Aber stimmt ja: Wähler­be­schimp­fung kommt gar nicht gut an, Leser­be­schimp­fung also auch nicht, man muss den dummen Leuten sagen, dass sie klug sind. »Die Köchin soll den Staat regieren können«, hat schließ­lich schon Lenin gesagt. Die Betonung liegt hier aller­dings auf »können« und auf »soll« – dass sie ihn schon regieren kann, hat er damit aller­dings nicht gesagt. Lenin kannte aller­dings auch Angela Merkel noch nicht.

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Heute um 14 Uhr wurde vor dem Kanz­leramt ein offener Brief übergeben, den die Schrift­stel­lerin und Film­au­torin Juli Zeh aufge­setzt hat, und der inzwi­schen von über 67.000 Menschen unterz­eichnet wurde, darunter auch von zahl­rei­chen Filme­ma­chern und Dreh­buch­au­toren. Der Brief richtet sich gegen die Passi­vität der Bundes­re­gie­rung ange­sichts des NSA-Skandals.
Wir empfehlen unseren Lesern dringend, sich dem Brief anzu­schließen: Jeder kann hier unterz­eichnen.

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In einem Interview mit der »Berliner Zeitung« sagt Zeh dazu ein paar bemer­kens­werte Sätze: »Ein beob­ach­teter Mensch ist nicht frei.« … »Die meisten möchten doch nicht einmal, dass die Partnerin oder der Partner die eigenen Mails liest, weil wir nämlich wohl etwas zu verbergen haben. Nicht ein Verbre­chen, sondern einfach nur das, was man Privat­sphäre nennt. Ein intimer Raum, der uns immer latent peinlich ist und den wir schützen. Ich denke, wer nichts zu verbergen hat, der hat bereits alles verloren. …. Die Fähigkeit, Geheim­nisse zu haben, oder anders gesagt: das Bewusst­sein dafür, dass es eine Intimzone gibt, ist eigent­lich das, was den Menschen wirklich ausmacht. Es ist etwas, das zu unserem Wesens­ge­halt gehört, zu unserer Würde. Ein Gefühl von Scham, ein Gefühl von Pein­lich­keit, ein Gefühl, nicht ange­schaut werden zu wollen, das schützt unsere Identität. Wenn wir das aufgeben und sagen, ihr dürft mich alle nackt anschauen, foto­gra­fieren und meine Briefe lesen, dann gibt man seine Persön­lich­keit auf, seinen Stolz, seine Würde und auch seine Identität. Man kann irgend­wann nicht mehr ‚Ich‘ sagen. Ohne Geheim­nisse gibt es kein Ich. Man verliert dann im Grunde sich selbst.«

Und weiter: »Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt sagt zu Recht, dass schon der beob­ach­tete Mensch kein freier Mensch mehr ist. Studien der Verhal­tens­psy­cho­logie zeigen, dass ein Mensch, der weiß, dass er beob­achtet wird, sich anders verhält und auch irgend­wann anfängt, anders zu denken, als ein Mensch, der sich unbe­ob­achtet fühlt. … Schon die Beob­ach­tung ist ein Eingriff, eine Mani­pu­la­tion dessen, der beob­achtet wird. Die Demo­kratie setzt aber freie Bürger voraus, die sich auch freie Meinungen bilden können. Die Über­wa­chung höhlt so unseren Rechts­staat aus.«

»Es gibt eine große Verun­si­che­rung darüber, was genau passiert, und ein diffuses Gefühl, dass man eh nichts dagegen unter­nehmen kann. Das ist ja auch genau das, was die Bundes­re­gie­rung uns signa­li­siert. Ich glaube, es wird Jahrzehnte dauern, bis das Ausmaß der Verän­de­rungen ins Bewusst­sein der Leute wirklich einsi­ckert. Das hat man auch bei anderen großen gesell­schaft­li­chen, quasi revo­lu­ti­onären Verän­de­rungen gesehen, dem Umwelt­schutz oder dem Kampf für Frau­en­rechte.
… Der Staat muss dafür sorgen, dass unserer Daten nicht geraubt werden.«

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Alter­na­tiv­lo­sig­keit ist ein Wort, das besser ist als unsere Kanzlerin und besser als der Gebrauch dieses Wortes, um unsere Zeit auf den Begriff zu bringen. Was heißt Alter­na­tiv­lo­sig­keit?

Die Biogra­phien sterben aus. Heute gibt es nur noch alter­na­tiv­lose Biogra­phien. Die jener Menschen, die immer schon wussten, was sie mal machen würden. Gegen­bei­spiel: Die Biogra­phie von Berthold Beitz, der kürzlich gestorben ist. Sie war keine alter­na­tiv­lose Biogra­phie, sondern eine mit Ecken, Wendungen und Risiko.

Was Alter­na­tiv­lo­sig­keit bedeutet? Das heutige Neo-Bieder­meier, das sich eine Mutter der Nation leistet, die es still­stellt, und aus der Lange­weile eine Tugend macht, und die nicht nur äußerlich an Louis-Philippe I. erinnert.

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Es gibt auch ein Kino der Alter­na­tiv­lo­sig­keit. Was das Kino nicht leistet: Alter­na­tiven zur Alter­na­tiv­lo­sig­keit zu bieten. Genau das müsste es aber tun, anstatt sich in die Gräben der Unter­hal­tung oder in Elfen­bein­türme zurück­zu­ziehen. Statt­dessen laufen in deutschen Filmen nur noch Plot-Zombies herum, keine Figuren aus Fleisch und Blut.

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Gestern ist Marcel Reich-Ranicki gestorben. Auch wer sich nicht für Literatur inter­es­siert, erinnert sich an seine flammende Rede zum Qualitäts­ver­fall des Fern­se­hens.
»Wir müssen nur etwas tun, damit das Fernsehen das Programm ändert! Ich habe vor kurzem über einen Freund aus dem Fern­sehrat bei einem unserer Inten­danten inter­ve­niert und gesagt: Ich halte das Programm seines Senders für einen Skandal und für Barbarei! Er hat mir antworten lassen, knapp: ‚Fußball ist wichtiger als Literatur!‘ Ich habe ihm wiederum antworten lassen: ‚Wer heute sagt, ‚Fußball ist wichtiger als Literatur‘, wird morgen sagen ‚man soll die Bücher wieder verbrennen‘!«

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Die ARD hat jetzt nach langem Gedrängt­werden die Preise ihrer Fernseh-Produk­tionen veröf­fent­licht. Auf der Inter­net­seite daserste.de kann man einiges nachlesen. Danach kostet eine Minute »Tatort« 15.500 Euro. 17.500 Euro pro Minute werden durch­schnitt­lich für einen »Donna Leon«-Krimi veran­schlagt. Der durch­schnitt­liche Minu­ten­preis für die 90-minütigen Fern­seh­filme, die unter dem Signum »Film-Mittwoch im Ersten« laufen, beträgt ebenfalls 15.500 Euro. »Für heraus­ra­gende Event­pro­duk­tionen liegt ein indi­vi­duell zu verhan­delnder Minu­ten­preis zugrunde, für den kein allge­mein­gül­tiger Durch­schnitts­wert angegeben werden kann«, heißt es weiter. Allen Preisen liegen die soge­nannten Total-Buyout-Verträge zugrunde, in denen zum Beispiel Wieder­ho­lungs­ho­no­rare und Auslands­rechte bereits abge­golten sind.
Als Grund für die Offen­le­gung nannte der Sender­ver­bund den »häufig formu­lierten Wunsch nach mehr Trans­pa­renz im öffent­lich-recht­li­chen Rundfunk«.
Das ZDF beläßt es einst­weilen noch bei allge­meinen Infor­ma­tionen. Auf der Seite www.unter­nehmen.zdf.de findet man staats­ver­trag­liche Grund­lagen und Satzungen, Gremien, Gehälter der Geschäfts­lei­tung und Finan­z­pläne. Demnächst sollen auch »Kosten-Größen­ord­nungen von ZDF-Sendungen« folgen.

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Ein Lehrstück für die Medi­en­wis­sen­schaften ist die Bericht­er­stat­tung der letzten Monate über Ägypten. Meinungs­stark und neugier­schwach – so erlebte man die gesam­melte Mann­schaft des Qualitäts­jour­na­lismus . mit wenigen Ausnahmen wie dem Ägypten-Korre­spon­denten des »Spiegel.«

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Was man am Beispiel Ägypten auch lernen kann: Demo­kratie ist relativ.
Wenn im Herbst 1933 die deutsche Wehrmacht Hitler mit Gewalt gestürzt hätte, und dabei ein paar Hundert seiner Anhänger, darunter HJ-Pimpfe, aber auch SA-Schergen getötet worden wären – würden dann heute auch die deutschen Zeitungen mit Verfas­sungs­ka­ta­logen herum­we­deln, und erklären, Hitler sei schließ­lich demo­kra­tisch gewählt worden? Demo­kratie sollte nicht zum Fetisch werden
In Ägypten ist die Mehrheit der Bevöl­ke­rung gegen die Muslim­brüder. Die Muslim­brüder haben bereits Sadat getötet – falls man sich an den noch erinnert –, die Muslim­brüder fordern den Dschihad gegen Israel und den Westen, ihre Führer rufen zum Märty­rertod auf, aber der deutsche FDP-Außen­mi­nister vertei­digt sie.

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Freiheit ist natürlich ohne Frage auch die Freiheit der Anders­den­kenden, da könnte der deutsche FDP-Außen­mi­nister sich mal zum Beispiel für Edward Snowden einsetzen, oder für Julien Assange, beides keine Anti-Demo­kraten, die aber in den ach so hoch­ge­lobten Demo­kra­tien ihrer Freiheit nicht sicher sein können.
Freiheit ist nicht nur die Freiheit der Anders­den­kenden, sondern auch die der Anti-Demo­kraten. Freiheit ist aber keines­wegs die Freiheit der Anders­han­delnden.
Freiheit ist schließ­lich auch die Freiheit der Blöden. Deswegen werden auch diesmal wieder ein paar Prozent der Wähler mit der Zweit­stimme die … wählen – siehe oben.

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»Es war nicht seine Sache, wissen­schaft­liche Gutachten zu liefern. Etwas anderes strebte er an, und er verwirk­lichte es auf eine bis dahin unbe­kannte Weise: Kerr machte aus der Thea­ter­kritik ein zusät­z­li­ches Spektakel, ein geistiges Schau­spiel. Dies aber konnte ihm nur gelingen, weil er, der sich vom Komö­di­an­ti­schen betören ließ, selber ein komö­di­an­ti­sches Tempe­ra­ment hatte.

Seine Rezen­sionen waren aufse­hen­er­re­gende Darbie­tungen eines Virtuosen, eines jauchzend in seine Kunst verliebten Artisten. Es waren effekt­volle Selbst­prä­sen­ta­tionen. Wer will, mag Kerr vorwerfen, was ihm tatsäch­lich unzählige Male vorge­worfen wurde, zumal von jenen, die sich von ihm schlecht behandelt fühlten: haar­sträu­bende Egozen­trik und wollüs­tigen Selbst­genuß. Das trifft schon zu, aber es hängt untrennbar mit seiner Leistung zusammen. Denn die Egozen­trik war die Voraus­set­zung seiner kriti­schen Tätigkeit und darüber hinaus seiner ganzen schrift­stel­le­ri­schen Existenz, die Eitelkeit der Motor seines Schrei­bens, der Selbst­genuß sein Stil­prinzip.

Im Mittel­punkt stand immer er selber. Denn Kerr betrach­tete sich als Versuchs­person, über deren Reaktion auf künst­le­ri­sche Darbie­tungen (oder auf Städte, Land­schaften, Sehens­wür­dig­keiten) er sein Publikum zu infor­mieren hatte. Um es über­spitzt auszu­drü­cken: Nicht über einen Thea­ter­abend schrieb Kerr, sondern über sein persön­li­ches, durch diesen Thea­ter­abend hervor­ge­ru­fenes Erlebnis. Er war ein unruhiger und unge­dul­diger Schreiber, der dem spontanen Antrieb folgte.«
Marcel Reich-Ranicki über sein Kriti­ker­vor­bild Alfred Kerr

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind auf artechock in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurzkri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.

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